Für Sorge
In diesem Beitrag werden Sorge und Verantwortung von und für Menschen aus mehreren Perspektiven beleuchtet, um aufzuzeigen, wie vielgestaltig ihre Bedeutungen für das Leben jedes Menschen sind. Da Verantwortung für Menschen immer mit Sorge um Menschen einhergeht und hingewendete Sorge immer mit ethischer Verantwortlichkeit, müssen diese Begriffe in ihren Beziehungen zueinander beleuchtet werden. Das Anliegen dieses Beitrages ist es, auf die Relevanz von reflektierter Fürsorge auf leiblich-existenzieller, sozial-intersubjektiver und gesellschaftlich-politischer Ebene hinzuweisen.
In meinem Essay „Care und Fragen des guten Lebens(endes)“ gehe ich auf die besonders vulnerable Personengruppe der Menschen mit komplexen Behinderungen in der gegenwärtigen Pandemie ein und ende mit folgendem Satz:
„Was braucht, so lautet die Frage dieser Mensch [mit komplexer Behinderung] in seiner in seiner vulnerablen Situation, um unter den gegebenen Bedingungen ein bestmöglich gutes und würdiges Leben zu leben?“ (Falkenstörfer 2021, 69)
Unter dem Überbegriff der Fürsorge werde ich im Folgenden versuchen den Begriffen Sorge und Verantwortung Gestalt zu verleihen, um mich einer Antwort der im obigen Zitat aufgeworfenen Frage zu nähern. Dazu zeige ich zunächst die Schutzbereiche auf, die sich bei einem konkreten Blick auf die Vulnerabilität des Menschen (ganz grundsätzlich) darstellen; denn ein Blick auf die Schutzbereiche ermöglicht es erst, deutlich zu machen, auf wie vielen Ebenen der Mensch als leibliches Wesen schutzlos ist, wenn er nicht geschützt wird bzw. sich nicht schützen kann. Menschen mit komplexen Behinderungen sind hier die vordergründige Bezugsgruppe, weil sich an ihnen die Relevanz der Thematik überaus deutlich darstellt. Denn dieser Personenkreis kann sich nicht schützen, er ist auf andere angewiesen und insofern zählt er zu den vulnerabelsten Personengruppe der menschlichen Gemeinschaft. Weil diese Menschen ihr Leben in einem Existenz bedrohenden Zustand leben, erachte ich den Aspekt der lebenslangen Angewiesenheit als den elementarsten gemeinsamen Nenner dieses Personenkreises. Folglich verstehe ich Menschen mit komplexen Behinderungen als „Menschen, die aufgrund diverser und komplexer behinderungsbedingter Einschränkungen und sich daraus ergebender Bedarfe lebensbegleitend auf fürsorgliche Unterstützung angewiesen sind“ (Falkenstörfer 2020, 8). Gleichwohl lassen sich die folgenden Überlegungen mehr oder weniger auf alle Menschen, je nach Alter, Situation und Lebenslage, übertragen.
Schutzbereiche
Der Mensch ist aufgrund seiner Leiblichkeit ein gefährdetes und (aktiv) verletzbares wie (passiv) verletzliches Wesen. Er ist deshalb auf umfangreichen Schutz angewiesen. Um diesen Schutz umfassend gewährleisten zu können, müssen zunächst die Schutzbereiche ermittelt werden.
Als ersten Schutzbereich sei auf den mitmenschlichen Schutzbereich verwiesen. Damit ist gemeint, dass jeder Mensch durch andere Menschen (die Familie, das soziale Umfeld und die Gesellschaft) vor z.B. physischer und psychischer Vernachlässigung, Verletzungen und Gewalt, Ausgesetzsein usw. geschützt werden muss. Dieser Schutzbereich stellt die Grundlage für ein sicheres und geborgenes Leben dar. Wie notwendig der medizinische Schutzbereich ist, ist durch die Pandemie seit 2020 überaus deutlich geworden. Es ist der Bereich, der durch die Medizin und Pflege, Impfungen und Medikamente (usw.) vor Schmerzen, Krankheiten, Leid und Tod schützen soll. Der textile Schutzbereich sichert das leibliche Wohlbefinden und das körperliche Überleben durch Kleidung (oder bspw. Sonnenschutz, Zelte usw.) z.B. vor Kälte, Sonne oder Nässe. Da dieser als Schutzhülle um den Körper in den meisten Gebieten dieser Welt nicht ausreichend Schutz bietet, bedarf es darüber hinaus des baulichen Schutzbereiches, der durch Hütten und Häuser vor Wetter und Klima schützen soll.
