Illustration: Eine Frau in einem türkisen Badetuch, der nach unten hin weiß wird, ist zu erkennen. Die Haare gehen in den blauen Hintergrund über.

Foto: © Eva-Maria Gugg
aus Heft 2/2022 – Zum Muttertag
Eva Feder Kittay

Ich bin ihre Mutter

Zum ersten Muttertag, an dem meine Tochter Sesha nicht mehr bei uns zu Hause lebte, bekam ich einen wundervollen Korb voller handgemachter Geschenke von ihr. Sie reichte ihn mir mithilfe ihrer Assistenzperson, und während ich mich gefühlvoll bedankte, sah sie sehr zufrieden aus.

Zum Muttertag denken Kinder darüber nach, was ihre Mütter für sie getan haben, und drücken ihre Dankbarkeit durch Blumen, Restaurantmahlzeiten, liebevoll geschriebene Karten oder Briefe aus. Ich habe zum Glück zwei wunderbare Kinder, die inzwischen erwachsen sind. An jedem Muttertag erhalte ich eine wunderschön geschriebene Nachricht von meinem Sohn Leo – jedes Wort ist mir teuer – und oft ein Geschenk oder einen Besuch als Ausdruck seines Dankes.

Auch wenn ich womöglich eine handgemachte Karte und ein handgemachtes Geschenk von meiner Tochter bekomme, sind die Worte auf ihrer Karte nicht von ihr, und die handgemachten Dinge stammen nicht aus ihren Händen. Obwohl sie 49 Jahre alt ist, ist selbst das Loslassen des Geschenkes, um es mir zu überreichen, eine Leistung. Sesha hat eine schwerwiegende Entwicklungsbeeinträchtigung sowie geistige und körperliche Behinderungen. Ich freue mich, Dankbarkeit zu verspüren für die bedachten, gut gewählten Worte meines Sohnes und für das Lächeln, die Umarmung und die Bemühungen meiner Tochter.

Sesha ist nämlich keine Tragödie, und genauso wie meinem Sohn gebührt ihr mein Dank für die reichhaltige Erfahrung, eine Mutter zu sein. Viele Menschen wundern sich vielleicht darüber, und deshalb möchte ich mich an diesem Muttertag einem allgemeinen Erwartungsbild entgegenstellen – dem Bild des dankbaren Kindes, das seine Mutter lobt. Dieser Tag scheint der richtige Moment zu sein, um zu erklären, wie mir etwas, das so viele Menschen fürchten, so teuer sein kann. Denn Sesha hat mein Verständnis der Mutterliebe um vieles vertieft.

Die Behinderung meiner Tochter hat mich zu der Mutter gemacht, die ich bin

Ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Weise besonders ist, dass ich meine behinderte Tochter nicht nur akzeptiert habe, sondern auch für sie dankbar bin. Ebenso wenig ist dieses Gefühl überraschend für jene, deren Leben von Behinderungen betroffen ist. Ich will von einer Mutter erzählen, die ich kenne. Sie hatte eine Tochter, die so schwere Behinderungen hatte wie meine Tochter und die leider kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag verstarb. Ihr einziges anderes Kind, eine erwachsene Tochter mit Trisomie 21, lebt jetzt in einem Gruppenheim. Während viele andere sich vielleicht auf den unvorstellbaren Schmerz konzentrieren würden, den der Verlust eines Kindes mit sich bringt, verstieß sie diesen Gedanken. Stattdessen, so sagte sie mir mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, „danke ich Gott jeden Tag, dass er mir diese zwei Töchter geschenkt hat. Sie haben mich zu einem viel besseren Menschen gemacht, und sie haben meinem Leben eine unermessliche Fülle verliehen.“

Auch ich bin – zu großen Teilen – wegen meiner Tochter zu dem Menschen geworden, der ich bin. Ich habe es Aktivist:innen in der Behindertenbewegung zu verdanken, dass ich Behinderungen heute sehr viel anders verstehe als früher. Wie diese Mutter bin auch ich dankbar für mein Kind, für den Menschen, der sie ist – und ihre Behinderung ist Teil ihres Daseins.

Ich bin dankbar für einen wunderbaren Menschen, der zu mehr Liebe und Freude fähig ist als die meisten. Ich habe keine Ahnung, ob diese Gaben auf irgendeine Art eine Folge ihrer Behinderung sind, aber ihre Gegenwart verleiht meinem Leben Bedeutung und Wert. In dieser Hinsicht ist meine Dankbarkeit gar nicht so anders als die Dankbarkeit, die ich als Mutter eines Sohnes verspüre – eines wunderbaren und begabten Sohnes, auf den jede Mutter stolz wäre.

