Die Humpelhexe und der Sonderfall
Der letzte Teil der Menschen.-Serie zu 120 Jahren Behindertenbildern in der Kinder- und Jugendliteratur widmet sich Büchern und Erzählungen, die in der „sozialistischen“ DDR erschienen sind.
Der Dichter Johannes Robert Becher betonte Mitte der Fünfzigerjahre in seiner Funktion als Kulturminister der DDR auf einem Schriftstellerkongress die Bedeutung der Kinderliteratur: „Vom Deutschunterricht und den Büchern, welche die Kinder zum Lesen erhalten, hängt es wesentlich ab, in welche Richtung ihr literarischer Geschmack sich entwickelt, ihr politisches Urteil, ihr Menschensein, ihr Menschlichsein.“ Der Sozialhistoriker Sebastian Barsch weist auf die Realität solcher Sätze hin: Das Ziel der staatlichen Bildung in der DDR war per Gesetz klar formuliert. Es lag im „Wachsen und Werden allseitig gebildeter, das heißt sozialistisch bewusster, hochqualifizierter, gesunder, geistig und körperlich leistungsfähiger kulturvoller Menschen“, die „fähig und bereit sind, die historischen Aufgaben unserer Zeit zu erfüllen“: Daraus ergibt sich, dass beeinträchtigte Figuren in der Kinder- und Jugendliteratur in der DDR zunächst keine Rolle spielten. Das änderte sich in den 1980er-Jahren. Einerseits gab das „Internationale Jahr der Behinderten“ 1981 einen Anstoß, andererseits ließ sich die soziale Wirklichkeit nicht länger ausblenden.
Kopfstand statt Gleichbeiner
Die Humpelhexe Anna ist eine Erzählung von Franz Fühmann (1922–1984), einem der bedeutendsten Schriftsteller der DDR. Fühmann hatte in den Samariteranstalten Fürstenwalde über drei Jahre hinweg immer wieder Märchen erzählt, gelesen und Sprachspiele gespielt. Wohl deshalb steuerte er für einen Fotoband über den Anstaltsalltag Anfang der Achtzigerjahre einen einleitenden Text bei. Seine Beobachtungen resümierend bejahte er die Partnerschaft zwischen „Betreuern“ und „Pfleglingen“, aber er verschwieg nicht die „schmerzliche Kritik“ an den Zuständen vor Ort: Ich „versuche mir ein Ja vorzustellen zu einer Anstalt mit Drogenzwangsjacke, mit schlagenden Wärtern und sich göttergleich wähnenden Ärzten, mit Elektroschocks, mit gedemütigten Seelen in verwalteten Leibern: Ein Ja zu ihr hieße Zynik oder Lüge.“ Vielleicht hatte das Gesehene Fühmann zur Erzählung über die eigensinnige Anna animiert:
Anna ging wie alle Kinder zur Schule. Aber „weil ihr rechtes Bein länger als das linke und ihr linkes Bein kürzer als das rechte war, nannten sie ihre Mitschüler und Lehrer eben Anna Humpelbein“. Das ärgerte sie und noch mehr verdross es sie, dass „die gleichbeinigen“ Kinder über ihr Humpeln spotteten. Am meisten ärgerte Anna sich jedoch über ihre Mutter, die ihr riet, zu einem berühmten Arzt zu gehen „und sich das ein wenig längere Bein ein wenig kürzer hobeln zu lassen“. Aber die Tochter weigerte sich: „Es ist mein Bein“ und „davon gebe ich nichts her, das ist alles Anna. Ich habe nun mal zwei verschiedene Beine, da muss ich eben was daraus machen. Diese Gleichbeiner mögen ruhig spotten.“ Heimlich übte Anna, mit ihrem längeren Bein schnell zu rennen und mit ihrem kürzeren Bein ganz langsam zu gehen. Auf dem Schulsportfest lachten alle, als Anna zum Wettlaufen humpelte. Doch die Lachenden hatten keine Chance – mit ihrem langen Bein gewann Anna das Rennen locker. Jetzt forderten die Eltern der Kinder die Siegerin zu einem Langsamlauf heraus, aber sie hatten gegen die unendlich langsame Anna mit ihrem kürzeren Bein das Nachsehen. Zusätzlich lernte Anna das Laufen auf ihren Händen, denn dann standen die Verhältnisse auf dem Kopf und alles funktionierte andersherum. Diese Position nahm ihr sogar die Angst vor der Matheprüfung, denn im Zweifelsfall müsste dann eben der Lehrer die Aufgaben lösen.