Ist mit diesen Bereichen nun vor allem der Schutz des Körpers und damit das körperliche Überleben halbwegs sichergestellt, gilt es, weitere notwendige Schutzbereiche zu definieren. So ist der symbolische Schutzbereich zu nennen, durch den vor allem Minoritäten (wie auch Menschen mit sichtbaren bzw. wahrnehmbaren Behinderungen) in sozialen Schutzräumen vor diskriminierenden Zuschreibungen (durch performative Blicke, Praktiken und Sprachhandlungen) bewahrt werden sollen. Überdies gewinnt der Schutzbereich der Privatsphäre und des Datenschutzes gegenwärtig an Bedeutung, der die Wahrung der (im digitalen Zeitalter) zunehmend von Auflösung bedrohten Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem sowie Medialem und Realem sichern möchte. Wesentlich in modernen Gesellschaften ist auch der materielle Schutzbereich durch den Versicherungsschutz oder den Schutz durch sozialstaatliche Leistungen zur Grundsicherung (z.B. menschenwürdiges Existenzminimum, in Deutschland abgeleitet durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz [Bundesamt für Justiz 1949]). Dieser Schutzbereich soll nicht nur vor Besitz- und Statusverlust schützen, sondern vor allem Prekarität und Exklusion verhindern. Von besonders hoher Bedeutung in der gegenwärtigen Gesellschaft, in der hilfebedürftige Mitglieder weitestgehend von Institutionen wie Alten- und Pflegeheimen, Heimen für Behinderte und Hospizen versorgt werden, ist der institutionelle Schutzbereich (der etliche Schutzbereiche vereint). Dieser Schutzbereich soll – neben der Sicherung der Grundbedürfnisse – vor Ausgesetztheit, Verwahrlosung und Gewalt schützen. Damit die Mitglieder in der Gesellschaft durch den Staat umfassend geschützt sind, gibt es den (alle Schutzbereiche umfassenden) gesetzlichen Schutzbereich, der Menschen vor der Willkür anderer Menschen, Institutionen sowie des Staates schützen soll. Dieser Schutz wird durch Gesetze (in Deutschland durch „die Unantastbarkeit der Würde des Menschen“ [Art. 1 Abs. 1 GG], den „Schutz der Wohnung“ [Art. 13 GG] über „das Kindeswohl“ [SGB VII] usw.) abgesichert. Um das „Wohle des Volkes“ zu garantieren und Machtmissbrauch seitens des Staates (wie gegenwärtig z.B. in Polen, Russland oder der Türkei zu beobachten) zu verhindern, gibt es in Demokratien das Prinzip der Gewaltenteilung (legislative, exekutive und judikative Gewalt), die sich gegenseitig kontrollieren und die staatliche Macht begrenzen sollen. Wie komplex, spannungsvoll und zuweilen ambivalent sich das Wohl (z.B. Freiheit des Einzelnen vs. Sicherheit des Volkes) darstellt, erleben wir aktuell in der Debatte um die Einführung einer allgemeinen Covid-19-Impfpflicht. Diese soll das Wohl des Volkes sichern, greift aber massiv in die Privatsphäre und die Freiheit des Einzelnen ein. Als letzter Schutzbereich ist der staatliche Schutzbereich zu nennen, der innen- wie außenpolitisch (von Demokratien ausgehend) für die Wahrung der Menschenrechte steht (vgl. Falkenstörfer und Seitzer 2022).
