Flucht, traumatische Prozesse und die Möglichkeiten der Pädagogik
Der Beitrag fragt nach pädagogischen Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten im Kontext der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Das Wissen um komplexe traumatische Prozesse, die eben nicht auf posttraumatische Symptome reduzierbar sind, bildet eine wichtige Verstehens- und Handlungsgrundlage für die Fachkräfte sowie eine Orientierung für pädagogische Institutionen.
1. Ein aktuelles Thema für die schulische und außerschulische Pädagogik
Schulische Fachkräfte, die mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen arbeiten, erleben in ihrer Tätigkeit erhebliche Herausforderungen. Diese Herausforderungen lassen sich teils auf einer unmittelbaren Beziehungsebene, teils auf einer eher didaktischen Ebene verorten, wobei auch hier relationale Aspekte von großer Bedeutung sind (Hoanzl 2017). Dabei zeigen sich große Schnittmengen zwischen hohen Belastungen vor, während und nach der Flucht, damit verbundenen traumatischen Prozessen und Beeinträchtigungen des Lernens, der emotionalen sowie der kognitiven Entwicklung (Zimmermann und Lindner 2022).
Aktuell fliehen Menschen in großer Zahl aus der Ukraine vor einem Angriffskrieg und werden – zumindest bislang – in den Nachbarländern und in der Europäischen Union mit großer Solidarität aufgenommen. Etwa die Hälfte der Flüchtenden sind Kinder und Jugendliche. In den meisten Fällen ist die Flucht zudem mit einer Trennung der Familien verbunden, da Männer aus der Ukraine aktuell nicht ausreisen dürfen. In anderen Fällen fliehen Kinder oder Jugendliche ohne jede erwachsene Bezugsperson. Die Not der Kinder und Jugendlichen lässt sich also bei Weitem nicht „nur“ aus unmittelbaren Kriegserfahrungen ableiten, sondern muss immer als komplexe, vor allem interpersonale Extremerfahrung verstanden werden. Schmerzvolle Trennungen von Menschen und Tieren, vom gewohnten Umfeld, der Verlust des Gefühls von Sicherheit sowie aufkommende Schuldgefühle, dass andere Menschen zurückbleiben müssen, verweisen nur exemplarisch auf mögliche Erfahrungen und Erlebensmuster im Kontext von Flucht.
Junge Menschen genauso wie Erwachsene aus anderen Herkunftsgebieten, ob allein oder mit engen Beziehungspersonen eingereist, erleben häufig eine noch deutlich unsicherere Ankunfts- und Aufenthaltssituation, weil sowohl die rechtlichen als auch die sozialen Bedingungen des Ankommens nicht von einer sogenannten Willkommens-, sondern von einer Abweisungskultur geprägt sind. So berührend und hilfreich die Aufnahmebereitschaft gegenüber den Flüchtenden aus der Ukraine ist, so verstörend sind die rassistisch aufgeladenen Konnotationen, wenn medial zwischen „echten“ Geflüchteten (die als blond, blauäugig und im Zweifelsfall christlich beschrieben werden) und den „Fremden“ (die primär mit dem Islam sowie einem als fremd markierten Äußeren sowie mit Bedrohlichkeit assoziiert werden) unterschieden wird (Der Spiegel 08.03.2022). Während sogenannte unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Deutschland Klient:innen der Jugendhilfe werden, ist der 18. Geburtstag für diese Gruppe kein Festtag: Mit ihm geht die Gefahr der Abschiebung einher (Schlachzig 2022). Mej Hilbold wies jüngst in einem Vortrag auf dem DGfE-Kongress darauf hin, dass selbst repatriierten Kindern von Kämpfer:innen des sogenannten Islamischen Staates ein Label der potenziellen Gefährlichkeit zugeschrieben wird, was die Pflegschaftsverhältnisse der aufnehmenden Eltern enorm belastet (Hilbold 2023, in Vorb.).
Jenseits überaus begrenzter klinischer Kategorien lässt sich ein Belastungserleben der geflüchteten Kinder und Jugendlichen stets nur als komplexer und langfristiger Prozess beschreiben. Um einen solchen Prozess erfassen zu können, eignen sich soziale und zugleich auf innerpsychische Dynamiken Bezug nehmende Traumakonzeptionen. Auch im Kontext von Flucht ist Trauma immer ein langfristiges Geschehen und eng mit den jeweiligen zwischenmenschlichen Erfahrungen verbunden.
