Diana - kognitive Einschränkung oder sozio-emotionale Entwicklungshemmung?
Die Antwort der Entwicklungsfreundlichen Diagnostik
Diana ist zu Beginn der heilpädagogischen Förderung ein knapp fünf Jahre altes Mädchen, das ihren Erzieherinnen im Kinderhaus Sorge bereitet. Sie besucht die Tagesstätte ganztägig (von 7.00 bis 15.30 Uhr). Ihre Mutter erzieht sie allein in einer kleinen Wohnung. Kontakt zum Vater besteht nicht. Auch die anschließende Partnerschaft ist wieder zerbrochen.
Diana fällt auf durch einen recht kleinen Kopf, rasche, ungenaue Bewegungen (Unruhe, Probleme bei der Koordination und mit dem Gleichgewicht) und eine Sprachentwicklungsverzögerung (Drei- bis Fünf-Wort-Sätze mit starken grammatischen Fehlern, spricht von sich in der dritten Person). Schon diese wenigen Beobachtungen werfen die Frage auf, ob eine kognitive Einschränkung vorliegt oder der Entwicklungsrückstand in ihren schwierigen sozio-emotionalen Lebensbedingungen gründet. Denn die alleinerziehende Mutter ist selbst emotional sehr instabil. Sie hat ihren eigenen Aussagen zufolge Probleme, emotionale Nähe zu ihrer Tochter zuzulassen, reagiert auf sie häufig unberechenbar und heftig und empfindet kaum Freude, wenn sie sich – was selten genug vorkommt – mit ihr spielerisch beschäftigt. Sie fühlt sich emotional überfordert, ist mit ihrer Lebenssituation unzufrieden und wünscht sich ein angepasstes, pflegeleichtes Kind.
Dass Diana sich unter diesen Voraussetzungen nur schwer entfalten und keine emotionale Stabilität gewinnen kann, leuchtet unmittelbar ein. Ihre sozio-emotionale Problematik zeigt sich in der Kita folgendermaßen: Diana spürt ihre geringe Kompetenz: Ihr Aufgabenverständnis ist häufig lückenhaft. Bei vergleichsweise einfachen Aufgaben ist sie schnell entmutigt, weicht bei Schwierigkeiten aus („Bauchweh“) und entschuldigt sich sofort für Fehler. Ihre geringe Frustrationstoleranz kann aber auch zu heftigen Verzweiflungsanfällen mit Kontrollverlust führen, bei denen sie laut schreit, um sich schlägt und erreichbare Gegenstände durch die Gegend wirft. An ihren Erzieherinnen hängt sie und fordert viel Aufmerksamkeit. Bei anderen Kindern reagiert sie teilweise körperlich (schubsen, schlagen, zwicken), wenn sie nicht verstanden wird. Das kooperative Spiel mit ihnen gelingt ihr noch nicht, doch sucht sie einen stillen Kontakt über das Parallelspiel. Die lebenspraktischen Anforderungen der Kita bewältigt sie gut. Nur vor dem Aufräumen versucht sie sich zu drücken.
Die schwierige Gesamtsituation bewog das Kita-Team, sowohl um eine differenzierte Entwicklungsdiagnostik als auch um heilpädagogische Unterstützung zu bitten. Die Entwicklungsdiagnostik erfolgte mit dem „Befindlichkeitsorientierten Entwicklungsprofil für normal begabte Kinder und Menschen mit Intelligenzminderung – kompakt“ (BEP-KI-k). Weil dieses Instrument noch recht neu ist, sei es zunächst kurz dargestellt.
Das BEP-KI-k ist ein Fremdeinschätzungsverfahren (befragt werden jeweils die Bezugspersonen) und besteht aus einer fünf Entwicklungsbereiche umfassenden „Grundskala“ – emotionale Entwicklung (Em), soziale Entwicklung (So), Denkentwicklung (DE), Sprachproduktion (SpP) und Sprachverständnis (SpV) – und der Ergänzungsskala „Sozio-emotionale Besonderheiten“ (SeB), die schwierige Verhaltensweisen erfasst. Die Erhebungsergebnisse werden anschließend in je einem Schaubild für die Grundskala und die Ergänzungsskala visualisiert.
Das BEP-KI-k ist als Papier-und-Bleistiftverfahren konzipiert. Man kann also die Erhebung und die Umwandlung in das Schaubild manuell mit Stiften durchführen. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, die Einschätzung und Umwandlung computergestützt am Bildschirm zu vollziehen. Letzteres ist zeitsparend und vermeidet mögliche Fehler bei der Umwandlung. Das Schaubild bildet die Grundlage für die Auswertung und Interpretation des Entwicklungsprofils.
Die Besonderheit dieses Verfahrens besteht darin, dass sich die 100 Items der Grundskala gleichmäßig auf den sozio-emotionalen und den kognitiven Bereich verteilen, also der emotionalen mit der sozialen Entwicklung ein genauso starkes Gewicht zukommt wie den kognitiven Fähigkeiten. Diese Schwerpunktsetzung berücksichtigt die Erfahrung, dass die Entfaltung etlicher kognitiver Kompetenzen (z.B. die Denkformen, mit denen die Wirklichkeit erfasst wird) auch von der Ausbildung und Stabilität der Sozio-Emotionalität abhängt. Außerdem verweisen die meisten problematischen Verhaltensweisen auf frühe ungelöste sozio-emotionale Entwicklungsaufgaben.