Umfangreiche Schutzmaßnahmen müssen, so konnte aufgezeigt werden, für ein Überleben hinlänglich und für ein gutes Leben (vgl. Nussbaum 2016) umfassend gesichert sein. Je weniger Menschen für ihren eigenen Schutz eintreten, ihn absichern oder einfordern können, desto mehr sind sie darauf angewiesen, dass andere Menschen und die Gesellschaft diese Aufgabe für sie übernehmen. Das ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, sondern ein – anerkannter oder nicht anerkannter – Anspruch, der von Menschen mit komplexen Behinderungen selbst häufig weder eingefordert noch formuliert werden kann. Dieser lautlose Anspruch muss zunächst als berechtigt anerkannt werden, damit er überhaupt Gehör finden kann. Dieses Sich-angesprochen-Fühlen (das Hören) und das daraufhin verantwortliche Handeln wird zunächst als ethische Verantwortung formuliert.
Ethische Verantwortung
Ethik, so wie sie hier verstanden wird, umfasst nach Schnell „die Arten und Weisen, wie Menschen einander Achtung und Schutz gewähren“ (2008, 15). Er plädiert für eine Ethik, die als nicht exklusiver Schutzbereich gedacht und praktiziert wird. „‚Nichtexklusiv‘ bedeutet, dass eine Ethik niemanden von der Gewährung von Achtung, Schutz und Würde ausschließt“ (ebd.). Menschen (mit komplexen Behinderungen), die nicht die Achtung und den Schutz für sich und andere gewähren können, sind auf Menschen (Gesellschaften) angewiesen, die diese Ethik für sie vertreten, die diese Ethik (für sie und andere) verantworten. Verantwortung in diesem Sinne verweist auf eine Antwort in Form von Arten und Weisen, einander Achtung und Schutz zu gewähren. Mit einem Blick auf die Philosophien finden sich Ideen zu ethischen Antworten (Verantwortung), vor allem bei Hans Jonas, Martin Buber, Emmanuel Levinas und Bernhard Waldenfels. Ihnen allen gemeinsam ist, dass der Begriff Verantwortung ein relationaler Begriff ist.
Sie muss als Beziehung zwischen einem Subjekt oder einem Träger von Verantwortung, einem Objekt oder etwas[,] wofür das Subjekt verantwortlich ist, und einer Instanz von Verantwortung oder jemand, demgegenüber das Subjekt verantwortlich ist, aufgefasst werden. [Hervorhebung im Original] (Werner 2016, 99)
Nun gibt es, je nach Subjekt, Objekt und Instanz – mit Verweis auf die oben aufgeführten Philosophen – unterschiedlichste theoretische und philosophische Gedankengebäude zu diesen der Verantwortung innewohnenden Antwortverhältnissen, die hier nicht ausgeführt werden können. Exemplarisch verwiesen sei aber auf Ursula Stinkes Beitrag „Antwortverhältnisse im Kontext von Komplexer Behinderung“ (Stinkes 2018), in dem sie anhand eines anschaulichen Fallbeispiels aufzeigt, dass sich Antwortverhältnisse in konkreten pädagogischen Situationen in unterschiedliche Verantwortungsbereiche unterteilen lassen, die nach je eigenen Arten und Weisen von Antworten verlangen: 1.) Singulare, unausweichliche Verantwortung, 2.) Pädagogische Verantwortung als Frage nach Anerkennung, 3.) Gesellschaftliche Verantwortung als Frage nach Gerechtigkeit. Es ist also in einem ersten Schritt notwendig, dass Verantwortungsbereiche (Objekte, z.B. Schutzbereiche) und Adressaten (Instanz, hier v. a. Menschen mit komplexen Behinderungen) erkannt werden, um dann entsprechend das Subjekt – den Verantwortungsträger – zu identifizieren. In einem zweiten, sehr viel komplexeren Schritt stellt sich sodann die Frage nach der Ethik, die Frage nach den Arten und Weisen der Antwort(en). Es muss demnach darüber nachgedacht werden, auf wen (Instanz) aus welchem Grund (Objekt) wer (Subjekt) wie (Ethik) antworten sollte.
