Arbeit und Entwicklungsfreundliche Beziehungsgestaltung: (Wie) geht das?
Arbeit ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens, der unsere Persönlichkeit auf vielfältige Weise beeinflusst. Sie kann eine lästige Pflicht sein, sie kann eine Quelle von Angst und Überforderung sein, sie kann aber auch Erfolgserlebnisse und Selbstwertgefühl vermitteln und eine Plattform für soziale Kontakte und Beziehungen sein. Das gilt auch für viele Menschen mit Behinderung. Ich möchte in den beiden folgenden Falldarstellungen schildern, wie das Medium Arbeit genutzt werden kann, um die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Behinderung entwicklungsfreundlich zu unterstützen. Das Umfeld ist in beiden Fällen eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Ich war dort als Psychologe in beratender Funktion für die betreuenden Mitarbeiter sowie beratend und therapeutisch für die Klienten tätig.
1. Herr Kraft*
Herr Kraft kam mit 18 Jahren in die WfbM. Als ich ihn kennen lerne, ist er 40 Jahre alt und arbeitet in der manuellen Montage von Autoteilen. Körperlich ist er eine beeindruckende Erscheinung: über 1,90 m groß, breite Schultern, kräftige Gestalt, laute Stimme. Das ist für die Problematik, um die es bei ihm geht, von großer Bedeutung: Er neigt dazu, schon bei geringfügigen Enttäuschungen laut herumzuschreien, andere zu beschimpfen und mit erhobener Faust zu bedrohen. Manchmal sind gar keine Anlässe zu erkennen, er wirkt dann einfach über Stunden oder Tage wie eine tickende Bombe. Allerdings kann man ihm leicht aus dem Weg gehen, da er sich aufgrund einer Spastik in den Beinen nur langsam fortbewegen kann. Trotzdem ist es zu etlichen körperlichen Übergriffen gegen Kollegen mit Behinderung oder betreuende Mitarbeiter/innen gekommen, die gerade nicht genügend Abstand herstellen konnten. Seine Arbeitskollegen gehen ihm lieber aus dem Weg, selten sucht jemand von sich aus Kontakt zu ihm.
Kognitiv hat Herr Kraft sehr einfache Schwarz-Weiß-Denkmuster. Er ist nicht in der Lage, alltägliche Situationen differenziert zu beurteilen. Entweder ist etwas gut oder schlecht, dazwischen gibt es nichts. Er inszeniert sich gern in den Rollenbildern „starker Mann“ und „Arbeiter“, präsentiert z.B. gern seine Muskeln oder läuft auch in der Freizeit in Arbeitskleidung herum. Solche einfachen Rollenbilder sind typisch für das kognitive Entwicklungsalter von drei bis vier Jahren.
Trotzdem kann er gut lesen und gut mit Zahlen umgehen. Er ordnet z.B. für ihn wichtige Ereignisse seines Lebens richtig nach Jahreszahl und eigenem Alter. Wenn er mir etwas berichtet, informiert er mich zunächst über den zeitlichen und örtlichen Rahmen, in dem das Ereignis stattgefunden hat; er hat also eine genaue Vorstellung, was ich wissen kann und was nicht. Das können viele andere Menschen mit geistiger Behinderung nicht. Allerdings interessieren ihn nur wenige Dinge außer seiner Person und seiner Familie, z.B. Fußball und Schlagermusik. Anscheinend schöpft er sein kognitives Potenzial nicht aus – wohl aufgrund seiner emotionalen Probleme.
Emotional sucht Herr Kraft in seinen guten Phasen Anerkennung und Zuneigung seiner Betreuer, aber sowohl die Anerkennung als auch die Ablehnung in seiner Gruppe ist ihm noch völlig egal. Das prägt auch sein Verhältnis zur Arbeit: Er zeigt den Betreuern stolz die Menge der von ihm montierten Teile vor, hat aber gar keinen Blick für die Leistung der ganzen Gruppe.
