Vom Atmen und Durchatmen
Unser Freak steht mit seinen vier Rädern mitten im Leben. Er ist rund um die Uhr auf ein Beatmungsgerät angewiesen und kann weder Arme noch Beine bewegen. Das ist für ihn aber kein Hindernis, sondern eine Herausforderung. Mit der Unterstützung seiner Familie und zehn Assistentinnen führt er ein selbstbestimmtes Leben. Im siebenten Teil unserer elfteiligen Serie gibt er ungewöhnliche Einblicke in sein Leben mit Persönlicher Assistenz und zeigt, wie ein Leben, in dem Pflege zwar wichtig ist, aber nicht seinen Alltag bestimmt, inmitten der Gesellschaft funktioniert.
Im Alltag funktioniert die Beatmung meist ohne Probleme. Doch Notfälle können immer und überall auftreten. Meine Persönlichen Assistentinnen, die gechillt an meiner Seite sind, sind aber zum Glück immer aufmerksam und wachsam. Einer der ersten Notfälle, die ich erlebt habe, ereignete sich bei einer Reise nach Rom. Mitten im Vatikan haben wir bei einem Museumsbesuch die Zeit übersehen, die Warnsignale der sich leerenden Batterie meines Beatmungsgerätes ignoriert und waren dann plötzlich mitten auf einer Piazza ohne Strom. Ich bekam von einem Moment auf den anderen keine Luft mehr. Damals war ich mit meiner Frau Judit unterwegs. Nach einem kurzen Schreckmoment reagierte sie richtig, zog den Ambubeutel aus dem Rucksack und beatmete mich mechanisch. 100 Meter weiter gab es eine Polizeistation. Wir versuchten verständlich zu machen, dass wir „Power“ und „Energy“ benötigten. Die Carabinieri verstanden, zogen ein langes Stromkabel aus der Polizeistation heraus, und ich wurde angesteckt. Seitdem beachten wir immer aufmerksam die Alarmsignale.
Was so alles passieren kann
Ich erzähle Lena, meiner Assistentin, und Lisa, meiner Mitarbeiterin im ORF, beim Mittagessen in der Kantine von dieser Erinnerung, und wir kommen auf andere „Notsituationen“, die wir erlebt haben, zu sprechen. Lustige Anekdoten, wie zum Beispiel der Besuch im Tiergarten Schönbrunn mit den Kindern. Bei der Robbenfütterung schrien die Robben, platschten ins Wasser, das Publikum jubelte und schrie auf, wenn es mit Wasser bespritzt wurde. Hinter mir ging ein junger Mann vorbei, bemerkte nicht, dass ein Beatmungsschlauch an ihm hängen blieb und sich vom Gerät löste. Ich bekam keine Luft, die Assistentin neben mir hörte durch den Lärm den Alarm des Beatmungsgerätes nicht. Ich schnalzte verzweifelt mit der Zunge, meine eigene Art des Alarmsystems. Funktioniert auch ohne Luft! Die Assistentin hörte es, sah mich an, kontrollierte das Beatmungssystem und steckte den Schlauch wieder an. Umgebungslärm birgt immer die Gefahr, Alarme zu überhören. Diese sowie andere Erlebnisse schreibe ich immer in einem Notfallplan nieder. Bei Neueinschulungen gehen wir diese Geschichten als Best-Practice-Beispiele durch. Das hat sich sehr bewährt. Was kann passieren und wie sollte man reagieren. Das Schöne ist, dass in den letzten zwölf Jahren immer alles gut gelöst wurde. Auch die kniffligsten Notfälle, wie Schwierigkeiten beim Fliegen.
Fliegen ist immer ein Abenteuer
In New York war beim Ausstieg aus dem Flugzeug der Weg zwischen den Sitzreihen derart eng, dass mein Schlauch an einer Sessellehne hängen blieb. Der Schlauch zog an der Kanüle, die sich so verdrehte, dass ich keine Luft mehr bekam. Man muss sich vorstellen, in welch einer schwierigen Situation wir waren, denn ich war zwar in Begleitung von zwei Assistentinnen, aber eine war hinter mir und konnte nicht vor zur Kanüle, und die andere war vor mir und konnte nicht zurück zum Rucksack. Die zwei Stewardessen erbleichten und holten sofort den Piloten, der aufgeregt rief, dass sofort ein Notarzt gebraucht werde, denn er habe schließlich die Verantwortung. Bis jemand gekommen wäre, wäre ich aber wohl erstickt. Luft braucht man immer und sofort. Nach drei Minuten ohne Luft hat man bleibende Gehirnschäden. Meine beiden Assistentinnen handelten perfekt. Die eine löste mein Band, zog die Kanüle heraus, die andere hatte inzwischen eine neue Kanüle vorbereitet. Sie wurde mir ins Tracheostoma geschoben und ich konnte zum Glück wieder durchatmen. Die Bordcrew applaudierte. Sie war begeistert von meinem Assistentinnen-Team. Ich natürlich auch! Fliegen ist immer eine Challenge, da ich meinen Rollstuhl an Bord nicht benützen kann, auf einen mobilen Rollstuhl umgesetzt werden muss, der Weg vom Eingang zum Sitzplatz extrem eng ist und beim Sitzplatz kaum Platz für die notwendigen Hilfsmittel und das Beatmungsgerät ist. Aber wir wissen jetzt schon, wie es geht: Das Beatmungsgerät wird unter den Vordersitz geschoben, und die Hilfsmittel wie Katheter, Absauggerät und Notfallkanüle werden rund um die Assistentinnen griffbereit verstaut. Aus Fehlern lernt man, denn einmal waren zwar alle Hilfsmittel mit an Bord, aber über unseren Köpfen im Gepäckfach verstaut und wir konnten nichts finden.