Reflektierte Fürsorge
Die Ausführungen bis hierher haben uns deutlich gemacht, dass Menschen mit komplexen Behinderungen aufgrund ihrer hohen Abhängigkeit auf umfassenden Schutz durch andere und also auf ethisch verantwortliche handelnde Subjekte angewiesen sind. Diese ethische Verantwortung nenne ich im weiteren Verlauf dieses Beitrages reflektierte Fürsorge, einerseits weil der Begriff Fürsorge die Richtung der Sorge anzeigt (eine Sorge um oder für jemanden; im Gegensatz zur Selbstsorge, der Sorge um das eigene Selbst) und andererseits weil der Sorgebegriff die Art und Weise der Antwort (eine sorgende Antwort) markiert.
Die Relevanz einer reflektierten Fürsorge für Menschen mit komplexen Behinderungen zeige ich anhand von drei Verantwortungsbereichen (Ebenen), entlang ihrer Abhängigkeiten (vgl. Dederich 2011) auf:
Reflektierte Fürsorge auf der leiblich-existenziellen Ebene (1)
Auf dieser Ebene ist die Abhängigkeit des leiblichen und deshalb verletzbaren wie verletzlichen Menschen der zentrale Aspekt. Menschen leben aufgrund ihrer Leiblichkeit gefährdet (vgl. u.a. Butler 2012; Schnell 2017) und sind – wie durch die Schutzbereiche aufgezeigt werden konnte – immer abhängig von anderen Menschen, Gesellschaften, Materiellem, Gesetzen usw. Die Abhängigkeit ist demnach eine conditio humana (eine Bedingung, ein Umstand des Menschseins). Schütz formuliert diesen Zustand bezugnehmend auf den Philosophen Plessner, der die Bedrohung durch den Tod als überaus prägend für das Leben beschrieben hat, sodass „das Leben […] immer bedroht von Angst und Sorge“ (Schütz 1983, 177) ist. Fürsorge (in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen) ermöglicht vor diesem Hintergrund Leben, Sicherheit, Lebensgestaltung und verhindert den Tod. Bezogen auf konkrete Situationen bedeutet das, dass es – mit dem Philosophen Levinas gesprochen – eines Anderen bedarf (eines Fürsorge-Gebenden), der sich des Anderen (Fürsorge-Empfangenden) annimmt, sich um ihn sorgt. Und zwar aus dem Grund, weil er sich der Verletzbarkeit des Menschen (z.B. mit komplexen Behinderungen) nicht nur bewusst ist, sondern diese anerkennt und deshalb eine ethische Verantwortung übernimmt. Relevant ist auf dieser Ebene der reflektierten Fürsorge demnach die Erkenntnis, dass Menschen (mehr oder weniger lebenslang) abhängig sind und des Schutzes bedürfen, weil sie Menschen sind.
Damit stellt dieser Verantwortungsbereich (die leiblich-existenzielle Ebene) gewissermaßen die Grundlage für eine sorgende Grundhaltung für Andere oder auch für ein Menschenrecht auf gute Sorge jedes Menschen dar. Die Anerkennung der Vulnerabilität des Menschen und die daraus folgende sorgende Grundhaltung mit Blick auf den und die Anderen sind Grundbedingungen zur Wahrung der Menschenwürde jedes Menschen in jeder Lebenslage. Menschen mit komplexen Behinderungen sind ihr Leben lang auf fürsorgende Andere angewiesen. Diese fürsorgenden Anderen schützen Menschen mit komplexen Behinderungen nicht nur, sondern geben ihnen auch ihre Würde.
Reflektierte Fürsorge auf der sozial-intersubjektiven Ebene (2)
Menschen mit komplexen Behinderungen leben mit behinderungsspezifischen Beeinträchtigungen (den motorischen, physischen, psychischen, kognitiven, kommunikativen, interaktiven und den perzeptiven Bereich betreffend), weshalb sie ein Leben lang umfänglich auf Unterstützung und Hilfe, auf konkrete Fürsorge und Versorgung sowie auf Institutionen und unterstützende Strukturen (z.B. Assistenz) angewiesen sind. Andere Menschen bedürfen hingegen nur temporär (z.B. als Säugling, im Alter oder bei Krankheiten) besonderer Unterstützung (vgl. Falkenstörfer 2020, 287). Für Menschen mit komplexen Behinderungen kann demnach die Notwendigkeit einer lebenslangen und lebensbegleitenden, lebenserhaltenden sowie (über-)lebensnotwendigen sorgenden Zuwendung festgestellt werden.