Literarische Wunderheilung
Das Cover des Jugendbuches „Tschomolungma“ (so heißt der Mount Everest im Himalaya-Gebirge in der Sprache der Region) vom Schriftsteller Gunter Preuß (geb. 1940) zeigt eine Rollstuhlfahrerin in klassisch passiver Haltung. Dabei stimmt diese Pose nicht unbedingt mit dem Inhalt des Buches überein, in dem zwei Jugendliche, beide Außenseiter, zusammenhalten und sich von ihren Eltern abnabeln. Am Ende löst sich die Behinderung in Wohlgefallen auf, offenbar eine unvermeidliche Zutat zum Glück:
Peter träumt davon, den Tschomolungma zu besteigen. Dafür wird er von den Mitschülern verspottet, denn er hat es noch nicht einmal geschafft, den alten Wachturm der Burgruine zu erklimmen. Nur Rose, die seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt und nicht mehr am Schulunterricht teilnimmt, glaubt an ihn. Aber „Rose sehnt sich nach Vertrauen, nach Menschen, nach dem Leben, das sie nur noch hinterm Zaun beobachten kann. Sie fühlt sich immer stärker angezogen von der Straße, vom Draußen.“ Sie stößt auf einen Satz aus ‚Galileo Galilei‘ von Bertold Brecht: „Da ist schon viel gefunden, aber da ist mehr, was noch gefunden werden kann.“ Angespornt und ermutigt drückt sie „sich aus dem Wagen heraus – steht auf beiden Beinen, die schwach sind, die wegknicken wollen. Sie zwingt sich zu einem ersten Schritt, einem zweiten, geht tastend durchs Zimmer.“ Sie „hat wieder Verbindung mit der Erde!“ Als Peter sie besucht, „steht sie aus ihrem Krankenstuhl auf“. Er ist voller Freude: „Komm, Rose, wir werden den Tschomolungma bezwingen.“ Gemeinsam gehen sie zum alten Wachtturm und steigen Hand in Hand ins Dunkel. Auf der Plattform angekommen, hat der Turm seinen Schrecken und seine Macht verloren. Rose und Peter rennen zurück. „‚Bis morgen, Peter!‘ ruft Rose. ‚Holst du mich zur Schule ab?‘ ‚Ja, ich komme!‘ ruft Peter.“
Dorfschule statt Einrichtung
Die Lehrerin, Journalistin und Schriftstellerin Jutta Schlott (geb. 1944) erhielt für ihre Kinderbücher begehrte Auszeichnungen. Ihrem Buch „Der Sonderfall“ wurde ein aufklärendes Anliegen bescheinigt, weil es den sozialistischen Leistungsethos hinterfragte. Es bleibt allerdings rätselhaft, wie Aufklärung vereinbar sein soll mit der entwürdigenden Schilderung von Sonderschülern, nur um die Hauptfigur Siggi als den besseren, gerade noch akzeptablen Behinderten zu präsentieren:
Siegfried – Siggi genannt – kommt in einem Dorf mit wenigen Häusern in Mecklenburg „als Siebenmonatskind zur Welt, aber er gedieh und machte seinen Eltern keine Sorgen“. In der Schule zeigt sich jedoch, dass der stets freundliche Siggi dem Unterricht nicht folgen und auch nach der Wiederholung der ersten Klasse weder lesen noch schreiben noch rechnen kann. Die Klassenlehrerin und der Schuldirektor drängen Siggis Eltern, ihn in die Sonderschule mit angegliedertem Wohnheim in die nächste größere Stadt zu schicken. Die Eltern sehen sich deshalb die empfohlene Schule an und „waren beeindruckt von der Geduld, von der Freundlichkeit der Lehrer, und sie waren erschrocken über Aussehen und Gebaren vieler der Kinder dort. Unförmige, plumpe Gestalten, schwer beweglich. Der leere Ausblick mancher Augen, als sähen sie nichts oder durch alles hindurch. Halb geöffnete Münder, in deren Winkeln sich der Speichel sammelte und in dünnen Fäden über das Kinn troff.“ Siggis erschütterte Eltern beschließen nach diesen Beobachtungen, ihr Sohn solle weiter zur Dorfschule gehen, und der Direktor bestimmt, dass der Sonderfall Siggi bis zum Ende der regulären Schulzeit im Klassenkollektiv bleiben dürfe. Nach der achten Klasse und der feierlichen Jugendweihe darf Siggi schließlich seinem Vater im neuen Kuhstall der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft helfen.