Schrecksekunden am Fluss
Beim Mittagessen erinnert mich Lena an das bisher gruseligste Erlebnis, als ich mit dem Rollstuhl fast in die Salzach gestürzt wäre. Zum Glück war sie damals nicht dabei, an jenem Sonntag am Radweg entlang der Salzach. Die Assistentin lenkte meinen Rollstuhl, Judit und die Kinder gingen vor uns. Auf einer Bank saß ein älterer Herr und sein Hund lag quer über den halben Radweg. Der Herr fragte, ob er den Hund wegnehmen solle. Die Assistentin verneinte: „Nicht notwendig!“ Wir fuhren also am Hund vorbei, allerdings war der Weg doch etwas zu schmal und die Hinterräder rollten über die Kante des Radwegs. Der Rollstuhl kam ins Rutschen, da der Abhang zur Salzach gleich neben dem Radweg verlief. Der Rollstuhl drohte rund zehn Meter in die Tiefe zu rutschen. Die Assistentin schrie, der Hund bellte und Judit kam gelaufen. Sie stützte den Rollstuhl von hinten ab und wir kamen schlussendlich wieder auf festem Boden zu stehen. Noch einmal Glück gehabt. Judit belehrte uns, dass man in so einem Notfall nicht den Rollstuhl festhalten dürfe, denn bei dem Gewicht von 200 Kilo hätte man keine Chance, man sollte mich stattdessen packen und aus dem Rollstuhl ziehen. Und wenn möglich, sollte man das Beatmungsgerät abstecken. Ich muss gestehen, mir war das Herz in diesem Augenblick auch in die Hose gerutscht. Aber: No risk, no fun!
Herausforderung Assistenz
Viele Notfälle merkt man gar nicht, da die Assistentinnen ganz selbstverständlich richtig handeln. Ein gelöster Schlauch wird nur dann zum Notfall, wenn er nicht wieder angesteckt wird. Die Assistentinnen sind bei mir sehr gefordert und müssen immer aufmerksam sein. Wichtig ist aber auch eine gewisse Abgrenzung zum Selbstschutz der Mitarbeiterinnen. Die Kunst ist, sich in dem Job nicht selbst zu verlieren. Einerseits bekommt die Assistentin von mir immer Anliegen und Wünsche übermittelt, andererseits ist sie auch gefordert, selbstständig zu handeln und mitzudenken. Es ist die Herausforderung des Jobs, mir ein selbstbestimmtes Leben durch Unterstützung zu ermöglichen, ohne gleichzeitig überfordert zu werden und zu vergessen, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. Eine Assistentin hat mir beispielsweise erzählt, dass sie anfangs bei mir nichts getrunken hat oder vergessen hat, aufs Klo zu gehen, da sie so sehr auf meine Bedürfnisse bedacht war. Bei der Einschulung mache ich Assistentinnen auch immer darauf aufmerksam, auf ihren Rücken zu achten, den man gerade halten sollte. Man sollte sich auch möglichst mit den Beinen abstützen, wenn man sich im Bett über mich beugt. Und zwischendurch sollte man natürlich nicht auf einen Schluck Wasser verzichten.
Autor:
Franz-Joseph Huainigg
Geboren am 16.6.1966 in Paternion (Kärnten). Studium der Germanistik und Medienkommunikation. In den 1990er-Jahren Gründer des Wiener KrüppelKabaretts, Journalist, Buchautor, Politiker (2002 bis 2017 ÖVP-Abgeordneter im Parlament, Sprecher für Menschen mit Behinderungen und Sprecher für Internationale Zusammenarbeit (EZA)). Seit Jänner 2019 Mitarbeiter in der ORF-Abteilung „Humanitarian Broadcasting“. Verheiratet, Vater einer Tochter und eines Pflegesohnes.