Es muss nun darüber nachgedacht werden, wie auf Menschen (Instanz) aufgrund ihrer Leiblichkeit und der daraus resultierenden Vulnerabilität (Objekt) der Andere (Subjekt – damit ist der Einzelne, aber auch die Gesellschaft gemeint) reflektiert fürsorglich (Ethik) antworten könnte.
Wie diese notwendige Fürsorge gestaltet werden kann, damit beschäftigt sich in der Wissenschaft die Care-Ethik (z.B. Noddings, Leininger, Gilligan, Benner, Tronto, Conradi usw.), die Medizinethik (z.B. Schnell und Maio) und Vertreter ethischer Aspekte in der Heil-, Behinderten- und Sonderpädagogik (z.B. Dederich und Stinkes).
Auf der sozial-intersubjektiven Ebene einer reflektierten Fürsorge treten nach intensiver Beschäftigung mit der Idee einer reflektierten Fürsorge in Fürsorgebeziehungen der Beziehungsaspekt (a), die asymmetrische Beziehung (b), das wahre Interesse (c), das Verstehen (d), die Anteilnahme (e), die Verantwortlichkeit (f), die Kompetenz (g), die Achtung der Würde (h), das Wohlergehen (i) und die Freiheit (j) besonders hervor. Die Fürsorge-Gebenden haben die (ethische) Verantwortung, eine sinnstiftende Beziehung anzubieten, die ein Selbstsein des Fürsorge-Empfangenden ermöglicht. Dabei gilt zu beachten, dass Fürsorge-Beziehungen immer asymmetrische Beziehungen sind (es herrscht in Fürsorgebeziehungen immer ein ungleiches Machtverhältnis – der eine gibt, der andere empfängt), weshalb das fürsorgliche Handeln vor dem Hintergrund der immer drohenden Gefahr des Machtmissbrauches stets einer ethischen Reflexion bedarf. Damit es trotz ungleichen Machtverhältnisses nicht zu paternalistischer Bevormundung kommen kann, ist ein wahres Interesse an dem fürsorgeempfangenden Anderen die Voraussetzung. Wer bist Du und was brauchst Du? Wie kann ich Dich unterstützen? Was kann ich Dir ermöglichen? Dies sind nur einige der Fragen, die mit einem wahren Interesse einhergehen. Damit Verantwortung übernommen und Schutz gewährleistet werden kann, bedarf es seitens des fürsorgegebenden Anderen überdies einer umfangreichen und fachlich fundierten Kompetenz (den motorischen, physischen, psychischen, kognitiven, kommunikativen, interaktiven und perzeptiven Bereich betreffend). Gleichwohl darf bei allen fürsorglichen Handlungen (wenn es um Förderung, Lagerung, Nahrungsgabe usw. geht) die Achtung der Würde des jeweiligen Fürsorge-Empfangenden nie aus dem Blick geraten.
Das Ziel einer reflektierten Fürsorge in Fürsorge-Beziehungen (also auf der sozial-intersubjektiven Ebene) ist sowohl das Wohlergehen (vgl. Schnabl 2005, 443) des Menschen (mit komplexen Behinderungen) als auch dessen Freiheit (vgl. Benner 2017, 30). Dabei wird davon ausgegangen, dass Wohlergehen und subjektive Freiheit die Grundlagen für ein gutes Leben darstellen.
Exkurs: Das gute Leben
Was ist, so kann an dieser Stelle gefragt werden, mit gutem Leben gemeint? Dieser Ausdruck verweist auf die Philosophin Martha Nussbaum, die einen (nicht abgeschlossenen) allgemeingültigen Katalog zentraler menschlicher Fähigkeiten (Capability Approach) ausgearbeitet hat, um aufzuzeigen, was ein Mensch braucht, um ein der Menschenwürde entsprechendes Leben leben zu können (vgl. Nussbaum 2016, 114).
Als Bedingung zählt sie folgende Fähigkeiten auf:
Leben: die Fähigkeit, ein menschliches und lebenswertes Leben zu leben.
Körperliche Gesundheit: die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein.