2. Trauma und Traumapädagogik
Das Publikationsaufkommen zum Thema „Trauma“ hat in den letzten Jahren ein unüberschaubares Ausmaß angenommen, gerade mit Bezug auf Fluchtbewegungen. Mit Blick auf Beeinträchtigungen des Lernens und der emotional-sozialen Entwicklung liegen auch erste (sonder-)pädagogische Publikationen vor, die eine Brücke von der Traumatheorie zur pädagogischen Praxis schlagen (Möhrlein und Hoffart 2014; Zimmermann 2017). Gleichwohl ist „Trauma“ nicht linear mit einem spezifischen sonderpädagogischen Förderbedarf verbunden. Hoch belastete Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund lernen in allen Schulformen, traumapädagogische Haltungen und Handlungsmöglichkeiten haben demnach für alle in der Schule tätigen Professionellen eine hohe Relevanz.
Trauma ist definitorisch durch ein Miteinander von außen und innen, also durch die Verschränkung realer Extremerfahrungen mit der Unmöglichkeit, diese zu verarbeiten, gekennzeichnet. Die Erfahrungen müssen deshalb im Unbewussten abgespeichert werden. Bei durch Menschen verursachten traumatischen Erfahrungen beziehen sich diese unbewusst abgespeicherten Repräsentanzen definitorisch auf menschliche Beziehungen. Je kleiner die Kinder sind, desto stärker sind auch Krieg und Flucht primär interpersonelle Erfahrungen. Trennungen, die erlebte Ohnmacht der Eltern und zwischenmenschliche Gewalt sind typische relationale Erfahrungen in diesem Kontext. Die Kinder und Jugendlichen verinnerlichen also ein Bild von Erwachsenen, das häufig durch Bedrohung, Gefahr, Unzuverlässigkeit oder die Unmöglichkeit zur Empathie geprägt ist.
Ausgehend von den obigen Überlegungen bedarf es eines Traumakonzepts, das die realen sozialen Belastungen im Kontext von Flucht in ihrer Komplexität erfasst, zugleich aber die potenzielle Wirkung auf Individuen nicht aus dem Blick verliert. Unter Bezugnahme auf seine eigene jahrzehntelange Tätigkeit mit jungen Überlebenden des Holocausts hat Hans Keilson (1979) die Rahmenkonzeption der Sequentiellen Traumatisierung vorgelegt. Mit dieser Konzeption lässt sich zum einen belegen, dass
Trauma fast nie ein singuläres Ereignis, sondern nahezu immer durch verschiedene Extremerfahrungen in unterschiedlichen Kontexten bedingt ist,
Trauma sich in der Erlebenswelt der betroffenen Kinder und Jugendlichen aber zu einem zentralen Erleben (z. B.: „Ich bin überall bedroht“) verdichtet und
die pädagogischen, medizinischen oder beraterischen Institutionen NACH der größten Bedrohung Beteiligte am traumatischen Prozess sind, und zwar in förderlicher oder chronifizierender Art und Weise (Zimmermann 2016).
Auch wenn die spezifischen Erfahrungswelten nicht vergleichbar sind, lässt sich das Konzept auf unterschiedliche Kontexte transferieren: David Becker (2006) hat das Konzept der Sequentiellen Traumatisierung am Beispiel von politisch verfolgten Menschen in Chile und erzwungener Migration weiterentwickelt und dabei gezeigt, dass psychisches Leid nie unabhängig vom sozialen Kontext zu verstehen und zu behandeln ist (Becker 2006, 26).
Diese Weiterentwicklung hat David Zimmermann (2016) aufgegriffen und für die Bedingungen zwangsmigrierter Jugendlicher aktualisiert beschrieben. Eine der grundlegenden Ideen dabei ist, dass „[...] Traumata ihren Ausgangspunkt in zwischenmenschlichen Beziehungen und politischen Rahmenbedingungen haben, sich gleichsam auch in Interaktionen stets neu manifestieren“ (Zimmermann 2016, 41).