Die aggressiven Durchbrüche werden von vielen seiner Bezugspersonen als eine Art Machtdemonstration interpretiert. Wenn das stimmen würde, ginge es ihm entweder darum, seinen Willen gegen den der betreuenden Mitarbeiter durchzusetzen, oder er würde eine Machtposition durch Einschüchterung der anderen Gruppenmitglieder anstreben.
Beides ist jedoch kaum zu erkennen. Nur selten ist der Anlass seiner „Ausraster“, dass er etwas möchte, was der Gruppenleiter nicht zulässt, dass er bewusst Regeln übertritt oder sich über einen Arbeitskollegen ärgert. Oft geht es um kleine Frustrationen, z.B., dass jemand gerade keine Zeit für ihn hat – aber diese sind eher situative Auslöser als Ursache. Meistens sieht man ihm schon vorher Wut und Ärger am Gesichtsausdruck an. Mir erscheinen seine aggressiven Durchbrüche eher als Kontrollverlust, dass hier also etwas mit ihm (und nicht durch ihn) geschieht, das er in dem Moment nicht steuern kann.
Wenn wir das kognitive und emotionale Entwicklungsniveau von Herrn Kraft analysieren, sehen wir: Kognitiv erreicht er einige Leistungen, die bei Menschen ohne kognitive Beeinträchtigung zu Beginn des Grundschulalters zu erwarten sind, der Beginn der konkreten logischen Operationen. Die meisten seiner Denkmuster sind aber sehr viel einfacher, er schöpft also sein Potenzial nicht aus. Das liegt daran, dass seine emotionalen Bedürfnisse noch sehr elementar sind: ständige Suche nach Anerkennung und Zuwendung der Bezugspersonen, wenig Frustrationstoleranz und geringe Fähigkeiten, sich bei Stimmungsschwankungen selbst emotional zu stabilisieren. Symbiotische Bedürfnisse überwiegen also, emotionale Autonomie und Ich-Entwicklung sind selbst in stabilen Phasen nur in Ansätzen zu erkennen.
Wenn solche Bedürfnisse bei einer deutlich höheren kognitiven Entwicklung, so wie bei Herrn Kraft, immer noch im Vordergrund stehen, sind sie ein Anzeichen für eine ausgeprägte, verselbstständigte latente Angst vor dem Verlust der vertrauten Bindungen, die durch geringste Anlässe aktualisiert werden kann. Hintergrund ist, dass diese Menschen in ihrem Leben keine verlässliche symbiotische Bindung erfahren haben und somit kein Urvertrauen aufbauen konnten.
Hierfür konnte ich einige Anhaltspunkte finden. Mitarbeiter berichteten, dass es in der Kindheit und Jugend Gewalttätigkeiten des Vaters unter Alkoholeinfluss gab. Herr Kraft selbst erzählte, dass seine Eltern immer wieder beklagten, dass die Ärzte schuld seien, dass sie es wegen der Behinderung so schwer mit ihm hätten. In seiner Generation (Jahrgang 1960) gab es anfangs in der Tat für Eltern behinderter Kinder fast keine Beratung oder Unterstützung und für die Kinder keine Förderungs- und Betreuungsangebote.
Herr Kraft reagierte darauf auch in der Familie mit einer Mischung aus extremem Klammern und aggressiven Durchbrüchen. Mit 19 Jahren kam er wegen dieser Problematik in ein Wohnheim. Die Eltern waren am Ende ihrer Kräfte, er aber muss diese Entscheidung als „Abschiebung“ empfunden haben. In der Folge lebte er nämlich auf die wöchentlichen Telefonate mit seiner Mutter und die alle zwei Wochen erfolgenden Wochenendbesuche bei den Eltern hin. Das war auch mit 40 Jahren noch für lange Zeit sein wichtigstes Gesprächsthema. Mir schien, dass er zwar in dem Wohnheim körperlich anwesend war, aber innerlich noch immer mit seiner Familie und seinen Konflikten mit ihr beschäftigt. Von diesen sprach Herr Kraft aber nie, stattdessen idealisierte er das familiäre Zusammenleben. Von der Mutter wusste ich jedoch, dass es auch bei den Wochenendbesuchen weiterhin zu aggressiven Durchbrüchen kam.
