Beschreibung

Bild: „schmerzerfüllt“

Foto: © Monika Bohn
aus Heft 1/2022 – Schmerz
Monika Bohn

Du trägst diesen unsichtbaren Schmerz - doch wer trägt Dich?

Es ist wichtig, dem Thema Schmerz, im Besonderen in der Arbeit mit Menschen mit (komplexen) Behinderungen und in pädagogischen Settings, mehr Beachtung zu schenken. Viel zu lange wurde der Körper und der Schmerz dabei ausgeklammert (vgl. Dederich 2009a). Daher ist es nun an der Zeit, den Schmerz wieder mitzudenken und ein sensibleres Bewusstsein gegenüber dem betroffenen Personenkreis zu entwickeln.

Was ist Schmerz?

Nahezu jeder Mensch hat in seinem bisherigen Leben bereits schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Schmerz wird als „eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung verbunden ist oder dieser ähnelt“ beschrieben (International Association for the Study of Pain 2020). Schmerz kann dabei in akuten und chronischen Schmerz unterteilt werden. Mit akutem Schmerz wird derjenige Schmerz gemeint, der entweder direkt nach einem akuten Ereignis, beispielsweise nach einer Überlastung oder Verletzung im Rahmen eines Unfalls, einer Operation oder bei entzündlichen Prozessen auftritt. In diesen Situationen erfüllt der Schmerz eine wichtige physiologische Warn- und Schutzfunktion und zeigt das Vorliegen einer Schädigung an (vgl. Keßler und Bardenheuer 2018, 2). Akutschmerz ist vorübergehend und hält von wenigen Sekunden bis zu wenigen Wochen an. Von chronischen Schmerzen wird dann gesprochen, wenn Schmerzen länger als drei bis sechs Monate anhalten. Indessen hat der chronische Schmerz seine biologische Warnfunktion verloren und ist, als vorerst sinnvolles Symptom, selbst zur Krankheit geworden (vgl. Keßler und Bardenheuer 2018, 2). Schmerzen werden dann als chronisch bezeichnet, wenn sie im Mittelpunkt des Interesses stehen, mehrfache Therapieversuche erfolglos geblieben sind und zu Enttäuschungen und eingeschränkter Lebensqualität geführt haben. Dabei spielt die Bewertung der psychischen Belastung, sozialer Faktoren und der Lebensqualität eine bedeutsame Rolle (vgl. Sendera und Sendera 2015, 12).

Wie tritt Schmerz auf?

Schmerz hat eine zerstörerische Art, drängt sich auf, unterbricht das bis dato unbeschwerte Leben und wird zu einem wahrhaftigen Störenfried, indem er die gute Stimmung verdirbt, Aktivitäten in Mitleidenschaft zieht, das gewohnte Tun und Lassen in unterschiedlichem Ausmaß beeinträchtigt (vgl. Wiehl 2011, 36). Dabei nimmt der Schmerz keinerlei Rücksicht darauf, „wer wir sind, was wir wollen, wie wir unser Leben führen – er ist plötzlich da, reißt das Leben auseinander und nimmt alles mit sich“ (Maio 2015, 28). Nebenbei errichtet der Schmerz – vor allem durch den erzeugten Sprachverlust – eine Mauer, die das In-der-Welt-Sein gefährdet (vgl. Scarry 1992, 12).

Was bedeutet es, ein Leben unter Schmerzen zu leben?

Auch wenn Schmerz sehr unterschiedlich erfahren wird, weisen die vielfältigen unterschiedlichen Schmerzerfahrungen dennoch gemeinsame Züge auf (vgl. Grüny 2004, 20). Menschen, die wiederkehrende Schmerzen haben, erleben massive Veränderungen in allen Bereichen ihrer Existenz (vgl. Bozzaro 2015, 17).