Es deutet sich also schon an, dass Traumatisierung in diesem Verständnis immer auch ein schulpädagogisches Thema ist. Denn die Kinder und Jugendlichen kommen mit den erlittenen Verlusten, mit den Gewalt- und Kriegserfahrungen in die Schule. Opp (2017) spricht von schmerzbasiertem Verhalten, das diese Kinder und Jugendlichen in der Schule zeigten. „Schmerz“ ist dabei nicht ausschließlich metaphorisch zu verstehen. Vielmehr verweist der Begriff darauf, dass traumatische (Beziehungs-)Erfahrungen und das damit verbundene affektive Leid tatsächlich oft in enger Beziehung zu somatischen Leiden stehen. Die traumatisierten Kinder und Jugendlichen begegnen in der Schule Fachkräften, die häufig zwar gut ausgebildet sind und engagierten Unterricht gestalten, auf die emotionale Herausforderung der Beziehungsarbeit mit diesen Schüler:innen jedoch nur schlecht oder gar nicht vorbereitet sind. Deshalb ziehen viele schulische Fachkräfte den Schluss, dass ein Einlassen auf die traumatische Welt in der Schule unmöglich sei und man gut daran täte, dem Kind oder Jugendlichen ein angemessenes unterrichtliches Angebot zu machen. Die Verantwortung für Verstehen und Handeln im Kontext von Trauma bliebe in einem solchen Verständnis spezialisierten Fachkräften überlassen. Dies ist allerdings aus drei Gründen unmöglich:
Die traumatisierten Kinder und Jugendlichen mit und ohne Fluchtgeschichte sind da und die traumatisierte Erfahrungs- und Erlebenswelt ist ein Teil von ihnen. Diese Welt wird das schulische Miteinander prägen. Je stärker Fachkräfte versuchen, das Thema von sich fernzuhalten, desto wirkmächtiger werden die jungen Menschen dieses Erleben über ihr Verhalten ausdrücken. Für die Fachkräfte ergibt sich daraus der Auftrag und gleichsam die Möglichkeit, ihre eigene Haltung, ihre Fähigkeit zum Einlassen auf die Bedürfnisse der hoch belasteten jungen Menschen als wichtigsten Baustein einer traumasensiblen Pädagogik anzuerkennen.
Unterricht und (traumapädagogische) Beziehungsarbeit sind nicht etwa isolierte schulische Aufgaben, sondern gehören zusammen. Auch über die Gegenstände des Fachs und die didaktischen Formen findet Beziehungsarbeit statt, ob reflektiert oder unreflektiert. Dies gilt nicht zuletzt auch beim Neueinstieg in die Schule. Guter Unterricht ohne Beziehungsreflexion und eine entsprechende Haltung ist also unmöglich.
Schule ist der wichtigste Erfahrungs- und Erlebensraum außerhalb der Herkunftsfamilie für hoch belastete Kinder und Jugendliche. Nur die Schule kann deshalb eine alternative soziale Erfahrung im Alltag anbieten. Der damit verbundene Auftrag an die Schule besteht in der Bereitstellung eines pädagogischen Milieus (oder, wie es in traumapädagogischen Veröffentlichungen genannt wird: eines „Sicheren Orts“). Er ist durch möglichst verlässliche Beziehungen, Transparenz und die Vorbereitung von Trennungen gekennzeichnet.
3. Von der Rahmenkonzeption zum Fallverstehen
Alle drei oben genannten Entwicklungsbereiche verweisen auf die hohe Bedeutung eines angemessenen pädagogischen Fallverstehens. Dieses Fallverstehen geht davon aus, dass sich innerpsychisch stets gute Gründe für das Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen finden lassen. Werden diese „guten Gründe“ näherungsweise verstanden, lassen sich daraus neue pädagogische Handlungsweisen ableiten, gerade auch in der Arbeit mit geflüchteten jungen Menschen. Der zentrale pädagogische Begriff für diesen Zusammenhang lautet „Subjektlogik“ (Zimmermann 2017):
Jedes Erleben und Verhalten (ebenso jede Lernbeeinträchtigung) ist vor dem Hintergrund des inneren Erlebens einer Person und spezifisch der damit verbundenen Affekte sinnvoll.