Ein entwicklungsfreundliches Beziehungsangebot sollte für Herrn Kraft darin bestehen, Verlässlichkeit zu schaffen und Vertrauen aufzubauen, auch indem man ihm hilft, nicht in den Kontrollverlust abzurutschen und, wenn es doch dazu kommt, ihn verständnisvoll begleitet.
Zum Glück hatte Herr Kraft in den nächsten Jahren immer Gruppenleiter, die ihm, auch bei seinen aggressiven Durchbrüchen, angstfrei und selbstbewusst begegneten und zugleich die emotionale Not hinter seinem herausfordernden Verhalten intuitiv erfassten. Sie waren daher offen für die Idee, dass Herr Kraft bei seinen aggressiven Durchbrüchen – am besten natürlich schon im Vorfeld – keine Ablehnung und Distanzierung braucht, sondern ein symbiotisches Angebot, um ihn zu stabilisieren. Das Problem war, dass viele der behinderten Mitarbeiter berechtigte Angst vor Herrn Kraft hatten, da er in solchen Situationen jemanden, der ihm zu nahe kam, auch mal schlug oder schubste. Die Aufgaben, Herrn Kraft einfühlsam zu begleiten, zugleich sich selbst vor Übergriffen zu schützen und den anderen Gruppenmitgliedern Sicherheit zu geben, waren oft schwer unter einen Hut zu bekommen, wenn die Betreuungsperson allein in der Gruppe war.
Ich hatte daher die Idee, die ich aber leider erst nach Jahren durchsetzen konnte, Herrn Kraft statt in der manuellen Montage im Arbeitsbereich Holz zu beschäftigen. Dort passte er von seinen motorischen Fähigkeiten her überhaupt nicht hin, da er nur im Sitzen arbeiten konnte und auch feinmotorisch relativ ungeschickt war. Aber dort wird in zwei großen Hallen mit Maschinenlärm und großem Abstand zueinander gearbeitet, sodass lautes Brüllen und Schimpfen nicht gleich so bedrohlich wirkt. Zudem gibt es dort zahlreiche Beschäftigte der etwas „robusteren“ Art, Männer wie Frauen, die sich von einem solchen Auftreten nicht so schnell einschüchtern lassen und sich gut auch selbst schützen können. Ein weiterer Vorteil war, dass es hier ein Gruppenleiterbüro gab, in das man sich mit Herrn Kraft auch einmal allein zurückziehen konnte. Für die etwa 30 Mitarbeiter gab es drei Gruppenleiter, die für jeweils zehn die offiziellen Bezugsbetreuer waren, aber auch über die anderen jederzeit informiert waren. Die Gruppenleiter konstruierten für Herrn Kraft einen Arbeitsplatz im Sitzen, direkt neben ihrem Büro mit ständigem Sichtkontakt durch die Glasscheibe. Dort führte er einige Vorbereitungstätigkeiten für andere Arbeitsplätze aus, die vorher nebenbei erledigt worden waren. Ihm wurde gesagt, dass diese Tätigkeiten sehr wichtig seien, damit die anderen ihr Material immer pünktlich zur Verfügung haben. Das stimmte auch, aber natürlich musste es an „schlechten Tagen“ auch ohne die Arbeitsleistung von Herrn Kraft gehen.