Die zweite Besonderheit des Verfahrens ist die Befindlichkeitsorientierung. Das bedeutet, dass es die Kompetenzen nicht nur quantitativ erfasst (1: meistens – 2: manchmal – 3: nie), sondern wahlweise auch qualitative Aspekte einbezieht. Dann erhöht sich die Zahl der Einschätzungskriterien auf fünf: 1: meistens – 2a: manchmal, in günstigen Situationen/bei guter emotionaler Verfassung – 2b: manchmal, in normalen Situationen/bei neutraler emotionaler Verfassung – 2c: manchmal, in schwierigen Situationen/bei schlechter emotionaler Verfassung – 3: nie. In die qualitative Erhebung des Verhaltens fließen zwar die subjektiven Wahrnehmungen der befragten Bezugspersonen ein; doch wird dieser Nachteil in Kauf genommen, weil er die Erfahrung abbildet, dass es einen Grund gibt für ein manchmal gezeigtes erwünschtes oder problematisches Verhalten. Dieser liegt oft in den günstigen resp. ungünstigen situativen Umständen oder in der guten bzw. schlechten emotionalen oder körperlichen Verfassung des Einzuschätzenden. Ein Mensch beispielsweise, der Angst hat, kann in der Regel nicht so klar und differenziert denken wie ein angstfreier. Oder gemeinsam mit einer ihn ermutigenden Bezugsperson löst er Aufgaben, die er alleine nicht einmal probieren würde.
Die dritte Besonderheit des Verfahrens ergibt sich aus seiner theoretischen Fundierung, die zu stringenten, auf den Entwicklungsstand bezogenen pädagogischen Interventionen führt. Das BEP-KI-k beruht auf entwicklungspsychologischen Theorien und orientiert sich an dem Konzept der Entwicklungsaufgaben. Die Sozio-Emotionalität bezieht sich im Wesentlichen auf die psychoanalytischen Entwicklungstheorien von Margaret Mahler und Erik Erikson. Im Zentrum des kognitiven Bereichs steht das konstruktivistische Konzept von Jean Piaget. Von diesen Theorien lassen sich methodische Vorgehensweisen ableiten, die dazu dienen, die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit zu unterstützen. Aus der Interpretation des BEP-KI-k-Entwicklungsprofils folgen also unmittelbar sinnvoll erscheinende Interventionen. Langjährige Erfahrungen haben die Richtigkeit dieser Annahmen bestätigt.
Gemeinsam mit den Erzieherinnen wurden für Diana die beiden Skalen erhoben und das Ergebnis in obenstehenden Schaubildern festgehalten. Auf beiden Schaubildern erhält jedes Item ein eigenes Feld in der Altersstufe, in der das Verhalten durchschnittlich zuerst auftritt (Grundskala) bzw. in der schwierige Erfahrungen den Boden für dieses Verhalten gelegt haben (Ergänzungsskala).
Die Häufigkeit und die Auftretensbedingungen des Verhaltens werden jeweils farblich gekennzeichnet. Für die Grundskala gilt: Verhalten, das normalerweise/meistens auftritt = gelb, das manchmal auftritt = lila, das nie auftritt = weiß. Die qualitativen Aspekte, die das Auftreten eines Verhaltens bestimmen, werden grün = gute Situation/emotionale Verfassung und blau = schwierige Situation/emotionale Verfassung gekennzeichnet.
Darüber hinaus gibt es in der Grundskala spezielle Items, die insbesondere im emotionalen und im sozialen Bereich Verhaltensweisen abfragen, die für die Bewältigung zentraler Entwicklungsaufgaben eines Entwicklungsalters besonders wichtig sind, in einem späteren Entwicklungsalter jedoch überwunden werden. Wenn diese Verhaltensweisen (die sog. Übergangskompetenzen) im aktuellen Verhalten auftreten, bedeutet das, dass die mit ihnen verbundene Entwicklungsaufgabe akut ist. In diesem Fall werden die Verhaltensweisen zusätzlich rot markiert. Das farbige Schaubild erhält also alle Informationen des Fragebogens, sodass man ein komplexes Bild gewinnt und anhand des Schaubilds auch jede Antwort rekonstruieren kann.
Auch die Ergänzungsskala, die schwierige Verhaltensweisen erfragt, kann rein quantitativ (meistens = 2 Kästchen linke Hälfte, manchmal = 1 Kästchen linke Hälfte, Farbe orange) oder qualitativ (Verfassung/Situation: normal = gelb, schwierig = blau) erhoben werden. Zusätzlich wird der Intensitätsgrad erfragt. Eine hohe Intensität wird durch die beiden Kästchen der rechten Hälfte und eine geringe Intensität durch lediglich ein Kästchen dargestellt. Welche Erkenntnisse kann der Betrachter nun aus dem Schaubild gewinnen? Die Antwort sei der Interpretation überlassen. Die Schaubilder lassen sich in verschiedenen Komplexitätsgraden interpretieren, je nachdem, wie viel Zeit zur Verfügung steht. Für eine strukturelle Betrachtung benötigt man etwa 30 Minuten und für eine ausführliche inhaltliche Analyse mehrere Stunden. Beide Varianten sollen im Folgenden an Diana verdeutlicht werden.
Interpretation des BEP-KI-k von Diana S.
Strukturelle Interpretation
Diana zeigt in allen Dimensionen einen deutlichen Entwicklungsrückstand. Am weitesten ist das Sprachverständnis vorangeschritten. Hier erreicht sie stabil die Kompetenzen eines Kindes im vierten Lebensjahr. Ihre sprachlichen Äußerungen entsprechen hingegen nur dem Niveau eines zwei- bis dreijährigen Kindes – und der Aspekt der kognitiven Fähigkeiten, der ihre Handlungsplanung und ihr Denkvermögen erfasst, fällt noch weiter zurück. Hier sind nur die Kompetenzen des ersten Lebensjahrs hinreichend stabil ausgebildet. Einige wenige, die dem zweiten und vierten Lebensjahr angehören, werden nur manchmal unter guten Bedingungen gezeigt.
