Reale Nöte und coole Helden
Der fünfte Teil der MENSCHEN.-Serie zu 120 Jahren Behindertenbildern in der Kinder- und Jugendliteratur nennt Beispiele für sich zaghaft verändernde Blickweisen seit den Siebzigerjahren. Die Serie wird im nächsten Menschen.-Heft mit Anmerkungen zu Büchern und Erzählungen aus der „sozialistischen“ DDR ergänzt.
Antiautoritäre Erziehung, den Kindern eine Stimme geben, Probleme benennen, statt zu beschönigen – diese Ansätze bewirkten in den 1970er-Jahren so etwas wie eine Aufbruchsstimmung in der Kinder-und Jugendliteratur. Der Schriftsteller Peter Härtling (1933–2017) wandte sich Kinderbüchern zu, um die eigene Welt der Kinder mit ihren Konflikten zu beschreiben. Mit diesem Vorsatz erzählte Härtling die Geschichte von Hirbel. Einfühlsam näherte sich der Schriftsteller dem Innenleben eines geistig behinderten Jungen, beschrieb dessen Wunsch nach Geborgenheit und ehrlicher Zuneigung. Die Sympathie gehört der behinderten Hauptfigur der Erzählung, dagegen steht die Rigidität der Fürsorge. Hirbel gab es wirklich, Härtlings Frau hatte den Jungen in einem Kinderheim kennengelernt.
Macht der Fürsorge
Der neunjährige Hirbel hat einen zarten Körper und einen großen Kopf mit wirren Haaren. Manchmal bekommt er Wutanfälle und macht Dinge, die niemand versteht. Es heißt, er sei geistig behindert. Hirbel wohnt in einem Heim am Stadtrand. Sein Vater ist verschwunden, seine Mutter besucht ihn nur alle paar Monate. Auch deshalb sitzt er am liebsten im Schrank oder hoch oben im Apfelbaum und singt mit einer schönen hellen Stimme. Aber Hirbel spricht wenig. Denn sagte er etwas, lautete die Antwort seiner Pflegeeltern: dummes Zeug. Daher beschloss Hirbel, kaum zu reden, und alles, was er zu hören bekam, für dummes Zeug zu halten. Auch gegenüber der einfühlsamen jungen Betreuerin hält er sich zurück. Zu oft hat er das Gefühl der Zuwendung als oberflächliche berufliche Geste erlebt. Am meisten fürchtet er sich vor dem Mitarbeiter im Jugendamt. Der behauptet zwar, für den Jungen zu sorgen, aber in Wirklichkeit wurde es mit jeder neuen Unterbringung schlimmer. Der Mann von der Behörde benahm sich wie ein Gepäckträger, der die Koffer mal hier und mal dort abstellte. Und Hirbel war das Gepäck. Viele Erwachsene sagen ihm, er sei böse, nur wenige meinen, er sei gut. Hirbel ist das inzwischen egal. Eines Tages läuft er fort. Die Polizei bringt ihn zurück. Der Heimarzt und der Fürsorger warten bereits mit ernsten Gesichtern. Sie schicken den Wegläufer in eine geschlossene Klinik. Damit verliert sich die Spur von Hirbel. Er gerät in Vergessenheit.
Authentische Erzählungen
In den Achtzigerjahren meldeten sich vermehrt behinderte Personen zu Wort, die ihre private Lage und gesellschaftliche Situation beschrieben und analysierten. Dies schlug sich zunächst im Sachbuchsektor nieder, hinterließ aber auch in der Kinder- und Jugendliteratur Spuren. Eigene Erfahrungen bildeten die Grundlage der Veröffentlichungen. Der Psychologe Wolfgang Neumann-Skara (Jahrgang 1944) schrieb mehrere Lyrik- und Prosabände, bevor er sich an das Kinderbuch „Paul und Rita“ machte. Genau wie der Autor seit seinem Jugendalter ist die Hauptfigur Paul querschnittgelähmt. Das Buch verzichtet auf tragische Töne, schildert stattdessen mit Witz den Alltag eines Jungen im Rollstuhl. Die Geschichte spiegelt das neue Selbstbewusstsein behinderter Menschen trotz aller Hindernisse wider. Mitleid ist nicht mehr gefragt. Nicht die gelähmten Beine machen die Behinderung aus, sondern die Stufen oder zu engen Türen und Wege. Und gegen diese Mängel lässt sich etwas unternehmen:
Zwei Zivildienstleistende vom Fahrdienst tragen Paul die Haustreppe herunter und die Stufen zum Klassenraum des Gymnasiums wieder hoch. Es „gab schon lange keine Volksaufläufe mehr, wenn Paul im Rollstuhl“ kam. Er „war jetzt lange genug in der Schule, die meisten Schüler waren an den Anblick gewöhnt. Er war eben Paul und damit hatte es sich.“ Was ihn nervt: Er muss auf die Lehrertoilette, weil die für Schüler im Keller ist, und während der Sportstunde soll er im Klassenzimmer bleiben. Dieses Gebot umgeht er mit einem Trick, um mit seiner Mitschülerin Rita, seiner heimlichen Liebe, schnell mal zur Eisdiele zu flitzen. Doch die Bordsteine hoch- und runterzufahren, zudem das hoppelnde Kopfsteinpflaster und die Straßenbahnschiene, in der sich das Rolli-Vorderrad gefährlich verklemmte, erweisen sich als abenteuerlich anstrengend. Beim Eis schüttet Paul sein Herz aus: Ich „sitze im Rollstuhl, klar, aber müssen die Leute deshalb denken, ich wäre plemplem oder immer traurig“? Über dem Reden verstreicht die Zeit, Paul und Rita beschließen, weiter durch die Stadt zu ziehen. Sie nehmen sich vor, den „fetten Hintern“ im Bauamt einen Tritt zu geben, damit sie die Stadt endlich barrierefrei gestalten. Im Park beim Blick in die Wolken gibt Rita Paul einen Kuss. Am nächsten Tag fragt ein neugieriger Mitschüler, ob sie mit Paul gehe. „Klar!“, antwortet sie.
