Zwei Kinderhände und eine Erwachsenenhand befühlen eine Skulptur aus Holz.

Ein Kunstobjekt aus Holz lädt zum Befühlen ein.

Foto: © Fröhlich
aus Heft 2/2022 – Kultur
Andreas Fröhlich

Kunst für alle

Seit Langem beschäftige ich mich mit der Frage, wie man schwerbehinderten Kindern Kunst vermitteln könnte, wie man „Begegnung mit Kunst“ ermöglicht. Wie müsste Kunst beschaffen sein, dass sie auch von Menschen erfahren werden kann, die sich anderer Organe bedienen als der Augen, um ein Objekt zu erfassen.

Vor vielen Jahren habe ich für Kinder in einer italienischen Einrichtung für blinde und sehbehinderte, mehrfach beeinträchtigte Kinder eine Skulptur gemacht, eine Knospe.

Die Birkenholzskulptur sollte ihnen die Möglichkeit geben, zu erspüren: „Jetzt bin ich wieder genau in diesem Haus.“ So, wie wenn wir in einer Eingangshalle eine bestimmte Statue, ein bestimmtes Bild wieder erkennen und wissen, das gehört zu diesem Gebäude, ich bin angekommen.

Kinder mit sehr schweren und mehrfachen Beeinträchtigungen erfassen Objekte wahrscheinlich anders als wir, die schon „sehen“ gelernt haben. Wir „sehen“ Oberflächen, erkennen die Temperatur, ohne anzufassen, wir können sogar auf das Gewicht Rückschlüsse ziehen.

Eine hölzerne Skulptur ist für uns etwas ganz anderes als eine aus Bronze. Manchmal aber würden wir selbst auch gerne heimlich „dranlangen“, um uns zu vergewissern, um einen sinnlicheren Eindruck zu bekommen. Das würde ich Menschen mit schweren Beeinträchtigungen gerne ermöglichen.

Ein „Objekt“ aus Holz kann vielleicht ein bisschen diesen selbst entwickelten Ansprüchen genügen. Es ist von einem Ahornbaum, der einmal in unserem Garten gestanden hat und von dem ich ein Stück über viele Jahre aufgehoben habe. Ich hatte begonnen, es zu bearbeiten, dann ließ ich es wieder liegen, weil ich nicht vorankam. Jetzt, mit dieser neuen Idee des unmittelbaren „basalen“ Kunstobjektes, erzählte mir der Holzklotz auch, was er werden wollte.

Flächen, Grate, Höhlungen

Die Oberfläche habe ich zum Befühlen gemacht mit unterschiedlichen feinen Strukturen, natürliche Verwachsungen habe ich belassen. Das Holz ist gänzlich unbehandelt – wenn es jemand abschleckt, ist es nicht schädlich. Es gibt Ecken und Kanten, aber sie sind sanft abgerundet. Man muss nichts Bestimmtes erkennen, verstehen oder wissen. Insofern steht dieses Objekt ganz in der Tradition konkreter Kunst. Kein Abbild, keine Darstellung, keine evidente Bedeutung oder geschichtsträchtige Symbolik. Es ist, was es ist. 

Für die Allgemeine Sonderschule Zams/ Tirol ist es (nicht nur) ein schwerer „Klotz“ aus Ahorn: zum Ansehen für die einen, zum Befühlen, Spüren, Riechen für die anderen. Man kann das Objekt vom Sockel nehmen, der Messingstab ist nur ins Holz eingesteckt. Dann kann man das Ganze umfassen, kann seine Schwere spüren, seine Temperatur, seine Stärke. Und man kann vielleicht in den Löchern und Höhlungen nach weiteren Eindrücken suchen. Sicherlich wird das Holz, wenn tatsächlich viele Kinder und Erwachsenenhände darüberstreichen, sich verändern. Das gehört dazu – es sollen ja Begegnungen sein, und die wirken immer wechselseitig. Für die Andreas-Fröhlich-Schule in Kraut heim/Jagst habe ich eine Stele aus weicher Pappel gemacht, die für alle Kinder Begegnung mit Kunst ermöglichen soll. Man kann mit dem Rollstuhl ganz nahe an den Stamm fahren, ihn befühlen und spüren. Man kann aber auch durch die gezackte Öffnung schauen, vielleicht Auge in Auge mit jemandem, der von der anderen Seite durchschaut.

Autor:

Andreas D. Fröhlich, geb. 1946, ist ein deutscher Professor für Allgemeine Sonderpädagogik. Seine Spezialgebiete sind Pädagogik bei schwerster Behinderung und die Integration von Pflege und Pädagogik.
prof.a.froehlich@t-online.de