Ich bin, um das klarzustellen, nicht dankbar für die Nächte, die ich mit meiner Tochter in den Notaufnahmen von Krankenhäusern verbringen musste, oder für ihre medizinische Verletzlichkeit oder für die zusätzlichen Risiken, die Behinderungen mit sich bringen. Sie leidet an Anfällen, die ihr Schmerzen bereiten und ihr Leben und ihre Gesundheit gefährden. Da sie nicht sprechen kann, kann sie auch nichts sagen, wenn ihr etwas wehtut oder sie krank ist. Ich habe Angst davor, dass sie sich verletzt, weil es ihr an Urteilsvermögen in gefährlichen Situationen fehlt. Genauso wie alle Eltern von entwicklungsbeeinträchtigten Kindern kämpfen wir mit den finanziellen Belastungen und den bürokratischen und versicherungstechnischen Hürden, die ihrer korrekten Pflege im Weg stehen. Das sind alles echte Schwierigkeiten: emotionaler, körperlicher, materieller und jeder ansonsten erdenklichen Art.

Genau wegen dieser Verletzlichkeit, dieser Risiken, stehen ihr Vater und ich ihr so nah und erleben eine Gefühlstiefe, die sonst nur selten ausgelotet wird. Indem wir ihr zusehen und lernen, wie sie die Welt bewältigt und dabei eine Freude verspürt, die nur den wenigsten von uns vorbehalten scheint, sehen wir die Welt auf eine neue Weise. Das Ausmaß ihrer Freude, zum Beispiel die Leidenschaft, mit der sie einer Symphonie zuhört, eröffnet allen, die bei ihr sind, eine neue, herrliche Daseinsart. Und der Stolz, mit dem sie eine neue Aufgabe meistert, die den meisten anderen ein Leichtes wäre, erinnert uns daran, dass Erfolg sich nicht durch das (unweigerlich unvollkommene) Endprodukt definiert, sondern durch unsere Anstrengungen und unser Streben.

Ich kenne niemanden sonst, der so ist wie sie

Wenn man die Tochter des britischen Dramatikers und Regisseurs Stephen Unwin bittet, ihren schwerbehinderten Bruder Joey zu beschreiben, hält die Zehnjährige inne und sagt dann, er sei „Joey-haft“. Auch meine Tochter Sesha ließe sich am besten als „Sesha-haft“ beschreiben. Obwohl diese Kinder zu Tode diagnostiziert und kategorisiert werden, fallen sie kaum in gewöhnliche Kategorien. Sie bringen ihren Eltern bei, jeden einzelnen Menschen als unverwechselbar, einzigartig und absolut unersetzlich anzusehen. In dieser Erkenntnis liegt das Geheimnis der Mutterliebe.

Das nächste Mal also, wenn ihr einer Mutter Fragen über ihre Kinder stellt, und sie antwortet, dass eines ihrer Kinder eine schwerwiegende Entwicklungsbeeinträchtigung habe, senkt nicht eure Stimme und sagt: „Oh, das tut mir sehr leid.“ Setzt nicht immer Leid voraus, weder am Muttertag noch an einem anderen Tag. Was auch immer sie erlebt hat, sie hat wahrscheinlich das Kind akzeptiert, das sie hat, und ist dankbar und stolz, der Mensch und die Mutter zu sein, zu der sie dank dieses Kindes geworden ist.

Autorin:

Eva Feder Kittay war 35 Jahre lang Professorin der Philosophie an der Universität Stony Brook in New York. Sie ist Autorin und Herausgeberin von Sammelbänden sowie zahlreichen Artikeln über Sprachphilosophie, feministische Philosophie und Disability Studies. Für ihr Buch „Learning from My Daughter: The Value and Care of Disabled Minds“  (Oxford 2019) erhielt Kittay den 2020 PROSE Award für Philosophie (siehe Besprechung in Menschen. 1/2022, 84 f.).

Ihre wegweisende Forschung, die Philosophie und Feminismus-Theorie mit Fragen zu Pflege und Behinderung (vor allem kognitiver Behinderung) verbindet, wurde mit vielen bedeutenden Preisen ausgezeichnet.