Ein Mann steht mit seinen zwei Beinprothesen an einem Bergrücken und sieht in Richtung eines schneebedeckten Gipfels.

Der Gipfelsieg am Mount Everest war für Andrea Lanfri nur der Anfang.

Foto: © Andrea Lanfri
aus Heft 3/4/2022 – Sport
Oliver Schulz

„Folge Deinen Träumen“

Der italienische Extremsportler Andrea Lanfri stand im Mai 2022 als erster mehrfachamputierter Mensch auf dem Mount Everest. Sein fester Wille sei es, der ihn seine Ziele erreichen lasse, sagt er im Interview.

Zeitschrift Menschen.: Herr Lanfri, es ist Ihnen vor wenigen Wochen gelungen, als erster mehrfachamputierter Mensch den Gipfel des Mount Everest auf 8 849 Metern über Meereshöhe zu erreichen. Sie haben auch in der Leichtathletik diverse Rekorde aufgestellt. Was treibt Sie an?

Andrea Lanfri: Schon von klein auf war ich ein Junge, der alle Sportarten liebte, auch heute noch mache ich viele davon gerne. Meine Favoriten sind Laufen, Radfahren und Schwimmen, aber auch Trekking und ganz allgemein das Leben im Freien machen mir großen Spaß.

2015 erkrankten Sie an Meningitis, infolge dieser Krankheit wurden Ihnen beide Beine und sieben Finger amputiert. Ihre sportliche Karriere begann aber eigentlich erst danach?

Ja, ich habe meine Karriere als Sportler 2016 kurz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus begonnen. Zu diesem Zeitpunkt war es schwierig, wieder Dinge zu tun, die ich vorher getan hatte: Klettern und Bergsteigen. Gleichzeitig hatte ich in mir aber auch dieses verrückte Verlangen zu laufen, etwas, das ich vor der Amputation und der Krankheit nie getan hatte.

Wie bald nach Ihrer Krankheit haben Sie denn gesagt, Sie wollen weiterhin Sport treiben?

Sofort, schon im Krankenhausbett habe ich mir Gedanken darüber gemacht, was ich tun könnte, sobald ich aus dem Krankenhaus komme.

Welche Hindernisse hatten Sie dabei zu überwinden?

Ich brauchte spezielle Prothesen, insbesondere zum Laufen. Aber ich konnte die Kosten für Sportprothesen finanziell nicht selbst tragen. Die Lösung kam dank Crowdfounding. Die Großzügigkeit von vielen anderen Menschen hat mir erlaubt, wieder ernsthaft Sport zu treiben.

Bedeutet Sport für Sie auch ein Kampf gegen die Krankheit?

Zuerst war es eine Möglichkeit, dieses „Bakterium“ weiter zu bekämpfen, das versuchte, meine Leidenschaften zu stoppen. Unvernünftigerweise dachte ich, ich würde ihm zu viel Respekt zollen. Mein Gedanke war deshalb: „Diese Krankheit hat keine Beine? Dann laufe ich ihr also davon!“

Sie waren als Leichtathlet auf verschiedenen Laufdistanzen erfolgreich, dann stiegen sie aus, weil es 2019 neue Messvorgaben gab, die ihre Teilnahme an Wettbewerben nicht mehr zuließen. Gab es weitere Gründe?

Zusätzlich zu der Tatsache, dass es wirtschaftliche Folgen hatte, weil ich meine jahrelang entwickelten und angepassten Laufprothesen damit praktisch wegwerfen konnte, stieß ich auf körperliche und motorische Probleme, die große Probleme im Rennen verursachten.

Es gibt viele Bergdisziplinen, die Menschen mit Einschränkungen praktizieren – aber Free Climbing ist technisch eine besondere Herausforderung. War es besonders schwierig, in diese Disziplin zurückzukehren?

Am Anfang war es wirklich schwierig. Nicht so sehr wegen der Prothesenfüße, die ich dafür benötigte, sondern wegen der mangelnden Beweglichkeit in meinen Händen. Ich habe nur zwei funktionierende Daumen, Sie können sich also vorstellen, wie schwierig es ist, die Griffe im Fels zu halten. Ein gestiegenes Selbstvertrauen und eine vollständige Überarbeitung meines Kletterstils ermöglichten es mir aber, langsam in die Wand zurückzukehren.

Sie kennen den Unterschied zwischen einem eingeschränkten Athleten und einem nicht eingeschränkten Athleten sehr gut. Wie schwierig ist es für Sie im Vergleich zu Sportlern ohne Einschränkung?

Für mich gibt keinen Unterschied, ein Sportler ist in jedem Fall ein Sportler. Vielleicht ändert sich das Training, aber die Ziele und vor allem der Aufwand und die Hingabe sind für alle gleich. Ich trainiere und ich werde immer zusammen mit körperlich nicht behinderten Menschen trainieren, aber das bedeutet nicht, dass ich mich unterlegen fühle.