Herr Kraft durfte jederzeit die Gruppenleiter in ihrem Büro besuchen, wenn kein anderer dort war. Das konnte er ja durch die Glasscheibe sehen. Er tat das jeden Morgen bald nach Arbeitsbeginn „auf eine Tasse Kaffee“. Die Gruppenleiter konnten sich so ein Bild von seiner Grundstimmung machen, und sein symbiotisches Grundbedürfnis wurde befriedigt. Es störte ihn auch nicht, wenn der anwesende Gruppenleiter sich gerade nicht länger mit ihm unterhalten konnte, z.B. wegen Telefongesprächen. Wenn er „ausrastete“, boten ihm die Gruppenleiter ebenfalls an, in ihr Büro zu kommen, das nahm er aber nicht immer an. In diesem Fall blieb jemand in seiner Nähe, um wieder mit ihm Kontakt aufzunehmen, wenn er sich etwas beruhigt hatte. Die Absprache war, ihn jedenfalls nicht allein zu lassen, sondern zu begleiten, ohne sich selbst zu gefährden.
Nach einiger Zeit der Arbeit im Holzbereich machte Herr Kraft in einem unserer Gespräche eine interessante Bemerkung: „Die reden da mit mir“, sagte er über einige der behinderten Beschäftigten. Die Einschätzung, dass diese sich nicht so schnell ängstigen würden, hatte sich bestätigt. Einige machten Scherze mit ihm, wenn er in guter Stimmung war, gingen ihm bei „Ausrastern“ einfach aus dem Weg, und manche trauten sich sogar, ihn hinterher darauf anzusprechen. Die Frequenz seiner aggressiven Durchbrüche nahm in den ersten Jahren im Holzbereich deutlich ab, manchmal gab es über Monate gar keine solcher Vorfälle mehr. Viele seiner Kollegen beobachteten seine Durchbrüche allerdings fasziniert wie im Kino, was dann leider auch wieder zu einer Außenseiterrolle führte. Offenbar bereitete ihm das emotional aber weniger Probleme als uns Betreuern.
Zu vermehrten Stimmungsschwankungen kam es erneut, als sein körperlicher Zustand sich zunehmend verschlechterte. Er litt unter Rückenschmerzen aufgrund eines Bandscheibenvorfalls, konnte die weiten Wege in der WfbM immer schlechter bewältigen und wurde zunehmend inkontinent. Sein früherer Stolz auf die geschaffte Arbeitsmenge bei guter emotionaler Verfassung wich zunehmend Lustlosigkeit und Verweigerungsverhalten. Offenbar war sein Arbeitsplatz nicht mehr geeignet, zu seiner emotionalen Stabilität beizutragen. Zudem fehlten ihm aufgrund der weiten Wege seine geliebten Spaziergänge durch die Werkstatt, bei denen er sich in emotional stabilen Phasen viel Zuwendung bei verschiedenen Betreuungspersonen abholte.
Die Gruppenleiter und der begleitende Dienst plädierten für seine Versetzung in eine Gruppe für ältere und leistungsgeminderte Mitarbeiter. Hier werden zwar auch einfache Montageaufträge abgearbeitet – jedoch ohne Zeitdruck. Es gilt die Regel, dass jeder Mitarbeiter individuell entscheidet, ob und wie viel er am Tag arbeitet. Da viele trotz ihres Alters oder ihrer Erkrankung sehr motiviert sind, wird die Arbeit in der Regel gut geschafft.
Ich befürchtete allerdings, dass sehr viele seiner neuen Kollegen wieder Angst vor ihm entwickeln würden, die es den Betreuern erschwert, angemessen mit seinen Stimmungsschwankungen umzugehen. Zum Glück schlugen ihm meine inzwischen als Psychologin für ihn zuständige Kollegin und seine Gruppenleiter trotzdem den Wechsel vor und zum Erstaunen aller stimmte er sofort zu, es einmal für vier Wochen auszuprobieren. Nachdem es in den vier Wochen zu gar keinen aggressiven Durchbrüchen gekommen war, wurde der Wechsel vollzogen. Auch in der Folgezeit gab es in der Werkstatt keine ernsthaften Probleme mehr; offenbar gelang es den beiden neuen Bezugspersonen gut, seine Stimmungen schon im Vorfeld zu deuten und ihn bei aufkommender emotionaler Instabilität rechtzeitig zu stabilisieren. Da sie zu zweit waren (allerdings mit 20 Beschäftigten), konnte sich dann immer eine/r mit ihm zurückziehen, z.B. einen Kaffee trinken und erzählen oder spazieren gehen. Wenn er sich wieder etwas gefangen hatte, hörte er oft für sich allein mit einem Kopfhörer seine Musik (das hatten die Kollegen im Holzbereich auch schon eingeführt, als seine Arbeitsleistung immer mehr nachließ). Trotzdem arbeitete er wieder regelmäßiger mit als zuletzt im Holzbereich.