Noch lückenhafter sind die emotionalen und sozialen Verhaltensweisen ausgebildet. Für keine Phase sind alle Items erreicht, und die meisten baby- bzw. kleinkindhaften Verhaltensweisen, die überwunden sein sollten, werden noch regelmäßig oder zumindest in schwierigen Situationen bzw. bei schlechter emotionaler Verfassung gezeigt. Das bedeutet, dass Diana keine einzige sozio-emotionale Entwicklungsaufgabe gemeistert hat. Ihr fehlen mithin das Urvertrauen (erstes Lebensjahr) und die Grundlagen des Selbstwertgefühls (erste Hälfte des zweiten Lebensjahres). Der Bindungs-Autonomie-Konflikt ist akut (zweite Hälfte des zweiten Lebensjahres und erste Hälfte des dritten Lebensjahres), die Grundlagen der emotionalen Konstanz noch nicht erworben. Auch gibt es keine Ansätze der zu ihrer Altersstufe gehörenden Gruppenfähigkeit. Viele der wenigen Kompetenzen sind zudem an gute Bedingungen gebunden (= grün). Allerdings treten einige der problematischen Verhaltensweisen nur unter schwierigen Bedingungen auf.
Von den 33 möglichen schwierigen Verhaltensweisen zeigt Diana immerhin zwölf. Sechs von ihnen häufig und mit hoher Intensität unter normalen Alltagsbedingungen, die übrigen sechs nur manchmal mit geringer Intensität in schwierigen Situationen. Auch ihre problematischen Verhaltensweisen, die sich auf alle Entwicklungsabschnitte verteilen, unterstützen die These, dass sie keine einzige sozio-emotionale Entwicklungsaufgabe gemeistert hat.
Schon allein diese knappe Interpretation macht die Unsicherheit, ob es sich um eine sozio-emotional oder kognitiv bedingte Entwicklungseinschränkung handelt, und den Wunsch nach heilpädagogischer Unterstützung sehr verständlich.
Diese Erkenntnisse benennen wesentliche Aspekte insbesondere der emotionalen und sozialen Entwicklung und geben Hinweise auf eine mögliche in ihr gründende Problematik. Deshalb ermöglichen sie auch schon verlässliche Empfehlungen für die pädagogische Beziehungsgestaltung. Bei Diana ist zu erkennen:
Empfehlungen
Diana benötigt Unterstützung, um Urvertrauen aufbauen zu können. Dazu braucht sie mindestens eine (besser zwei) verlässlich emotional verfügbare Bezugsperson, die sie wohlwollend wahrnimmt und stabil mit ihr im Kontakt steht. Das geschieht am leichtesten durch sehr häufige, kurze Spiegeldialoge, die ein „unsichtbares Band“ knüpfen.
Darüber hinaus helfen ein bis zwei „liebe Gewohnheiten“, die täglich (unabhängig von eventuell vorhandenem Problemverhalten) verlässlich durchgeführt werden, zur Vertrauensbildung und Beziehungsfestigung. Solche „lieben Gewohnheiten“ können in der Kita ein gemeinsames Spiel oder die Erledigung einer Aufgabe (Blumen gießen) sein. Zuhause bietet sich unbedingt ein schönes „Gute-Nacht-Ritual“ an.
Zur Bewältigung des Bindungs-Autonomie-Konfliktes bedarf es einer Bezugsperson, die emotional präsent ist und sowohl die Nähebedürfnisse als auch die Autonomiebestrebungen gleichermaßen respektiert und erfüllt, dabei aber notwendige Regeln liebevoll-konsequent durchsetzt. Derartige Beziehungserfahrungen verhelfen zum Erwerb der emotionalen Konstanz.
Diese kurze Interpretation und die von ihr abgeleiteten pädagogischen Empfehlungen bleiben sehr allgemein und gehen nur auf strukturelle Aspekte der Entwicklung ein. Will man klare Aussagen zu einzelnen Entwicklungsthemen treffen – beispielsweise zur Handlungsplanung, zum Dialogverhalten, zum Perspektivwechsel, zur konkreten Verwendung einzelner Denkformen, zur Affektregulierung, zur konstruktiven Selbstbeschäftigung oder zur Kontaktgestaltung mit Gleichrangigen, zum Norm-und Wertbewusstsein und dergleichen mehr –, so muss man die Iteminhalte in die Interpretation einbeziehen.
Unter einer differenzierten Berücksichtigung der Iteminhalte lassen sich – wie abschließend die folgende Interpretation verdeutlicht – wesentlich differenziertere Aussagen über die Kompetenzen und die Schwierigkeiten treffen, was auch noch genauere pädagogische Empfehlungen ermöglicht. Jedoch verlangt eine differenzierte Interpretation auch einen deutlich höheren zeitlichen Einsatz, der vermutlich nur bei entsprechendem pädagogischen Handlungsbedarf geleistet werden kann.
Inhaltliche Interpretation: emotionale und soziale Entwicklung
Diana zeigt zum Zeitpunkt der Erhebung in allen durch das BEP-KI-k erfassten Dimensionen einen deutlichen Entwicklungsrückstand. Ihre bis zum dritten Lebensjahr vorangeschrittene Sprachproduktion bedeutet, dass sie sich in einfachen Mehrwortsätzen mit starken grammatischen Fehlern verständigt (SpP_6) und in Gesprächssituationen erzählt, was ihr einfällt, ohne ein Gesprächsthema oder den situativen Kontext zu beachten (SpP_4*). Interesse und Zusammenhänge gedanklich zu erfassen, zeigt sie noch nicht, denn sie stellt keine W-Fragen (was, wo, wann, wie, warum) (SpP_7). Die fehlende gedankliche Auseinandersetzung mit der Welt erscheint noch deutlicher in der Denkentwicklung. Diana hat nur die Kompetenzen des ersten Lebensjahres sicher erworben: primäre Kreisreaktion (DE_1), sekundäre Kreisreaktion (DE_2), referenzieller Blickkontakt (DE_3), Objektpermanenz (DE_4) und bei guter emotionaler Verfassung beginnende zweckmäßige Handlungsplanung (DE_5). Doch ist die sensomotorische Intelligenz nicht vollständig abgeschlossen, denn Diana fehlt das zweckfreie Experimentieren (DE_6). Auch gelingt ihr der Gebrauch von im Blickfeld befindlichen Hilfsmitteln nur in guten Situationen (DE_7). Der Übergang zum symbolischen Denken ist ebenfalls nur ansatzweise gemeistert, weil sie nur in guter Verfassung neue gehörte oder gesehene Wörter und Handlungen in das eigene Verhaltensrepertoire übernimmt (DE_10), das gezielte Experimentieren (DE_8) und das ausgeprägte Suchverhalten (DE_9) aber noch fehlen. Gleichwohl kann die Symbolfunktion aufgrund der Sprachentwicklung als erworben gelten.
