Arme Mongolen oder "Beim Kasanwirt"
„Der Raum nördlich der Donau war durch Jahrhunderte ein wild umstrittenes Gebiet. 1155–1227 hausten hier – über Russland, Polen und Mähren kommend – mongolische und tatarische Reiterheere unter Dschingis Khan.“
Herr Groll trainierte auf der Begleitstraße der Weinviertel-Autobahn und erinnerte sich an einen viele Jahre zurückliegenden Besuch beim Kasanwirt an der Brünnerstraße zwischen Wolkersdorf und Bad Pirawarth. Nach dem Studium der Speisekarte, der ein historischer Abriss vorangestellt war, staunte Groll, wie viel Unsinn in so wenig Zeilen gepackt werden konnte. Zwar stimmt es, dass die Mongolen auf dem Weg nach Westen auch durch diese Gegend gekommen waren, es gibt aber keine Belege, dass sie schlimmer gehaust hätten als die ortsansässige Bevölkerung. In Wahrheit dürfte es umgekehrt gewesen sein. Zuverlässigen Quellen zufolge wird in der äußeren Mongolei noch heute die Katastrophe vom Weinviertel beschworen, als die mongolischen Reiterheere dem sauren Brünnerstraßler zum Opfer fielen und dadurch die Wucht des mongolischen Vorstoßes gegen Westen so sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde, dass Dschingis Khan Befehl gab, das Gebiet und seine barbarische Urbevölkerung fluchtartig zu verlassen. Stellt man weiters in Rechnung, dass nur rund fünf Prozent der mongolischen Reiter auch tatsächlich mongolischer Abkunft waren und die übergroße Mehrheit des sogenannten Mongolenheeres sich aus Vasallen – Griechen, Aromunen, Nachfolgern der Skythen, Grusiniern, Bulgaren, Walachen, Rumänen, Moldawiern, Serben und vielen anderen Stämmen und Völkern – rekrutierte, so wird man die Dinge aus einem anderen, objektiven Blickwinkel betrachten. Aus den Aufzeichnungen des verdienten mongolischen Geschichtsschreibers Noos-us-Pekt geht hervor, dass die Hilfstruppen Dschingis Khans durch zwei wesentliche Momente miteinander verbunden waren: die Aussicht auf reiche Beute unter dem Kommando der mongolischen Offiziere und die Liebe zum schweren, fachmännisch gekelterten Rotwein. Das Weinviertel mit seinem zehn Monate währenden Winter musste auf die Wärme gewohnten Eroberer wie eine geografische und menschliche Eiseshölle gewirkt haben. Auch der zähe und gewalttätige Menschenschlag mag das Seine zur Abschreckung beigetragen haben. Nicht zufällig rekrutierte sich im 19. Jahrhundert ein Großteil der Wiener Polizei aus Mistelbach; bei Nestroy wird der Ausdruck „Mistelbacher“ überhaupt als Synonym für Prügelpolizisten verwendet. Fügt man zu alldem noch die zu jener Zeit häufigen Naturkatastrophen hinzu – z. B. die häufigen Vulkanausbrüche in Staatz und Bockfließ, die Überschwemmungen der Gebirgsflüsse Pulkau, Stempfelbach und Rußbach, die große Landstriche verwüsteten, – so wird die prekäre Lage der Mongolen verständlich. Vollends unhaltbar wurden ihre Eroberungen, als es infolge entsetzlicher Dürren bei Ziersdorf zur Bildung von berghohen Dünen kam, die später ins Marchfeld weiter wanderten, wo sie als Wanderdünen bekannt waren und die wenigen noch vorhandenen fruchtbaren Böden auslöschten. Und als Apotheose der Unbill gesellte sich zu alldem noch der saure Wein.
Wie müssen die Soldaten unter dem sauren Brünnerstraßler gelitten haben, dachte Groll. Es lag für ihn auf der Hand, wodurch die sogenannte Mongolengefahr abgewendet wurde. Es gibt im Weinviertel viele Weinhauer, aber wenige Historiker und auch die weisen in der unmittelbaren Verwandtschaft Weinhauer auf. Man muss, um der historischen Wahrheit die Ehre zu geben, unbedingt davon ausgehen, dass im Weinviertel die Geschichtswissenschaft eine Unterwissenschaft der Önologie, der Wissenschaft vom Weinbau, ist. Nur wer diese Erkenntnis beherzigt, ist imstande, historische Quellen vom Schlage der Speisekarte des Kasanwirts richtig zu lesen. Dieser Erkenntnis teilhaftig geworden zu sein, sein Gemüt dafür rechtzeitig gewappnet zu haben und sich solcherart der unverrückaren geschichtlichen Wirklichkeit gestellt zu haben – das fand Groll schon einen guten Schluck wert. Er bestellte ein Glas Cabernet-Sauvignon aus Chalchin-Gol, einer berühmten Weingegend in der Mongolei. Dazu orderte er Erdnüsse auf einer flachen Schüssel, laut Speisekarte auf Mongolisch „Kasan“ genannt. Im Pizzaofen brannten die Holzscheite und aus dem Schankraum drang tschechisches und polnisches Stimmengewirr. Im Extrazimmer saß Groll über der Speisekarte und sann darüber nach, was aus dem Weinviertel hätte werden können, wenn die Mongolen bessere Lebensbedingungen vorgefunden hätten.