2. Frau Prinz*
Als ich Frau Prinz kennen lernte, war sie gerade 18 Jahre alt geworden. Sie war schon mit 16 in die WfbM gekommen, „weil niemand mit ihr etwas anfangen konnte“, so die Aussage der Leiterin des Sozialdienstes. Sie hatte die Schule für Lernbehinderte ohne Abschluss besucht. Laut Testungen der Arbeitsagentur war sie unterdurchschnittlich intelligent, aber nicht geistig behindert. Sie kam in die Werkstatt, weil sie wegen ihrer extrem geringen Konzentrationsspanne an keiner der sonst möglichen Maßnahmen der Arbeitsagentur teilnehmen konnte.
Die psychiatrische Diagnose, die von der Werkstatt initiiert wurde, lautete „Hyperkinetische Störung“. So wie ich Frau Prinz anfangs erlebte, muss ich sagen: Wenn diese Diagnose jemals zutrifft, dann auf sie. Sie „arbeitete“ eigentlich in der Wäscherei, hielt sich aber immer nur für wenige Minuten an ihrem Arbeitsplatz auf, versuchte dann, mit Kolleginnen an anderen Arbeitsplätzen Gespräche anzufangen, stieß dabei meist auf Ablehnung und ging anschließend in der ganzen Werkstatt „auf Tour“, suchte überall Kontakt – und wurde meistens abgewiesen. Besonders in den Pausen verursachte sie zahlreiche Konflikte: Sie erzählte unwahre Geschichten über andere, beschuldigte andere für Verfehlungen ihr gegenüber, tätigte undurchsichtige Geld-, Leih- und Sachgeschäfte, über die es regelmäßig Streit gab. Trotzdem gelang es ihr, eine Liebesbeziehung zu einem gutmütigen, ihr aber intellektuell unterlegenen Mann aus einer anderen Abteilung herzustellen. Sie pflegte diese Beziehung durchaus, machte ihm z.B. öfter Geschenke, zeigte aber auch ihm gegenüber Verhaltensweisen wie grundlose Beschuldigungen oder undurchsichtige „Geschäfte“.
In der Wäscherei gab es eine Abteilungsleiterin und drei Gruppenleiterinnen für ca. 36 Beschäftigte. Die Mitarbeiterinnen machten einen etwas überforderten Eindruck; bei den Gruppenleiterinnen hatte sich offenbar schon einiges an Ablehnung aufgebaut; sie bezweifelten, dass die Werkstatt überhaupt der geeignete Ort für sie sei. Die Abteilungsleiterin wirkte eher hilflos. Die emotionale Hauptbezugsperson von Frau Prinz war die Leiterin des Sozialdienstes. Sie hatte diese Aufgabe an sich gezogen, um die Gruppenleiterinnen zu entlasten und so die Konflikte in der Arbeitsgruppe zu reduzieren. Auf mich wirkte sie wie eine gleichzeitig verständnisvolle und strenge „Mama“, die immer ein offenes Ohr für ihr „Kind“ hat, seine Interessen auch gegenüber anderen vertritt (in diesem Fall, dass sie überhaupt in der Werkstatt bleiben darf), es aber dennoch konsequent für jede größere Verfehlung zur Rede stellt. Nur von ihr ließ Frau Prinz sich Kritik gefallen, ohne (zumindest fast ohne) ausfallend zu werden oder wegzulaufen. Wenn das einmal vorkam, kam sie zu dem Zeitpunkt schon von sich aus wieder und entschuldigte sich sogar. Ohne diese Kollegin wäre Frau Prinz damals schon längst nicht mehr in der Werkstatt gewesen.