Alle für das Kindergartenalter typischen Denkformen, die eine Auseinandersetzung mit der Welt erkennen lassen, werden jedoch nicht beobachtet. So enthalten Dianas spärliche Äußerungen keinen Hinweis auf das egozentrische Denken (DE_11*), das Vermischen von Vorstellung und Realität (DE_12*), das animistische Denken (DE_13*) und das analoge Denken (DE_14*). Dass sie diese Kompetenzen wirklich nicht besitzt, ist bei ihrem stabilen, nur um ein Jahr verzögerten Sprachverständnis und der immerhin bis ins dritte Lebensjahr sicher erworbenen Sprechfähigkeit äußerst unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass eine emotionale Problematik verhindert, dass sie ihre Auseinandersetzung mit der Welt in sprachlichen Äußerungen oder in konstruktiven (Spiel-)Handlungen zu erkennen gibt. Anscheinend plant sie vertraute mehrgliedrige Handlungen weder schrittweise (DE_16) noch mit Überblick (DE_17), was jedoch der Beobachtung, dass sie die lebenspraktischen Anforderungen der Kita bewältigt (z.B. selbstständiges Ankleiden, selbstständiger Toilettengang), widerspricht. Auch etwas komplexere Routinetätigkeiten gelingen ihr also.
Im Hinblick auf die emotionale (Em) und soziale (So) Entwicklung wird deutlich, dass Diana an allen Entwicklungsaufgaben der ersten drei Jahre arbeitet. Sie hat noch kein sicheres Vertrauen in die Welt und das Leben aufgebaut, wie es normalerweise im ersten Lebensjahr geschieht. Das zeigt sich darin, dass sie nicht in der Lage ist, eine angenehme Situation entspannt zu genießen (Em_1), normalerweise noch automatisch die emotionale Stimmung der Bezugsperson übernimmt (Em_2*), sich emotional noch nicht selbst beruhigen kann (Em_4*) und ihr nur bei guter emotionaler Verfassung sowohl der emotionalen Gleichklang erzeugende Spiegeldialog (So_1) als auch der Affektabgleich (So_2) gelingen. Geht es ihr emotional schlecht, so zeigt sie schon bei kurzem Alleinsein deutliche Verlassenheitsreaktionen (Em_3*) und gerät leicht in schwer zu beruhigende Erregungszustände mit Kontrollverlust (Em_7*). Ebenso kommt es dann manchmal vor, dass sie wie völlig abwesend wirkt (SeB_1) oder völlig impulsgesteuert handelt (SeB_10).
Der Grund für diese schwierigen Verhaltensweisen ist vermutlich das völlige Fehlen einer Sicherheit spendenden und Vertrauen schenkenden Beziehung. Zwar sucht Diana intensiv danach, indem sie im Kindergarten ständig die Erzieherinnen beansprucht (SeB_3), sich distanzlos jedem nähert (SeB_18) und bei schlechter Befindlichkeit Aufmerksamkeit durch negative Verhaltensweisen einfordert. Gleichzeitig scheint ihr Nähe Angst zu machen, denn sie vermeidet bei schlechter Verfassung den Blickkontakt (SeB_7). Der Beziehungsmangel ist sicherlich auch der Grund für das Fehlen eines Übergangsobjektes (Em_6*), mit dessen Hilfe sie sich selbst emotional etwas stabilisieren könnte.
Das mangelnde Urvertrauen ist eine schlechte Voraussetzung für den Aufbau von Selbstwertgefühl und Leistungsmotivation. Nur bei guter emotionaler Verfassung freut sich Diana an ihrem Körper (Em_8) und ist stolz – allerdings noch ohne Qualitätsanspruch – auf die Ergebnisse ihrer Handlungen (Em_9*). Geht es ihr emotional schlecht, so reagiert sie wütend auf jeden Widerstand oder Misserfolg (Em_12*). Auch scheut sie sich dann, neue Dinge auszuprobieren und beharrt – wahrscheinlich um ein Versagen zu vermeiden – intensiv auf gewohnten Abläufen und Lösungsstrategien (SeB_25). Vermutlich hindert sie auch ihre permanente ständige Unruhe (SeB_ 17) und große Ablenkbarkeit (SeB_ 16) an der konstruktiven Auseinandersetzung mit ihrer Welt. Generell ist sie jedoch bemüht, stets alle Forderungen korrekt zu erfüllen (SeB_27), besitzt also durchaus ein Fehlerbewusstsein.
Die Entwicklungsaufgaben der Trotzphase, ein differenziertes Selbstbild zu gewinnen und ein Gleichgewicht zwischen Nähewünschen und Autonomiebestrebungen zu finden, hat sie noch nicht gemeistert. Somit fehlen ihr die Grundlagen der emotionalen Konstanz. Konkret zeigt sich das folgendermaßen: Bei unausgeglichener Stimmung testet sie die Gültigkeit von Ge- und Verboten (So_8*) – die sie ohnehin nur bei Anwesenheit der Bezugsperson einhält (So_4*) –, vermutlich um die Verlässlichkeit der Bezugsperson zu überprüfen. Zugleich führt ihre ausgeprägte Symbiosebedürftigkeit verbunden mit ihrer Beziehungsunsicherheit dazu, dass sie Trennungen noch unbedingt vermeiden (So_5*) und bei schlechter emotionaler Verfassung unbedingt die Aufmerksamkeit der Bezugsperson bekommen will (SeB_ 20). Günstig ist, dass sie das Angebot, helfen zu dürfen (So_12), stets gerne annimmt. Gleichzeitig ist sie sich ihrer Autonomie keineswegs sicher. Deshalb reagiert sie bei schlechter Verfassung noch mit einer prinzipiellen Verweigerung (Em_11*), äußert keine klaren Geschmacksvorstellungen (Em_13) und besitzt auch noch keine von der Bezugsperson übernommenen, konstruktiven Verhaltensmuster, um eine emotional schwierige Alltagssituationen selbstständig zu meistern (Em_14).