Körperliche Integrität: die Fähigkeit, sich frei und sicher zu bewegen, keinen körperlichen Übergriffen ausgesetzt zu sein und körperlichen Bedürfnissen nachkommen zu können.
Sinne, Vorstellungskraft und Denken: die Fähigkeit, die Sinne zu nutzen und frei zu denken, inklusive des Zugangs zu Bildung und Weltwissen.
Gefühle: die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und zu Personen aufzubauen.
Praktische Vernunft: die Fähigkeit, sich selbst Meinungen zu bilden.
Zugehörigkeit: die Fähigkeit, miteinander und in Anteilnahme zu leben und als Wesen mit Würde behandelt zu werden, dessen Wert dem anderen gleich ist.
Andere Spezies: die Fähigkeit, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben.
Spiel: die Fähigkeit zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen.
Kontrolle über die eigene Umwelt: die Fähigkeit, die eigene Umwelt sowohl politisch als auch inhaltlich mitzugestalten (vgl. Nussbaum 2016, 112 ff.)
Sowohl die oben aufgeführten Schutzbereiche als auch der Fähigkeitenkatalog verweisen auf die gesellschaftlich-politische Dimension einer reflektierten Fürsorge. Denn: Achtung und Schutz für Menschen in hohen Abhängigkeitsverhältnissen zu gewährleisten ist nur dann sicherzustellen, wenn auch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in solcherlei Überlegungen mit einbezogen werden.
Reflektierte Fürsorge auf der gesellschaftlich-politischen Ebene (3)
Die hohe Abhängigkeit von Menschen mit komplexen Behinderungen von Institutionen und politischen wie gesetzlich unterstützenden Rahmenbedingungen ist nun ebenso offensichtlich geworden wie die Tatsache, dass diese in der Regel nicht für sich einstehen können, d. h., sie sind „ohn-mächtig sozial wie gesellschaftlich abhängig und oft absolut ausgeliefert“ (Falkenstörfer 2020, 295). Es ist daher bedeutsam, dass nicht nur pädagogische, pflegerische, familiäre und andere Fürsorge-Gebende in Fürsorgebeziehungen reflektiert fürsorgend handeln, sondern vor allem auch, dass (sozial-)politische Akteursgruppen, wie Stellvertreterverbände, Politiker, Wissenschaftler usw., für eine Gesellschaft der ethischen Sorge für alle Menschen verantwortlich zeichnen (s. dazu auch die Aktion Care.Macht.Mehr).
Auf dieser dritten Ebene sind demnach die positiven wie negativen Folgen der gesellschaftlichen wie sozialen Abhängigkeit von Menschen mit komplexen Behinderungen in den Blick zu nehmen. Wie vielgestaltig dieses Vorhaben ist, zeigt das folgende Schaubild, in dem Dimensionen (ohne diese hier näher auszuführen) aufgezeigt werden, die bei der Konzeption eines umfassenden Fürsorge-Konzeptes auf der gesellschaftlich-politischen Ebene Beachtung finden müssen:
Die Fürsorge als soziale und gesellschatliche Praxis beinhaltet die Dimension
… der Gerechtigkeit
… des gesellschafltichen Umgangs mit Verletzbarkeit, Abhängigkeit und Fürsorge
… der gesellschaftlichen Verantwortung und des Sorgetragens als Aufgabe einer demokratischen Gesellschaft
… des Politischen
… des Vorrangs der Fürsorge
… der Macht
… der Gewalt
… der Anerkennung
… der Freiheit
… der Gleichheit
… der Autonomie und Selbstbestimmung
… der Fremdbestimmung
Die hier aufgeführten Dimensionen bilden ausformuliert die Bezugstheorien der reflektierten Fürsorge. Auf der Basis dieses theoretischen Fundaments lassen sich sodann die Ziele einer reflektierten Fürsorge, die der reflektierten Fürsorge inhärenten Haltungen, Ideen der Beziehungsgestaltung von Fürsorgebeziehungen sowie sozialpolitische und gesellschaftliche Forderungen umfassend beschreiben und einfordern.