Ein Leben mit Schmerz kann Autonomieverlust und Ohnmacht bedeuten. Schmerz als ein Widerfahrnis zwingt das Individuum im Grunde zu purer Passivität und lähmt das Handlungsvermögen beinahe total (vgl. Wils 2007, 86). Betroffene fühlen sich ohnmächtig, weil sie der Schmerz auf provozierende Art von dem abhält, was dem Menschen naturgemäß wichtig ist, nämlich „Selbstgestalter seiner Welt zu sein“ (Maio 2015, 29). Das Schmerzsubjekt ist dem Schmerz ausgeliefert, weil Schmerz eine Unterbrechung darstellt und neben ihm nichts anderes von ähnlicher Bedeutung sein kann (vgl. Maio 2015, 28). In der Schmerzerfahrung entzieht sich die Vergangenheit und auch der Blick in die Zukunft wird vorläufig verwehrt. Der Schmerz kettet den Menschen an die Gegenwart (vgl. Wils 2007, 85) und lässt den Menschen zudem etwas fühlen, das er nur schlecht aushalten kann. Denn anders als sonst wird ihm schonungslos klar, ein Wesen zu sein, „das nicht etwas tut, sondern dem etwas widerfährt“ (Maio 2015, 28). Schmerz ist die „Wahrnehmung von etwas, das gegen uns ist, und von etwas, gegen das man sein muß. Obwohl der Schmerz in einem selbst ist, wird er sogleich als ‚nicht man selbst‘, als ‚nicht ich‘, als etwas Fremdes eingestuft, das man unverzüglich abstreifen will“ (Scarry 1992, 79). Die schmerzbedingte Ohnmacht löst im selben Augenblick einen Widerstand aus und die Rebellion gegen dieses Fremde, von dem Scarry berichtet, ist laut. Der Schmerz wird als Feind deklariert, den man schnellstmöglich loswerden möchte.

Während Schmerz einen inneren Kampf anstößt und Ohnmachtsgefühle befördert, sorgt er zugleich dafür, dass schmerztragende Individuen weniger Selbstwirksamkeit erfahren. Jedoch spielt gerade das Erleben von Selbstwirksamkeit eine bedeutsame Rolle für die Schmerzbewältigung und die von den Betroffenen erlebte Beeinträchtigung auf emotionaler und Verhaltensebene (vgl. Schneider 2009, 5). Zimmermann stellt in diesem Kontext fest: „Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist wie eine Therapie“ (Niklas und Zimmermann 2015, 71). Genau hierin liegt ein möglicher Schlüssel, wie auf die Situation der Betroffenen positiv eingewirkt werden kann. Beispielsweise, indem Menschen nicht auf den Schmerz, den sie tragen, reduziert werden oder nur noch in der Rolle der oder des Kranken angesprochen werden. Denn sie tragen noch so viel mehr Eigenschaften. Erleben sie allerdings mehr und mehr Rollenverluste und Einsamkeit, so kann dies bisweilen sogar zum sozialen Tod des Individuums führen, während dieses eigentlich noch am Leben ist (vgl. Frede 2007, 116 f.).

Starke Gefühle der Einsamkeit können im Leben von Schmerzsubjekten vorkommen. Dafür gibt es weitere Gründe: Im Schmerz ist man allein, keiner kann einem den Schmerz abnehmen. Auf heftige Weise wirft der Schmerz das Subjekt auf sich selbst zurück und schließt es in sich ein (vgl. Dederich 2009b, 21) und „hält jeden in seiner Not isoliert“ (Le Breton 2003, 41). Zudem ist der Schmerz verbal sehr schwer vermittelbar und da ein heftiger Schmerz nahezu sprachlos macht (vgl. Grüny 2004, 159), ist man wie gefangen im Schmerz. Soziale Isolation, Zuschreibungen und eine beeinträchtige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verstärken diese Thematik zusätzlich.

Außerdem kann chronischer Schmerz eine Sinnkrise entfachen, denn unweigerlich stellt der Schmerz, wenn er über Wochen und Monate besteht, auch die Frage nach dem Sinn, ruft Zweifel hervor und bringt Menschen sogar bis an den Rand der Verzweiflung. Chronischer Schmerz nagt an der Reibungslosigkeit der Lebensvollzüge und am Selbstwertgefühl. Betroffene empfinden sich als wertlos, weil sie nicht mehr den Anforderungen nachkommen können, die für ein gelingendes Leben vonnöten erscheinen. Darüber hinaus kann sich die Empfindung breitmachen, allein und nicht mehr zugehörig zu sein, weil die schmerztragende Person wie „aus der Ordnung herausfällt und weil sich keine neue Ordnung abzeichnet, die [sie] aufnimmt“ (Maio 2015, 31).