Wird man nur dann als Mensch mit Behinderung akzeptiert, wenn man Außergewöhnliches leistet? Haben Sie solche Erfahrungen gemacht?

Ich schätze mich glücklich, ich wurde immer akzeptiert. Vielleicht hatte ich aufgrund der Tatsache, dass ich mich nie selbst bemitleidet habe, immer diesen Glauben, dass ich früher oder später zu meinen geliebten sportlichen Leidenschaften zurückkehren würde.

Was muss sich im Sport, insbesondere im Extremsport, für Menschen mit Behinderungen ändern?

Für mich gibt es im Sport keine Trennung zwischen behindert und nicht behindert. Leider sind in Italien diese beiden Unterscheidungen aber sehr stark ausgeprägt. Es gibt zu wenig Verbindung zwischen beiden Bereichen, die Verbände unterscheiden zu sehr zwischen olympischen und paralympischen Sportarten. Es sind zwei völlig unterschiedliche Bewegungen ohne ein Miteinander. Wettkämpfe und so weiter finden alle weit voneinander entfernt statt. Wenn es um Sport geht, mag ich es, wenn miteinander gearbeitet wird.

Sie haben Mitte Mai den Gipfel des Mount Everest erreicht. Wie war die Lage dieses Jahr am höchsten Berg der Welt?

Dieses Jahr hatten wir Glück, es war ruhig aufgrund der wenigen erteilten Klettergenehmigungen, wir hatten ein sehr großes Wetterfenster und insgesamt gute Bedingungen. Auch von der Schlechtwetterwoche Anfang Mai ließen wir uns nicht entmutigen, blieben optimistisch und motiviert für den Gipfel.

Wie wurden Sie unterstützt?

Ich hatte einen Sherpa an meiner Seite, ein weiterer Sherpa begleitete meinen Partner am Berg, Luca Montanari. Wir haben Sauerstoffflaschen von Lager 4 auf 8 000 Meter Höhe bis zum Gipfel verwendet.

Wie lange dauerte die Expedition insgesamt?

Wir haben Italien am 23. März verlassen. Dann haben wir uns zunächst in Nepal bei der Besteigung des Berges Lobuche mit rund 6 000 Metern akklimatisiert. Als zweite Phase sind wir vom Basislager des Mount Everest auf 5 300 Meter Höhe bis auf Lager 3 auf 7 200 Meter Höhe auf- und wieder zurückgestiegen und haben dabei einige Nächte in großer Höhe geschlafen. Am 9. Mai sind wir dann zum Gipfel aufgebrochen, einen Ruhetag legten wir wegen schlechten Wetters auf dem Weg ein – und am 13. Mai um 5.40 Uhr standen wir dann auf dem Gipfel.

Was raten Sie Menschen mit Behinderungen, die Extremsportarten, insbesondere Bergsteigen, ausüben möchten?

Meine Botschaft ist einfach: Gib niemals auf, versuche es – und versuche es einfach immer wieder. Du kannst deinen Träumen immer folgen!

Was sind nach dem Everest Ihre nächsten Ziele?

Das nächste Projekt steht am Anfang, das Gesamtprojekt heißt „My Seven Summits“. Ich plane also die Besteigung aller höchsten Berge der sieben Kontinente. Und dann in Zukunft noch einen weiteren Achttausender.

Autor: 

Andrea Lanfri, geboren am 26. November 1986 in Lucca in der Toskana, ist ein italienischer paralympischer Athlet und Bergsteiger. Im Mai 2022 stand er als erster Mensch mit Mehrfachamputationen auf dem Gipfel des Mount Everest.

Sieben Jahre davor erkrankte er an Meningitis mit Meningokokken-Sepsis, wodurch er beide Beine und sieben Finger verlor. Trotzdem gab er seine sportlichen Aktivitäten nicht auf. Er trat der italienischen paralympischen Nationalmannschaft bei, begann 2016 mit einem Paar Karbonfaserprothesen zu laufen und hielt bald alle italienischen Rekorde auf 100, 200 und 400 Metern.

2017 nahm er in London an den Paralympischen Leichtathletik-Weltmeisterschaften teil, gewann die Silbermedaille in der 4 x 100-Meter-Staffel und erzielte mit 11“46 auf 100 Meter einen weiteren italienischen Rekord. Wegen einer Regeländerung verließ er die Laufbewerbe und kehrte 2017 mithilfe von Sponsoren, die es ihm ermöglichten, für diesen Zweck geeignete Prothesen herstellen zu lassen, in die Welt des Freikletterns zurück. Diesen Sport hatte er bereits vor seiner Krankheit ausgeübt. Seit 2018 stehen vor allem hohe Berge auf seinem Programm.