Die emotionale Entwicklung von Frau Prinz war sehr schwer einzuschätzen:
- Eigentlich wäre bei ihrem kognitiven Entwicklungsstand ein Lern- und Leistungseifer zu erwarten gewesen, wie in der sogenannten Latenzphase (6 bis 12 Jahre). Das war aber bei Frau Prinz nicht der Fall.
- Auch mit den Entwicklungsaufgaben der ödipalen Phase (4 bis 6 Jahre), also der Entwicklung von Gruppenfähigkeit und Umgang mit unterschiedlichen Bezugspersonen, schien sie noch total überfordert. Ihr oft als gezielt intrigant erscheinendes Verhalten wie falsches Beschuldigen oder undurchsichtige Geschäfte zum eigenen Vorteil, war in Wirklichkeit eher Ausdruck ihrer Stimmungsschwankungen: An einem Tag mochte sie eine Person, am nächsten hasste sie sie. Dementsprechend änderte sich auch ihre Wahrnehmung dieser Person. Und so wollte sie dann – um ein Beispiel zu geben – ein Geschenk, das sie gemacht hatte, am nächsten Tag wiederhaben und behauptete, es sei nur geliehen oder gar gestohlen gewesen.
- Ihr Verhältnis zu ihrer Hauptbezugsperson wirkte auf mich wie das eines Kindes in der Trotzphase – also ein eigenwilliges Kind, das sich nur dann an Regeln hält, wenn die Bezugsperson dabei ist, das sich immer wieder mit der Bezugsperson auseinandersetzt, dem aber sehr an der Zuneigung dieser - Bezugsperson gelegen ist. Auch starke Stimmungsschwankungen sind durchaus typisch für diese Phase.
- Ein wichtiges Merkmal einer konstruktiven Trotzphase fehlte Frau Prinz aber: die Ausprägung eigener, erkennbarer und beständiger Interessen und (wenigstens kurzfristiger) Ziele. Stattdessen wirkte sie wie getrieben von innerer Unruhe. Der Grund dafür war, dass ihr ein entscheidendes Merkmal für eine konstruktive Bewältigung der Trotzphase fehlte: ein stabiles Selbstwertgefühl, das durch die Erfahrung von Urvertrauen und sicherer Bindung, erfolgreiches Erproben der eigenen Fähigkeiten und Bestätigung des Erfolgs durch die Bezugspersonen entsteht.
- Ich vermute, dass die – so habe ich sie erlebt – eigentlich gutwilligen und zugewandten Eltern mit ihrem schwierigen Säugling und Kleinkind völlig überfordert waren, ihr somit kein Urvertrauen vermitteln konnten. Ihre Eltern waren geschieden; sie lebte bei ihrem Vater, der ziemlich resigniert und überfordert wirkte. Ihre ständige Suche nach Kontakt und Aufmerksamkeit, auch ihre Fähigkeit, sich an die Sozialarbeiterin zu binden, zeigte ja, dass Frau Prinz kein grundlegendes Ur-Misstrauen hatte, sondern ihr eher die Erfahrung fehlte, wie eine stabile Bindung zu gestalten ist.
- Aufgrund ihrer Sprunghaftigkeit wird Frau Prinz auch nicht viele kontinuierliche Erfolge beim Erwerb von Kompetenzen erlebt haben, die dann von ihren Bezugspersonen bestätigt und gewürdigt werden konnten. Im Gegenteil: In der Schule z.B. blieb sie unter ihren Möglichkeiten, ihre ganze Schulzeit war von Schwierigkeiten mit dem Lernstoff, mit Lehrern und Mitschülern geprägt.