Ein Leben mit Schmerzen bedeutet auch Sehnsucht: Einerseits haben Betroffene einen enormen Wunsch nach Schmerzfreiheit, da sie sich in einer bedrohlichen Situation befinden. Durch den anhaltenden Schmerz verspüren sie eine Schrumpfung des eigenen Ichs (vgl. Wils 2007, 88), was ihr Identitätsgefühl stark gefährdet (vgl. Le Breton 2003, 23). Darüber hinaus sind Betroffene meist jahrelang auf der Suche, die Schmerzursache und somit auch die potenzielle (Er-)Lösung von/für ihren Schmerz zu finden. Verbunden mit vielen Enttäuschungen suchen viele unentwegt nach einer objektivierbaren Ursache, auch weil sie um die Anerkennung und Wahrhaftigkeit ihres Leidens ringen (vgl. Le Breton 2003, 57). Unterdessen leben sie ununterbrochen in einer Atmosphäre der Delegitimation (vgl. Maio 2015, 32). Sie schämen und sorgen sich, jemand könnte ihnen unterstellen, „dass sie aufgrund von fehlenden ‚Ursachen‘ eigentlich nicht dazu legitimiert seien, Schmerzen zu haben, dass sie sich diese nur einbilden oder gar simulieren“ (Maio 2015, 32). Zudem leben sie im Modus der Scham, weil sie den Eindruck haben, mangelhaft oder gar falsch zu sein. Oftmals wird ihnen suggeriert, es wäre ihr persönliches Verschulden, wenn sie den Schmerz nicht in den Griff bekämen. Gerade im Bereich der Medizin gilt die vorherrschende Meinung, Schmerz sei im Grunde kontrollier- und behandelbar, was Schmerzsubjekte zusätzlich massiv unter Druck setzt und noch mehr Leid erzeugt.

Zusammengefasst kann ein Leben mit Schmerzen neben Ohnmacht, Einsamkeit, Scham- und Schuldgefühlen, Sprachlosigkeit und Sinnverlusten auch Sehnsucht für das Individuum bedeuten. Hinzu kommen weitreichende Veränderungen und Verluste (körperliche Einschränkungen, soziale Einschränkungen, Verlust der Lebensqualität usw.). Unweigerlich sind es auch Ängste, die dadurch ausgelöst werden, aber auch Trauerprozesse, die stattfinden (nicht nur beim schmerztragenden Subjekt, sondern gleichwohl im sozialen Umfeld). Und daher stellt sich die Frage: Wollen wir diese Menschen außen vor lassen? Möchten wir die Mauer, die der Schmerz errichtet, noch weiter verfestigen und Gefühle der Einsamkeit und Ohnmacht weiterbefördern? Oder ihnen stattdessen wahrhaftig begegnen, Fürsorge, Verantwortung und Solidarität zeigen und die „Schmerzmauer“ abbauen, indem wir den Menschen (wieder) das Gefühl geben, wertvoll zu sein, und auf sie zugehen, indem wir sie annehmen, gerade in den schmerzvollen, schambehafteten und unschönen Momenten ihres Lebens?

Nicht alleine lassen

Wir können und dürfen Menschen, die Schmerz tragen, nicht ignorieren, denn wenn er da ist, ist er da und spielt eine Rolle für das Individuum und sein Umfeld. Das schmerztragende Subjekt darf in seiner Einsamkeit, Macht- und Sprachlosigkeit mit all seinen Fragen (nach Sinn oder Unsinn des Schmerzes) sowie seinen Scham- und Schuldgefühlen nicht alleingelassen werden. Daher ist es auch die Verantwortung von Pädagog:innen, diese Menschen und ihren Schmerz in den Blick zu nehmen. Was gleichwohl bedeuten kann, diesen Menschen ein Trost spendendes Gegenüber zu sein und bereit zu sein, sich von der Unruhe, die der Schmerz auslöst, ein Stück weit ergreifen zu lassen (vgl. Picht 2011, 104 f.).

Des Weiteren macht die Sichtweise auf den Schmerz einen Perspektivenwechsel erforderlich. Wie gerne hätten wir die Welt ohne schmerzvolle Erfahrungen, wie gerne würden wir den Schmerz komplett kontrollieren können. Doch gilt es womöglich, allmählich anzuerkennen, dass Schmerz nicht wirklich mit sich verhandeln lässt? Überdies sollte die menschliche Kontrollmöglichkeit in Bezug auf den Schmerz bescheiden und realistisch betrachtet werden und die schmerzhaften Erfahrungen vielmehr als ein Bestandteil menschlichen Lebens anerkannt werden, ebenso wie Krankheit und Tod als Bestandteile menschlicher Existenz akzeptiert werden müssen (vgl. Frede 2007, 51; Wiehl 2011, 38).