Im Hinblick auf die Frage nach ihren Ängsten lässt sich erkennen: Diana leidet unter Verlassenheitsängsten (Em_3*, So_5*, SeB_3, SeB_19), Ängsten vor unspezifischen Bedrohungen (Em_7*, SeB_7), in geringem Ausmaß vor Strafe und Liebesverlust (SeB_20) und vor Leistungsversagen (SeB_18, SeB_25), wobei die Verlassenheitsängste am stärksten ausgeprägt sind. Diese Ängste sprechen ebenfalls für das fehlende Urvertrauen und die nicht erreichte emotionale Konstanz.
Ihre Aggressionen stützen diesen Befund. Sie alle vermitteln den Eindruck von Verzweiflung (Em_7*, Em_12*) und der Notwendigkeit, ihr Ich zu schützen (Em_11*) oder die emotionale Übereinstimmung zu erzwingen (So_6*).
Die vielen frühen Entwicklungslücken machen es verständlich, dass Diana noch über keinerlei soziale Kompetenzen im Umgang mit Gleichrangigen verfügt.
Mit den Entwicklungsaufgaben der ödipalen Phase (Gruppenfähigkeit, Gewissensentwicklung, Geschlechtsidentität), die ihrem Lebensalter entsprechen, setzt sich Diana noch nicht auseinander.
Empfehlungen auf Basis der Entwicklungsfreundlichen Beziehung
Da Dianas Verhalten noch sehr stark von den Bedingungen in ihrer Umgebung und von ihrer momentanen Verfassung abhängt, ist es vorrangig, für verlässliche äußere Bedingungen zu sorgen. Denn nur, wenn sie sich innerlich und äußerlich sicher fühlt, kann sie ihre Kompetenzen entfalten. Für Dianas Entwicklung ist also ein stabiler äußerer Rahmen, der ihr vertraut ist und dadurch Halt vermittelt, unbedingt erforderlich. Außerdem benötigt sie ein Gegenüber, das sich auf ihre Problematik einstellt und sich ihr im Alltag als feste Bezugsperson zur Verfügung stellt. Das kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass sie ihr zu festen Zeiten am Tag für kurze Zeit ihre volle Aufmerksamkeit schenkt – unabhängig von der emotionalen Verfassung. Auf diese Weise würde Diana erfahren, dass sie wahrgenommen und akzeptiert wird, unabhängig davon wie sie sich verhält. Solche Momente lassen sich leicht in die Alltagsroutine integrieren, z.B. in der Kita bei der Begrüßungs- oder Verabschiedungsrunde. Günstig wäre auch, Diana regelmäßig bei kleinen Alltagsaufgaben – zum Beispiel den Tisch decken, die Blumen gießen… – helfen zu lassen. Die gemeinsame Tätigkeit stabilisiert die Beziehung, kann den Aufbau der Handlungsplanung unterstützen, vermittelt Erfolgserlebnisse und fördert damit zugleich auch das Selbstwertgefühl und die Leistungsmotivation.
Als wertvolle Methode, Kontakt herzustellen und Akzeptanz zu vermitteln, empfiehlt sich das sog. Spiegeln (wohlwollendes verbales oder nonverbales Aufgreifen der von Diana ausgehenden Signale). Mit Hilfe dieser Methode kann jederzeit auch zwischendurch das Bedürfnis nach Nähe befriedigt werden. Langfristig kann so eine emotionale Beruhigung eintreten und die Konzentrationsfähigkeit zunehmen.
Um den Bindungs-Autonomie-Konflikt zu bewältigen und emotionale Konstanz zu erwerben, benötigt Diana ebenfalls die Unterstützung der Bezugsperson. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Beziehung sind auch hier hilfreich. Darüber hinaus sollte sie einen angemessenen Rahmen zur Selbstbestimmung erhalten, zum Beispiel durch einfache Wahlmöglichkeiten beim Helfen und beim Spielen. Ebenso sollte durch Ermutigung und Lob ihre Eigeninitiative unterstützt und durch kleine Gespräche ihre Geschmacksbildung angeregt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die erhöhte Selbstständigkeit nicht zu einer Einbuße an emotionaler Nähe führt. Auf die Einhaltung notwendiger Regeln und Grenzen muss allerdings geachtet werden.
Dianas erst rudimentär ausgeprägtes Interesse an der Welt bedarf der Unterstützung. Dazu benötigt sie vor allem die Sicherheit, dass sie sich auf ihre Umgebung und ihre Bezugspersonen verlassen kann. Des Weiteren braucht sie gezielte Anregungen, sich mit den Phänomenen der Welt auseinanderzusetzen. Dazu hilft gemeinsames Experimentieren, das Staunen über die erzielten Wirkungen und das reflektierende Gespräch.
Wichtig ist außerdem, die Kontaktgestaltung mit den anderen Kindern der Gruppe zu fördern. Hier sollten gezielte Angebote – zunächst nur mit ein bis zwei anderen Kindern – erarbeitet werden. Sinnvoll wären Stunden zur Psychomotorik, die Dianas Bewegungsdrang befriedigen und ihr basale Erfahrungen vermitteln. In diesem kleinen Rahmen werden schöne gemeinsame Erlebnisse für emotionale Entspannung sorgen und den Erwerb von angemessenem Sozialverhalten erleichtern.