Neben der Bindung zu der Sozialarbeiterin schien Frau Prinz auch noch so etwas wie eine Bindung an die Werkstatt als Institution entwickelt zu haben. So tauchte sie regelmäßig in der Werkstatt auf und suchte Kontakt zu Betreuern und Beschäftigten, wenn sie Urlaub hatte. So beschlossen wir, ihr eine Aufgabe zu geben, die für die ganze Werkstatt wichtig war, und die ihr ausdrücklich von ihrer Hauptbezugsperson, der Leiterin des Sozialdienstes, als ganz persönliche Verantwortung übertragen werden sollte. Sie sollte morgens nach Arbeitsbeginn durch alle Gruppen der Werkstatt gehen und die Bestellungen für das Mittagessen in der Kantine aufnehmen, die bis 9 Uhr in der Küche vorliegen mussten.
Diese Aufgabe erledigte sie von Anfang an mit einer großen Zuverlässigkeit und Korrektheit. Sie kam natürlich ihrer Umtriebigkeit und ihrem großen Kontaktbedürfnis entgegen: Es gab jeden Morgen für sie kurze und nicht konflikthafte Gespräche mit vielen Menschen. Die Sozialarbeiterin achtete darauf, ihr ihre gute Arbeit immer wieder rückzumelden, und auch von der Küche gab es Komplimente. Sie vergaß auch nie, früh am Morgen gleich anzurufen, wenn sie krank war, oder die Sozialarbeiterin zu erinnern, dass sie sich um eine Vertretung kümmern muss, wenn sie Urlaub hatte. So konnte sie vielleicht zum ersten Mal zuverlässig Guthaben auf ihrem Selbstwertkonto sammeln.
Die Eingliederung in die Wäscherei verlief trotzdem nicht besser; die zwei Stunden, in denen sie morgens anderweitig beschäftigt war, waren lediglich eine Entlastung, aber keine Lösung. Wir vermuteten, dass neben den dort schon aufgestauten Konflikten vielleicht auch die Arbeit selbst zu komplex sein könnte. Denn bei einer „echten“ hyperkinetischen Störung hat der oder die Betroffene immer Schwierigkeiten, sich in einem komplexen Umfeld zu orientieren, sich dort selbst eine Struktur zu schaffen. Wir schlugen ihr daher vor, in einer Montagegruppe zu arbeiten, mit deren Gruppenleiter sie sich bei ihren Touren durch die Werkstatt schon oft unterhalten hatte.
Erstaunlicherweise blieb sie hier von Anfang an viel länger an ihrem Arbeitsplatz, vielleicht, weil sich hier ihr Bedürfnis nach ständiger Kommunikation durchaus mit der Arbeit vereinbaren ließ. Sie arbeitete und unterhielt sich gleichzeitig mit Arbeitskollegen oder dem Gruppenleiter. Dabei fiel auf, dass sie sich sehr um die Schwächeren in der Gruppe bemühte, mit ihnen scherzte oder auch hier und da half, wenn sie etwas nicht konnten. In den Pausen gab es trotzdem weiterhin immer wieder Ärger zwischen ihr und anderen Beschäftigten. Jetzt war aber nicht nur die Sozialarbeiterin, sondern auch der Gruppenleiter für sie eine Bezugsperson. Seine Zuneigung war ihr wichtig, und von ihm ließ sie sich auch Kritik gefallen.