Auch im Bilderbuch bekommen behinderte Kinder einen Namen und ein Gesicht, obwohl manche Klischees überdauern. Immerhin zeigt die Geschichte von Lukas, dass die Reaktionen der Umwelt auf seine Anwesenheit das Problem sind.
Lukas kann sich über „eine kleine, gelbe Blume am Straßenrand“ freuen. Oder über die knallroten Tomaten im Gemüseladen. Die kann Lukas fünf Minuten lang lächelnd anstarren. Und wenn sein Bruder Tord Lust hat, Fußball zu spielen, holt Lukas sofort den Ball, obwohl seine Arme und Beine nicht immer genau das machen, was er will. Deshalb wollen die anderen Kinder ihn beim Spiel nicht dabeihaben: „Solche Blödis können wir nicht brauchen.“ Ein Junge zieht eine Grimasse mit Schlitzaugen: „Ist euer Papa ein Chinese?“, und alle kichern. Einer brüllt: „Dein blöder Bruder ist einfach anders. Der ist nicht wie wir!“ Tord muss schlucken, sein Bruder ist ja tatsächlich nicht wie ein anderes Kind. Da sagt Lukas ganz leise, aber deutlich: „Lukas ist wie Lukas.“ Und jetzt begreift Tord, was er antworten kann: „Ganz genau!“, sagt er, „Lukas ist wie Lukas. Und das ist gut so!“ Mit diesen Worten „dreht er sich mit Lukas an der Hand um und lässt die anderen mit erstaunten Gesichtern einfach stehen“.
Fast sechzig Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes erscheint mit „Anton“ ein Buch, das sich für Kinder und Jugendliche mit der „Euthanasie“ befasst. Die Schriftstellerin Elisabeth Zöller (geb. 1945) schreibt über ihren Onkel, ein behindertes Kind, das nur mit Glück und dank der Liebe seiner Eltern überlebte. Die reale Geschichte wird sensibel und häufig aus der Sicht des Kindes erzählt. Anton überlebt bei Verwandten auf dem Land, weil diese einen Arzt mit einem Gänsebraten bestechen. Der ausgestellte Totenschein bewahrt Anton vor weiteren behördlichen Nachforschungen.
Schräge Typen
Eine locker-flockige, betont flapsige Sprache, die manchmal an Schulhofhumor erinnert, prägt das Buch von Andreas Hüging. Da ist die Rede von dem Watschelgang eines Spastikers und der Gedanke an einen Wackeldackel, als behinderte Kinder – auf dem Rücken liegend und um Sicht bemüht – den Kopf nach links und rechts drehen. Gleichzeitig überlegt sich die Hauptfigur Jem oft, ob es seinem Vater „nicht insgeheim peinlich ist, dass ich nicht richtig funktioniere. Er hätte sicher lieber einen Jungen gewünscht, der genauso stark, sportlich und erfolgreich ist wie er.“ Aber Jem ist der „Schwächling, den er nicht mal mit in den Urlaub nimmt“. Die Protagonisten der Geschichte sind drei Jugendliche:
Jem hat eine Lunge, die bei jeder Anstrengung auf Rot schaltet, weil sie dann „so platt wie ein überfahrener Fußball“ ist; Flo flitzt mit bunt gegelter Punkfrisur in ihrem superschnellen Sportrolli durch die Gegend; Bernd, den alle heimlich Spasti nennen, ist so etwas wie ein genialer Professor. Alle drei Kinder treffen sich im Kurheim „Horizont“, gelegen auf einer einsamen Nordseeinsel. Als plötzlich ein Hai auftaucht, verändert dies den öden Heimalltag schlagartig. Die drei machen sich auf den Weg zur nahen Küste. Eine „Gruppe Touristen spaziert am Strand entlang. Sie gaffen uns an, und einer zeigt sogar auf uns. ‚Idiot!‘, ruft Flo und macht den Finger.“ Jem, Flo und Bernd haben derweil in einem verlassenen Schuppen die motorgetriebene, aber defekte Attrappe eines weißen Hais entdeckt. Während eines Festes des Investors, der die Insel mit einer Hotelanlage verschandeln will, beschließen sie den Hai auslaufen zu lassen. Er soll mit einem uralten Kutter kollidieren, woraufhin der eingeweihte, ebenfalls behinderte Skipper spurlos verschwindet. Bernd, wegen seines Technikspleens oft belächelt, übernimmt die Reparatur und steuert das Gefährt. Die Schrecken verbreitende Finte gelingt, die geladenen Gäste sind entsetzt, das Kurheim ist gerettet. Jem staunt: „Hätte nie gedacht, dass Bernd mit seinen krummen Griffeln so geschickt ist.“ Der „Spasti ist doch echt ’ne coole Sau, oder Flo?“ „Und ein Held“, bestätigt diese.
Literaturhinweise:
Härtling, P. (1973): Das war der Hirbel, Beltz Verlag, Weinheim/Basel
Hüging, A. (2016): Jem hört die Haie husten, Ueberreuter Verlag, Berlin
Neumann-Skara, W. (1986): Paul und Rita. Illustrationen von Luitbert von Haebler, Verlag Kronenklauer, Bielefeld
Szesny, S. & Mueller, D. (2006): Lukas ist wie Lukas, Ravensburger Buchverlag, Ravensburg, Bilderbuch o. Sz.
Zöller, E. (2004): Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens, Fischer Verlag, Frankfurt a. M.