Diana hatte Glück. Das Team ihrer Kita nahm den entwicklungsdiagnostischen Befund ernst, und die Erzieherinnen gestalteten daraufhin ihr Beziehungsangebot auf der Grundlage der pädagogischen Empfehlungen. Im Vordergrund stand der Beziehungsaufbau. Konkret: Sie gaben Diana täglich kurze Sequenzen ungeteilter Aufmerksamkeit, nutzten ihre Hilfsbereitschaft für hauswirtschaftliche Tätigkeiten, betrachteten mit ihr regelmäßig Bilderbücher und sprachen über das Geschehene etc. Zusätzlich bekam Diana ein halbes Jahr lang einmal pro Woche eine Einzelstunde bei einer Heilpädagogin. Hier ging es ebenfalls um den Beziehungsaufbau und um die spielerische Förderung der Handlungsplanung. Als die Bindung stabil wirkte, die emotionale Befindlichkeit ausgeglichener und die Impulskontrolle gestärkt war, wurde die Einzelsituation in eine wöchentliche Psychomotorikstunde mit fünf weiteren Kindern umgewandelt. In diesen Gruppenstunden standen die Bewegungsfreude, das Gemeinschaftserleben und der Erwerb der sozialen Kompetenz im Vordergrund. Nach einem Jahr wurde der Erfolg dieser Maßnahmen anhand der Wiederholung der Erhebung mit dem BEP-KI-k überprüft. Das Ergebnis ist eindrucksvoll.
Schon auf den ersten Blick zeigt sich, dass jetzt in guten Situationen alle früheren Entwicklungslücken geschlossen sind und fast alle alterstypischen Fähigkeiten erworben wurden. Allerdings ist ihre Verfügbarkeit extrem abhängig von guten innerpsychischen und situativen Bedingungen. Alle Kompetenzmängel beruhten mithin auf emotional bedingten Entwicklungsblockaden. Von einer Intelligenzminderung kann also keine Rede sein. Damit ist die zur entwicklungsdiagnostischen Überprüfung führende Ausgangsfrage eindeutig beantwortet.
Auch bei den sozio-emotionalen Besonderheiten hat sich einiges verändert: Zwar ist die Anzahl der schwierigen Verhaltensweisen von 12 auf 15 gestiegen, aber von ihnen treten nur noch zwei bei normaler Befindlichkeit auf (vor einem Jahr waren es sechs, jeweils häufig und mit hoher Intensität) und neun nur manchmal bei schlechter Verfassung und in geringer Intensität.
Im Einzelnen bedeuten diese Veränderungen im Hinblick auf die emotionale und soziale Entwicklung:
Die das Urvertrauen kennzeichnenden Verhaltensweisen sind erworben, wenngleich in schwierigen Situationen zumeist noch nicht abrufbar. Doch vermag Diana jetzt in der Regel angenehme Situationen entspannt zu genießen (Em_1) und problemlos kurze Phasen des Alleinseins zu bewältigen (Em_3*), sodass sie Trennungen nicht mehr aktiv verhindern muss (So_5*). Nur noch in schlechter emotionaler Verfassung übernimmt sie die Stimmung der Bezugsperson unmittelbar (Em_2*) und benötigt die einfühlsame Zuwendung der Bezugsperson (Em_4*) oder ein Übergangsobjekt (Em_6*), um sich emotional zu stabilisieren. Geht es ihr emotional schlecht, so braucht sie auch nach wie vor die emotionale Präsenz, um sich sinnvoll zu beschäftigen (Em_5*). Ebenso verfällt sie dann noch in emotionale Verzweiflungsanfälle mit Kontrollverlust (Em_7*, SeB_13) oder erstarrt für kurze Zeit (SeB_1) bzw. verschwindet beziehungslos in einer „Eigenwelt“ (SeB_2). Dann ist sie auch über längere Zeit in einer ausgeprägt negativen Grundstimmung (SeB_5), beschäftigt sich vorübergehend mit stereotypen Bewegungen (SeB_8) und vermeidet nach wie vor den Blickkontakt (SeB_7). Doch scheint sie sich ihrer Beziehung zu den Erzieherinnen inzwischen sicherer zu sein: Sie beansprucht nicht mehr permanent ihre Aufmerksamkeit (SeB_3), sondern sucht sie nur noch manchmal in emotional schwierigen Situationen (SeB_20). Der Spiegeldialog (So_1) gelingt nun regelmäßig, ebenso wie die Affektabstimmung (So_2). In guten Situationen sucht sie inzwischen den Kontakt, um emotional aufzutanken (So_3*). Zugleich tritt ihre Distanzlosigkeit nur noch manchmal in schwierigen Situationen auf (SeB_18). Die Fähigkeit zur konstruktiven Selbstbeschäftigung, die ein Jahr zuvor gar nicht bestand (Em_5*), ist zwar gewachsen, doch gebunden an eine harmonische Grundatmosphäre (SeB_4). Es bleibt also noch etliches zu tun, um das Urvertrauen zu festigen.
Auch die Grundlagen des Selbstwertgefühls sind nun gelegt. Diana genießt jetzt selbstverständlich ihre körperlichen Kompetenzen (Em_8), hat ihre generelle Unruhe überwunden (SeB_17) und beschäftigt sich in ausgeglichener Stimmung bis zu einer halben Stunde konstruktiv allein, wenn die Bezugsperson schnell erreichbar ist. D.h. ihre Konzentrationsfähigkeit ist bei normaler Befindlichkeit gewachsen und bricht nur noch in für sie schwierigen Situationen zusammen (SeB_16).
Dianas Leistungsverhalten ist nach wie vor emotional belastet. Geht es ihr gut, freut sie sich weiterhin unkritisch an jedem Handlungsergebnis (Em_9*). Geht es ihr schlecht, so vermeidet sie, neue Dinge auszuprobieren (SeB_19), gerät bei Misserfolg in Wut (Em_12*) und bei jeglicher Kritik aus dem emotionalen Gleichgewicht (SeB_21). In Spannungszuständen reagiert sie jetzt auch oftmals autoaggressiv (SeB_11), indem sie an den Fingernägeln kaut, bis diese bluten.