Als der Kollege als Leiter in eine neue Werkstatt für Menschen mit psychischen oder neurologischen Erkrankungen wechselte, schlugen wir Frau Prinz deshalb vor, mitzugehen, zumal sie sowieso eher zu diesem Personenkreis zählte. Dort wurde sie zu einer sehr zuverlässigen Arbeiterin, die z.B. auch von sich aus auf Fehler und Qualitätsmängel aufmerksam machte. Mit ihren Arbeitskollegen gab es während der Arbeitszeit viel weniger Konflikte, vielleicht auch, weil diese nicht geistig behinderten Beschäftigten besser zu ihr, wenn nötig, Distanz halten oder aufkommende Konflikte schon im Vorfeld klären konnten. Frau Prinz entwickelte jetzt auch ein gewisses Reflexionsvermögen: Sie sagte einmal zu mir: „Wenn ich schlecht drauf bin, setze ich mich im Flur auf den Stuhl und warte, bis es vorbei ist. Ihr sollt mich dann nicht ansprechen, ich komme schon von allein wieder.“ Und so hielten es die Kollegen dann auch.
Wegen einer Liebesbeziehung zog Frau Prinz schließlich in eine Nachbarstadt und kündigte. Alle ihre Betreuer bedauerten ihr Ausscheiden – wer hätte das gedacht? Schon bald hörten wir, dass es in der dortigen Werkstatt ähnlich massive Probleme gab wie in den ersten Jahren bei uns. Ihre emotionale Stabilisierung war also noch vollkommen an vertraute Personen und die vertraute Umgebung bei uns gebunden. Nach zwei Jahren fragte sie bei uns an, ob sie wieder bei uns arbeiten könne. Wir stimmten zu, und sie knüpfte fast nahtlos an ihr vorheriges Verhalten bei uns an, obwohl der Werkstattleiter, ihre Hauptbezugsperson, nicht mehr da war. Offenbar hat sie jetzt auch zu den anderen Betreuern genügend Vertrauen und ist sich ihrer Wertschätzung sicher. Umziehen wollte sie aber nicht, wegen ihrer Partnerschaft; inzwischen ist sie mit dem Mann verheiratet. Seit nun mehr als fünf Jahren nimmt sie einen langen Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Kauf, um bei uns in der Werkstatt zu arbeiten.
3. Was lernen wir daraus?
- Auch bei der Arbeit bedarf es einer bewussten, auf die individuelle sozio-emotionale Entwicklung abgestimmten Beziehungsgestaltung durch die betreuenden Bezugspersonen.
- Der Arbeitsort sollte sich als „Heimat auf Zeit“ verstehen. Nicht nur die individuelle Beziehungsgestaltung durch die betreuenden Mitarbeiter, auch die Strukturen und Abläufe der Einrichtung können Sicherheit und Vertrauen geben, ein Gefühl der Beheimatung schaffen und somit einen im Laufe eines langen Arbeitslebens immer wieder notwendigen Wechsel von Bezugspersonen erleichtern.
- Das Medium Arbeit ist sehr gut geeignet, um Erfolgserlebnisse und Selbstwertgefühl zu vermitteln und um jemandem eine soziale Rolle und sachliche Aufgabe zu geben, an der er wachsen kann. Dabei müssen aber die kognitiven und motorischen Kompetenzen ebenso wie die Vorlieben und Neigungen des Klienten bei der Gestaltung der Anforderungen und des Arbeitsplatzes möglichst passgenau berücksichtigt werden.
- Daher sollte ein Arbeitsort möglichst vielfältige Arbeitsplätze bieten, bis hin zu einem sehr individuellen Zuschnitt des Arbeitsplatzes.
Eine derart gestaltete Arbeitsumgebung kann für viele Menschen mit Behinderung, so wie bei Frau Prinz und Herrn Kraft, zu emotionaler Stabilisierung und persönlichem Wachstum beitragen.
* Name geändert
Autor:
Heinz Urbat, Dipl.-Psych.
Heinz Urbat arbeitet seit mehr als 40 Jahren als Psychologe für Einrichtungen und Dienste zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung sowie in der Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften – in den letzten Jahren nur noch Letzteres. Er ist Multiplikator der Entwicklungsfreundlichen Beziehung. Seine Praxisschwerpunkte: Frühförderung/Kindergarten, WfbM/Tagesförderung, Eltern- und Familienberatung.