Bauernhof-Blues
Die ausgebildete Archivarin Maria Seidemann (1944–2010) verfasste Romane, die den Alltag der DDR schildern, bevor sie sich der Kinder- und Jugendliteratur zuwandte. Die Erzählung „Die honiggelbe Kutsche“ galt als ein Buch, das das verdrängte Thema der Behinderung aufgriff. Es ist eine vorsichtige Annäherung mit kritischen Untertönen. Obwohl in der Geschichte die Sonnenbrille als Symbol für Blindheit eine zentrale Rolle spielt, taucht sie auf dem Buchcover nicht auf:
Die „meiste Zeit des Jahres verbringt Theo weit weg“ vom Bauernhof „in einem Schulinternat. Nur in den Ferien holt der Vater ihn heim.“ Der Junge „hat das schöne alte Gehöft“ nie gesehen, denn „Theo ist blind. Ob er glücklich ist oder unglücklich, darüber denkt Theo nicht nach.“ Seine Mutter hat die Blindheit nicht akzeptiert und lebt mit einem neuen Partner in der Stadt. Deshalb ist Theo tagsüber mit Hund und Pferd allein, aber er genießt die Ferien und spielt auf dem Klavier immer wieder ein Bluesstück von Memphis Slim. Ein Spielkamerad wäre trotzdem schön. Der taucht unvermittelt in der Person des dunkelhäutigen Ben auf: Dieser ist auf der Suche nach Kühlwasser, weil das Auto seiner Mutter liegen geblieben ist. Ben hofft, nicht auf die ewig nervenden Blicke zu stoßen, und legt sich seine übliche Antwort zurecht: „Nein, ich komme nicht aus Afrika, ich sehe nur so aus, und ist es nicht egal, wie ich aussehe?“ Die Frage stellt sich für Theo nicht, er sieht weder dunkle Haut noch krause Haare. Indessen möchte er seine Blindheit verstecken und begründet das Tragen der Sonnenbrille mit einer Augenentzündung. Beide verbringen die nächsten Stunden miteinander, freunden sich schnell an, wobei Theo wie ein Sehender durch Haus, Schuppen und Garten läuft. Als bei einer Rangelei die Brille fällt, ist Ben zunächst entsetzt. Doch die Freundschaft ist schon so gefestigt, dass er verspricht, nach dem Urlaub mit seiner Mutter zurückzukommen. Gemeinsam werden sie dann die honiggelbe Kutsche aus dem Hofschuppen restaurieren.
Literaturhinweise:
Fühmann, Franz (1988): Anna, genannt Humpelhexe. Bilder von Petra Probst. Erlangen: Boje Verlag (Erstausgabe: VEB Hinstorff Verlag, Rostock 1981).
Preuß, Gunter (1982): Tschomolungma. Illustrationen von Gerhard Rappus, 2. Aufl. Berlin: Kinderbuchverlag.
Schlott, Jutta (1981): Der Sonderfall. Eine Geschichte mit gutem Ende. Illustrationen von Helga Leue. Berlin: Kinderbuchverlag.
Seidemann, Maria (1985): Die honiggelbe Kutsche. Illustrationen von Inge Gürtzig. Berlin: Kinderbuchverlag.