Zwischen der traumatischen Erfahrung und deren innerer Widerspiegelung einerseits und den Lern-und Verhaltensmöglichkeiten andererseits bestehen allerdings keine linear-kausalen Beziehungen. Das heißt, erhebliche Schwierigkeiten im Lernen oder sozial adäquaten Verhalten können eine Folge von traumatischer Erfahrung sein. Aber all dies ist immer nur individuell rekonstruierbar und folgt keinem einfachen und immer gültigen Schema. Ein Einlassen auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen erfordert folgerichtig die Bereitschaft zum differenzierten Fallverstehen, das als Ausgangspunkt zielführender pädagogischer Arbeit im Kontext von Flucht und Trauma gelten kann (differenzierter in Zimmermann & Lindner 2022).1
In einem ersten Schritt ist das Wissen um die biografischen Erfahrungen der jungen Menschen von hoher Bedeutung, um sinnverstehend Verhalten entschlüsseln zu können. Während sowohl schulische als auch außerschulische pädagogische Akteure dem „Aktenstudium“ vielfach abgeneigt sind, spricht diagnostisch sehr viel dafür, die potenziell traumatischen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen, um ihre Wirkmächtigkeit auf langfristige Erlebensmuster rekonstruieren zu können. Zusätzlich können klassisch sozialpädagogische Methoden der Biografiearbeit genutzt werden, so beispielsweise das Zeichnen von Lebensverläufen, um über das lebensgeschichtliche Leid, gleichwohl auch über die Ressourcen von psychisch schwer belasteten Menschen Aufschluss zu erhalten (Gahleitner et al. 2014). Eine solche Art der Diagnostik ist also eingebunden in die Beziehungsarbeit, keinesfalls separiert davon! Da Sequentielle Traumatisierungsprozesse definitorisch nicht abgeschlossen sind, müssen alle Arten der biografischen und aktualgenetischen Diagnostik aber unbedingt in eine haltende, „containende“ Beziehungsarbeit eingebunden sein und mit hoher Sensibilität zum Einsatz kommen.
Jedoch: Wird von der (oft nur skizzenhaft rekonstruierbaren) lebensgeschichtlichen Erfahrung unmittelbar auf aktuelle Bedürfnisse und Verhaltensweisen geschlossen, bleibt eine Leerstelle, ohne die sich pädagogische Haltungen und Handlungen nur schwerlich entwickeln lassen. Entscheidend ist nicht primär, was eine Person erfahren hat, sondern welche Bedeutung diese Erfahrung für ihre Selbst- und Weltwahrnehmung hat. Deshalb ist es für ein diagnostisches Fallverstehen von herausragender Bedeutung, die Vorstellung der Person von sich und anderen zu rekonstruieren. Hierfür hat es sich in einem zweiten Schritt als sehr hilfreich erwiesen, wenn die Fachkräfte tatsächlich aus der Ich-Perspektive der Betroffenen sprechen und Sorgen, Wünsche, Nöte und Anfragen an die pädagogischen Beziehungspersonen aus dieser Perspektive formulieren. Es heißt dann nicht: „xy fühlt sich …“, sondern: „Ich als xy fühle mich …“. Zweifelsohne bleiben hier offene Fragen: Ist die Formulierung von Anfragen und Nöten aus Sicht des Kindes oder Jugendlichen nicht spekulativ? Zeigen sich darin nicht überstark die eigenen Wahrnehmungen der Fachkräfte statt der des Kindes? Diese Zweifel lassen sich nicht gänzlich aus dem Weg räumen, zumal es sich bei pädagogischen Fachkräften nicht zwingend um diagnostisch versierte Professionelle handelt. Jedoch lassen sich in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen die inneren Erlebensweisen noch schlechter unmittelbar erfragen. Dies gilt für Schüler:innen mit noch geringen Kenntnissen der deutschen Sprache natürlich in noch höherem Ausmaß. Die Übernahme dieser Funktion durch die Professionellen stellt deshalb eine realitätsgerechte Lösung dar.
Bietet das Fallverstehen im Team einen ausreichend „Sicheren Ort“ für die Professionellen, ist der Einbezug eigener Emotionen aus der Arbeit mit den traumatisierten Klientinnen und Klienten eine wichtige Möglichkeit, weitere Aspekte der Beziehungsdynamik zu erfassen. Denn wie an anderer Stelle genauer ausgeführt (Herz und Zimmermann 2015) und psychoanalytisch-pädagogisch gut begründbar, sind aktuelle Beziehungspersonen im Kontext spezifischer Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse stark emotional in die Widerspiegelungen der traumatischen Erlebensmuster involviert. Im Hinblick auf das unmittelbare Beziehungsgeschehen liefern die oft als fremd oder unbekannt erlebten eigenen Emotionen wesentliche Aufschlussmöglichkeiten hinsichtlich der Widerspiegelung traumatischer Erfahrung in der aktuellen Situation. In einem dritten Schritt formulieren die Fachkräfte deshalb differenziert, welche Emotionen in der Arbeit mit dem jeweiligen Schüler / der jeweiligen Schülerin bei ihnen auftauchen.