Dianas Normverhalten hat sich deutlich verbessert. Befolgte sie ein Jahr zuvor Gebote nur in Anwesenheit der Bezugsperson (So_4*) und reagierte sie auf ihr Fehlverhalten völlig unberührt (Em_15), so benötigt sie die Kontrolle jetzt nur noch bei schlechter emotionaler Befindlichkeit und testet die Gültigkeit der Gebote (So_8*). Geht es ihr gut, so hält sie Gebote selbstständig für eine begrenzte Zeit ein (Em_16) und versucht nach einem Fehlverhalten sofort, die Bezugsperson zu besänftigen – ein deutliches Zeichen, dass ihr eine ungetrübte Beziehung wichtig geworden ist. Auch bemüht sie sich jetzt, Gruppennormen einzuhalten (So_15), woran ein Jahr zuvor nicht zu denken war.
Im Hinblick auf den Bindungs-Autonomie-Konflikt und seine Bewältigung hat Diana ebenfalls Fortschritte gemacht. Die gewachsene Bedeutung der Bezugsperson verbunden mit einer erhöhten Beziehungssicherheit – d.h. auch Beziehungsfähigkeit – wurde schon erwähnt. Parallel dazu wuchs ihre Autonomie. Nach wie vor verweigert sich Diana aus Selbstschutz bei schlechter emotionaler Befindlichkeit (Em_11*). Doch, wenn es ihr gut geht, äußert sie inzwischen klare Geschmacksvorstellungen (Em_13), möchte von sich aus an regelmäßig stattfindenden Kleingruppenangeboten teilnehmen (So_19) und will, wenn es ihr schlecht geht, unbedingt, dass die Bezugsperson ihre Absichten akzeptiert (So_6*). Kompetenzen, die die Integration von Autonomiebestrebungen und sozialer Bezogenheit erfordern, stehen ihr jetzt – vorausgesetzt sie ist emotional ausgeglichen – ebenfalls zur Verfügung. So vermag sie mittlerweile, um Hilfe zu bitten und auf die Erledigung der Bitte zu warten (So_7). Bei Konflikten zwischen ihren Wünschen und den Forderungen der Erzieherinnen kann sie sich nun auf Kompromisse einlassen (So_12). Für sie schwierige Aufgaben versucht sie zunächst allein zu meistern, wenn ihr das jedoch nicht gelingt, bittet sie um Hilfe (Em_17). Ebenso verfügt sie inzwischen über konstruktive Lösungsstrategien, die sie von den Erzieherinnen übernommen hat, um emotional schwierige Situationen selbstständig zu meistern (Em_14). Alle diese Fähigkeiten belegen, dass sie dabei ist, den Bindungs-Autonomie-Konflikt zu bewältigen und emotionale Konstanz aufzubauen.
Damit hat Diana die Voraussetzungen, um die nächste Entwicklungsaufgabe, die Gruppenfähigkeit und das damit verbundene Sozialverhalten zu erwerben. Bei guter emotionaler Befindlichkeit teilt sie jetzt begehrte Dinge (z.B. Spielsachen) bereitwillig mit anderen vertrauten Kindern (So_11) und gestaltet mit ihnen aus eigenem Antrieb Spielsituationen (So_13). Sogar kleinere Konflikte mit ihnen kann sie dann selbstständig befriedigend lösen (So_17) und ihre Affekte angemessen selbstständig regulieren (Em_20). Einfühlungsfähigkeit hat sie ebenfalls entwickelt (So_9). Nur wenn es ihr schlecht geht, benötigt sie noch Hilfe, um zu verstehen, dass andere Kinder etwas anders fühlen und wollen als sie selbst (So_16*). Dann versucht sie mit unsozialen Verhaltensweisen ihren Rangplatz in der Gruppe zu behaupten (So_14*). Geht es ihr gut, verhält sie sich inzwischen manchmal „typisch weiblich“, ein Hinweis darauf, dass die Auseinandersetzung mit der Geschlechtsidentität begonnen hat.
In der kognitiven Entwicklung hat Diana deutlich aufgeholt und zeigt, wenn es ihr gut geht, altersgemäße Kompetenzen.
Die sensomotorische Entwicklung und der Übergang zur Symbolstufe sind inzwischen abgeschlossen, wobei zu bemerken ist, dass Diana bei schlechter emotionaler Befindlichkeit auf primäre (DE_1) und sekundäre (DE_2) Kreisreaktionen zurückgreift (vergleiche auch den Rückgriff auf Stereotypien in schlechter Verfassung SeB_8).
Zweckfrei experimentiert (DE_6) sie nur in guter Verfassung, doch ist das gezielte Experimentierverhalten (DE_8) inzwischen fest in ihrem Kompetenzschatz verankert, ebenso wie die schrittweise (DE_16) und bei vertrauten Abläufen auch die vollständige Handlungsplanung (DE_17). Das Interesse an der Welt hat sich erkennbar herausgebildet. Sie benutzt nun regelmäßig einfache Analogien, um sich Zusammenhänge zu erklären (DE_14*) und stellt, wenn es ihr gut geht, alle üblichen W-Fragen (SpP_7). Dann möchte sie auch Zusammenhänge sachgerecht erklärt bekommen (DE_21). Selbst die Metakognition, um eigene Handlungsstrategien zu begründen (DE_22), kann sie in guten Situationen (bei einfachen Inhalten) anwenden und sich neue Handlungsabläufe nach visueller Vorlage selbstständig erarbeiten (DE_24). Im Hinblick auf die präoperativen Denkformen lässt sich eine deutliche Instabilität erkennen, die darauf verweist, dass sie sich altersgemäß im Übergang vom präoperativen zum logisch-konkreten Denken befindet. Die Denkformen des Kindergartenalters treten nicht mehr regelmäßig auf (so erklären sich die Lücken DE_13*, DE_19*und DE_20*), die logisch konkrete Denkweise ist jedoch noch nicht erreicht. Andererseits verweisen die kognitiven Unsicherheiten auch auf die noch bestehende sozio-emotionale Instabilität. Konkret: Diana ist dabei, das egozentrische Denken zu überwinden und die dazu gehörende Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Einführung zu erwerben. Selbstständig gelingt ihr dieser Schritt noch nicht (So_20). In schlechter emotionaler Verfassung greift sie noch auf egozentrische Verhaltensweisen zurück (DE_11*) und benötigt Hilfestellung, um eine andere Perspektive verstehen zu können (So_16*). Sie scheint nicht mehr animistisch zu denken (DE_13*, DE_19*), ist aber auch nicht in der Lage die Unterscheidung zwischen belebt und unbelebt rational zu vollziehen (DE_26*). Das ist eine Fähigkeit, die normalerweise erst im Grundschulalter erworben wird.