Das Anliegen dieses Beitrages war es – vor allem für den Personenkreis der Menschen mit komplexen Behinderungen, aber nicht nur für diesen –, aufzuzeigen, dass nicht paternalistische, sondern ermöglichende und also reflektierte Fürsorge für viele Menschen wirklich die Voraussetzung für ein gutes Leben ist.
Literatur
Benner, P. (2017): Stufen zur Pflegekompetenz: Hogrefe.
Bundesamt für Justiz. (1949): Grundgesetz für die Bundesrepublik. (GG). https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html#BJNR000010949BJNG000100314.
Butler, J. (2012): Gefährdetes Leben. Politische Essays (Edition Suhrkamp, Bd. 2393, 4. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Dederich, M. (2011): Abhängigkeit, Macht und Gewalt in asymmetrischen Beziehungen. In: Dederich M. (Hrsg.): Herausforderungen. Mit schwerer Behinderung leben; eine Veröffentlichung des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) (2., unveränd. Aufl.). Frankfurt am Main: Mabuse-Verl., 139–152.
Falkenstörfer, S. (2020): Zur Relevanz der Fürsorge in Geschichte und Gegenwart. Eine Analyse im Kontext komplexer Behinderungen (1. Auflage 2020). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH; Springer VS.
Falkenstörfer, S. (2021): Care und Fragen des guten Lebens(endes). Menschen 44 (1), 65–69.
Falkenstörfer, S. & Seitzer, P. (2022): Schutzlosigkeit. In: Dederich M. & Zirfas J. (Hrsg.): Glossar der Vulnerabilität. [Im Druck]. Springer Fachmedien Wiesbaden.
Nussbaum, M. C. (2016): Gerechtigkeit oder Das gute Leben (Gender studies, 1739 = Neue Folge, Band 739, Deutsche Erstausgabe, 9. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Schnabl, C. (2005): Gerecht sorgen. Grundlagen einer sozialethischen Theorie der Fürsorge (Studien zur theologischen Ethik, Bd. 109). Freiburg, Schweiz: Academic Press Fribourg; Herder.
Schnell, M. W. (2008): Ethik als Schutzbereich. Kurzlehrbuch für Pflege, Medizin und Philosophie (Pflegeethik, 1. Aufl.). Bern: Huber.
Schnell, M. W. (2017): Ethik im Zeichen vulnerabler Personen. Leiblichkeit – Endlichkeit – Nichtexklusivität (Erste Auflage). Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Schütz, E. (1983): Helmuth Plessners Anthropologie in pädagogischer Perspektive. Vorlesung. Universität zu Köln. https://www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/de/allgemeine/egon-schuetz-archiv/verzeichnis-der-unveroeffentlichten-schriften/39.
Stinkes, U. (2018): Antwortverhältnisse im Kontext Komplexer Behinderung. In: Lelgemann R. & Müller J. (Hrsg.): Menschliche Fähigkeiten und komplexe Behinderungen. Philosophie und Sonderpädagogik im Gespräch mit Martha Nussbaum. Darmstadt: wbg Academic, 145–168.
Werner, M. H. (2016): Die Unmittelbarkeit der Begegnung und die Gefahr der Dichotomie: Buber, Levinas und Jonas über Verantwortung. In: Henkel A., Karle I., Lindemann G. & Werner M. (Hrsg.): Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologische Perspektiven. Baden-Baden: Nomos, 99–133.
Autorin:
Sophia Falkenstörfer, Prof.in Dr.in
Sie ist Professorin für Heilpädagogik/Inclusive Education an der Katholischen Hochschule Freiburg.
Zunächst arbeitete sie als Sonderpädagogin in Schulen und ist seit 2007 an unterschiedlichen Universitäten und Hochschulen tätig. Ihr Fokus war in der Praxis und ist in Wissenschaft und Lehre v.a. auf den Personenkreis der Menschen mit geistiger und komplexen Behinderung(en) gerichtet.
Zu ihren (Forschungs-)Schwerpunkten gehören u.a. ethische Fragestellungen, das Lernen als bildende Erfahrung (Phänomenologie), das Thema Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung, die digitale Bildung dieses Personenkreises sowie historische und gegenwärtige Fragen der Heil-, Behinderten- und Sonderpädagogik.
Sophia.Falkenstoerfer@kh-freiburg.de