Aus der Analyse dieser drei Informationsebenen lassen sich in einem vierten Schritt vielfach relativ leicht Haltungs- und Handlungsmodelle für die pädagogische Praxis ableiten. Zentrale Frage ist dabei weniger, welches Förderkonzept ein Kind oder eine/n Jugendlichen nunmehr voranbringen würde. Vielmehr lautet die meist angemessene Frage für diesen diagnostischen Schritt: „Was braucht dieses Kind, dieser junge Mensch von uns, was braucht er von der Institution, was braucht er im Hinblick auf die Bewältigung traumatischer Vorerfahrungen?“ Mithilfe dieser individuumszentrierten Fragen lassen sich die traumapädagogischen Grundkonzepte der Sicherheit, der Selbstbemächtigung und der Integration in den Lebensalltag auf der Basis der Anfragen an die aktuelle pädagogische Beziehung sinnhaft füllen und anschließend gestalten (Weiß 2013).
Im fünften und letzten Schritt formulieren die Fachkräfte gemeinsam einige wenige Dinge, die in der nächsten Zeit im schulischen Alltag umgesetzt werden können. Diese Dinge sind oft ganz überschaubar und im Rahmen der gegebenen Bedingungen bewältigbar. Teilweise mögen sie sich auch gar nicht von Ideen unterscheiden, die ohne das Fallverstehen entwickelt werden könnten. Jedoch: Nunmehr werden die umgesetzten Veränderungen von einer auf Subjektlogik fokussierten Haltung getragen, was viel entscheidender ist als die Willkommensmaßnahmen als solche.
4. Abschließende Bemerkungen
Was für die Pädagogik in jeglichem Kontext gilt, hat für die Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen eine besondere Bedeutung: Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Problemlagen. Und die Lebenssituation von jungen Geflüchteten entspricht einer komplexen sozialen Problemlage, die mit entsprechenden Nöten, Ängsten und Bedürfnissen verbunden ist. Richtig ist aber auch: Gerade in Lebenssituationen extremer Belastung hat die Alltagsstrukturierung durch die Schule eine sehr hohe Bedeutung. Kommt zu dieser Alltagsstrukturierung die Bereitschaft, sich z.B. mithilfe des Fallverstehens auf die emotionalen Bedürfnisse einzulassen, und unterstützen sich die Fachkräfte in diesem Auftrag auch gegenseitig, dann ist im Hinblick auf traumapädagogische Unterstützung sicher noch bei Weitem nicht alles erreicht. Aber doch schon sehr vieles.
Literatur
Becker, D. (2006): Die Erfindung des Traumas – verflochtene Geschichten. Berlin: Ed. Freitag.
Der Spiegel (08.03.2022): Flüchtende aus der Ukraine. Finger weg von den Frauen! Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/kultur/fluechtende-aus-der-ukraine-finger-weg-von-den-frauen-kolumne-a-210cb3cd-b0c2-45c3-94f1-50c4863b7a89, zuletzt geprüft am 15.03.2022.
Gahleitner, S. B., Andrae de Hair, I., Weinberg, D. & Weiß, W. (2014): Traumapädagogische Methodik: Diagnostik und Intervention. In: Gahleitner, S. B., Hensel, Th., Baierl, M., Kühn, M. & Schmid, M. (Hrsg.): Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern. Ein Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 251–279.Herz, B. & Zimmermann, D. (2015): Beziehung statt Erziehung? Psychoanalytische Perspektiven auf pädagogische Herausforderungen in der Praxis mit emotional-sozial belasteten Heranwachsenden. In: Stein, R. & Müller, Th. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer, 144–169.Hilbold, M. (2023): Biopolitische Begrenzungen und Disziplinarmacht als Spannungsfeld in Pflegschaftsverhältnissen. In: Psychosozial 46 (3), in Vorb.
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Autor:
David Zimmermann, Prof. Dr., ist Abteilungsleiter für „Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Trauma/Traumapädagogik, psychoanalytische Pädagogik, Professionalisierung und Pädagogik im Strafvollzug. Theoriebildung, pädagogische Praxis und ihre Reflexion sind dabei stets aufeinander bezogen. Gemeinsam mit zwei Kollegen leitet er das Institut für Traumapädagogik Berlin.
david.zimmermann@hu-berlin.de
Fußnote
1 Im genannten Beitrag findet sich auch eine Möglichkeit der grafischen Umsetzung eines solchen Fallverstehens.