Die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit (also zwischen Fantasie und Tatsachen) gelingt ihr in der Regel nicht (DE_12*). Nur bei guter emotionaler Verfassung vermag sie ihre eigenen Wahrnehmungen – mit Unterstützung – zu reflektieren (DE_18*).
Dianas sprachliche Kompetenzen entsprechen, wenn es ihr gut geht, nun ebenfalls ihrem Alter. Am Sprachverständnis lässt sich gut die gewachsene Konzentrationsfähigkeit ablesen. So erfüllt sie problemlos drei gleichzeitig gegebene voneinander unabhängige Aufträge (SpV_8), hört gern – bei entsprechendem Interesse – längere Geschichten ohne Anschauungsmaterial (SpV_7) und versteht bei guter emotionaler Befindlichkeit auch Gespräche über alle gängigen Alltagsthemen (SpV_9). Dianas Sprechverhalten ist nach wie vor äußerst befindlichkeitsabhängig. Bei guter emotionaler Verfassung gebraucht sie die Umgangssprache korrekt (SpP_12), beherrscht das dialogische Gesprächsverhalten (SpP_13), spricht geordnet und bereitwillig über ihre positiven und negativen Gefühle (SpP_10) und differenziert Qualitäten (SpP_11). Normalerweise ist sie jedoch noch im „Schwarz-Weiß-Denken“ verhaftet (SpP_5*), und wenn es ihr schlecht geht, verfällt sie in egozentrisches Gesprächsverhalten, d.h. erzählt, was ihr einfällt, ohne den Kontext zu berücksichtigen (SpP_4*), und benötigt dann die Steuerung durch eine Bezugsperson (SpP_9*). Manchmal treten auch noch einfache fehlerhafte Mehrwortsätze auf (SpP_6).
Dianas Rückfälle im kognitiven Verhalten sind in ihrem Alter von knapp sechs Jahren als unbedenklich einzustufen. Bedeutsamer sind die Rückfälle im sozio-emotionalen Bereich. Hier zeigen sie, wie gefährdet ihr inneres Gleichgewicht nach wie vor ist. Auch die Tatsache, dass sie 30 von 80 Kompetenzen nur bei guter emotionaler Befindlichkeit bzw. in für sie günstigen Situationen zeigt, verdeutlicht ihre nach wie vor vorhandene emotionale Instabilität.
So eindrucksvoll Dianas Entwicklungsprozess also ist, so darf man doch nicht übersehen, dass ihre fragilen Kompetenzen wieder zusammenbrechen werden, wenn die stabilisierend wirkende Gestaltung der Rahmenbedingungen und die kontinuierlich zugewandte Haltung der Bezugspersonen aufgegeben werden. Mindestens noch während des letzten Kindergartenjahres muss das entwicklungsfreundliche Beziehungsangebot beibehalten werden, damit sich Dianas Persönlichkeit festigen und sie die nächsten anstehenden Entwicklungsschritte vollziehen kann.
Literatur
Auswertungs-CD zum BEP-KI-k (2019): SEDiP Stiftung Schorndorf.
Erikson, E. H. (1980): Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze (6. Auflage). Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Largo, R. H. (2003): Babyjahre. Die frühkindliche Entwicklung aus biologischer Sicht (6. Auflage). München: Piper.
Largo, R. H. (2003): Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung (7. Auflage). München: Piper.
Kaplan, L. (1991): Abschied von der Kindheit. Eine Studie über die Adoleszenz. (2. Auflage). Stuttgart: Klett.
Kaplan, L. (1993): Die zweite Geburt. Die ersten Lebensjahre des Kindes. (7. Auflage). München: Piper.
Mahler, M. S., Pine, F. & Bergman, A. (1994): Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt am Main: Fischer.
Senckel, B. (2004): Wie Kinder sich die Welt erschließen. Persönlichkeitsentwicklung und Bildung im Kindergartenalter. München: C.H.Beck.
Senckel, B. (2010): Du bist ein weiter Baum. Entwicklungschancen für geistig behinderte Menschen durch Beziehung. (4. Auflage). München: C.H.Beck.
Senckel, B. (2015): Mit geistig Behinderten leben und arbeiten. Eine entwicklungspsychologische Einführung. (10. Auflage). München: C.H.Beck.
Senckel, B. & Luxen, U. (2017): Der entwicklungsfreundliche Blick. Entwicklungsdiagnostik bei normal begabten Kindern und Menschen mit Intelligenzminderung. Weinheim. Beltz.
Autorin:
Barbara Senckel, Dr. Dipl.-Psych.
Babara Senckel arbeitet als Psychotherapeutin, Supervisorin und freiberufliche Dozentin. Sie ist Begründerin der „Entwicklungsfreundlichen Beziehung nach Senckel / Luxen“®. Entwicklung des Befindlichkeitsorientierten Entwicklungsprofils für normal begabte Kinder und Menschen mit Intelligenzminderung (BEP-KI)® (gemeinsam mit U. Luxen). Gründung der Stiftung für Entwicklungsfreundliche Diagnostik und Pädagogik (SEDiP) (gemeinsam mit U. Luxen).