„Wir erleben Schmerz – nicht, weil wir etwas falsch machen, sondern weil Schmerz zum Leben gehört“ (Frede 2007, 51).

Literaturverzeichnis

Bozzaro, C. (2015): Schmerz und Leiden als anthropologische Grundkonstanten und als normative Konzepte in der Medizin. In: Giovanni Maio, Claudia Bozzaro und Tobias Eichinger (Hg.): Leid und Schmerz. Konzeptionelle Annäherungen und medizinethische Implikationen. Freiburg: Verlag Karl Alber, S. 13–36.

Dederich, M. (2009a): Der Körper und der Schmerz - Kein Thema für die Behindertenpädagogik? In: Zeitschrift für Heilpädagogik, S. 82–90. Online verfügbar unter https://www.verband-sonderpaedagogik.de/zeitschrift/zfh-artikel.html?zfhid=34880.

Dederich, M. (2009b): Schmerz - eine philosophische Erkundung. In: Nicola J. Maier-Michalitsch (Hg.): Leben pur - Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben, S. 12–29.

Frede, U. (2007): Herausforderung Schmerz. Psychologische Begleitung von Schmerzpatienten. Lengerich: Pabst Science Publishers.

Grüny, C. (2004): Zerstörte Erfahrung. Eine Phänomenologie des Schmerzes. Würzburg: Königshausen & Neumann (Wittener kulturwissenschaftliche Studien, 4).

International Association for the Study of Pain (2020): IASP Announces Revised Definition of Pain - IASP. Online verfügbar unter https://www.iasp-pain.org/PublicationsNews/NewsDetail.aspx?ItemNumber=10475.

Keßler, J.; Bardenheuer, H. (2018): Was ist das eigentlich, Schmerz? In: Joachim Kirsch (Hg.): Schmerz, lass’ nach! Eine Einführung in die Grundbegriffe der Schmerzmedizin. Berlin: Springer Verlag (WissenKompakt Medizin), S. 1–3.

Le Breton, D. (2003): Schmerz. Eine Kulturgeschichte. 1. Auflage. Zürich: Diaphanes.

Maio, G. (2015): Den kranken Menschen verstehen. Für eine Medizin der Zuwendung. 1. Auflage. Freiburg: Herder.

Niklas, A.; Zimmermann, M. (2015): Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist wie eine Therapie. In: Zeitschrift für Komplementärmedizin (7 (02)), S. 71–76. DOI: 10.1055/s-0035-1550336.

Picht, J. (2011): Schmerz und Subjekt. In: Rainer-M. E. Jacobi und Bernhard Marx (Hg.): Schmerz als Grenzerfahrung. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt (Erkenntnis und Glaube, 43), S. 91–109.

Scarry, E. (1992): Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt am Main: Fischer.

Schneider, J. (2009): Selbstwirksamkeit stärken – warum und wie? In: L. Radbruch, F. Elsner und H.-G. Schaible (Hg.): Deutscher Schmerzkongress 2009. Mit Netzwerken gegen den Schmerz: Springer Verlag (23 Supplement 1), S. 5–6.

Sendera, M.; Sendera, A. (2015): Chronischer Schmerz. Schulmedizinische, komplementärmedizinische und psychotherapeutische Aspekte. Wien: Springer Verlag.

Wiehl, R. (2011): Schmerzausdruck und Schmerzverhalten. In: Marcus Schiltenwolf und Wolfgang Herzog (Hg.): Die Schmerzen. Würzburg: Königshausen & Neumann (Beiträge zur medizinischen Anthropologie, 7), S. 35–54.

Wils, J.-P. (2007): ars moriendi. Über das Sterben. Frankfurt am Main: Insel Verlag (Bibliothek der Lebenskunst).

Autorin:

Monika Bohn

Geb. 1995, war nach der Ausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin mehrere Jahre lang in der häuslichen Kinderintensivpflege tätig. Im Jahr 2021 absolvierte sie das Studium der Heilpädagogik, wobei sie sich im Rahmen der Bachelorarbeit intensiv mit dem Phänomen Schmerz und der Bedeutung von anhaltendem Schmerz auseinandersetzte.

Monikabohn95@web.de