Ein klares Ja zu Eltern mit Behinderung
Menschen mit Lernschwierigkeiten möchten Eltern sein, sie können Eltern sein – und sie haben das Recht (Art. 23 Abs. 1a UN-BRK), Eltern zu sein und die dafür angemessene Unterstützung zu erhalten. Eine von Jugend am Werk und der Universität Klagenfurt organisierte Tagung in Graz zeigte neben positiven Ansätzen aber auch, dass es noch ein weiter Weg bis dorthin ist.
Geschichtlicher Hintergrund
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Diskussionen um und der Umgang mit der Elternschaft von Menschen mit Lernschwierigkeiten vor allem von eugenisch-genetischem Gedankengut geprägt und fanden in der Zeit des Nationalsozialismus ihre Entsprechung im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, welches massenhafte und gewaltsame Zwangssterilisationen nach sich zog. Selbst die gewandelte Auffassung von Sexualität und Behinderung in den 1970er-Jahren änderte nichts an der Praxis der Sterilisation, die nun aber nicht mehr eugenisch, sondern im Hinblick auf den vermuteten Mangel an elterlichen Kompetenzen und daraus resultierenden negativen Konsequenzen für die Kinder von Eltern mit Lernschwierigkeiten begründet wurde. Selbst im Zuge der Integrations- und Normalisierungsdiskussion in den 1980er-Jahren wurde die Frage möglicher Folgen der Sexualität nicht weiter erörtert. Die Praxis der Sterilisation minderjähriger Menschen mit einer sogenannten „geistigen Behinderung“, die häufig und meist ohne das Wissen der Betroffenen erfolgte, war keine Seltenheit. Erst das Betreuungsgesetz 1992 in Deutschland setzte diesem Missbrauch ein Ende. In Österreich ist die Zwangssterilisation seit dem Jahr 2002 in § 90 Abs. 2 StGB geregelt und strafbar.
Verunsicherung und Angst
Nicht zu unterschätzen ist, dass sich die meisten Eltern mit Lernschwierigkeiten dauerhaft unter Druck gesetzt fühlen. Sie stehen grundsätzlich schon während der Schwangerschaft und spätestens ab der Geburt ihres Kindes unter der Beobachtung und der Kontrolle von Angehörigen, Bekannten, Nachbarn, Fachkräften und dem Jugendamt. In der Praxis leben diese Eltern also in ständiger Angst, kleinste Fehler könnten zur Kindesabnahme führen. Betroffene erleben das oft als Willkür, ohne genaue Gründe zu erfahren. Durch diese Angst trauen sich viele nicht, um Unterstützung bei der Kinder- und Jugendhilfe zu fragen. Denn wer Unterstützungsbedarf formuliert, setzt sich automatisch dem Vorwurf aus, überfordert zu sein. Die Angst, dass sie den Erwartungen nicht gerecht werden können und ihr Kind fremduntergebracht werden könnte, ist allgegenwärtig. Einige Eltern haben eine Trennungssituation und Fremdunterbringung eines Kindes bereits erlebt. Diese Erfahrung verbinden viele mit Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit und dem Ausgeliefertsein an das Hilfesystem.
Professionelle Unterstützung
Als Arbeitsbegriff für die professionelle Unterstützung für Eltern mit Lernschwierigkeiten und ihre Kinder hat sich „Begleitete Elternschaft“ etabliert. Ziel der Unterstützung ist es, ein Zusammenleben von Eltern und Kindern und ein gutes Aufwachsen der Kinder zu ermöglichen und dabei die Erziehungskompetenzen der Eltern zu stärken. Unterstützung im Rahmen Begleiteter Elternschaft ist vielfältig und wird in ganz unterschiedlichen Konzepten umgesetzt. Hierbei geht es nicht um die Schaffung neuer spezialisierter Angebote, sondern insbesondere um die Öffnung und inklusive Ausgestaltung von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe und von Angeboten aus dem Feld der Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Dringend notwendig erscheint etwa eine verpflichtende Fortbildung des Personals in Wohneinrichtungen zum Thema Sexualität und Partnerschaft, die in sexualpädagogischen Konzepten ihren Niederschlag finden soll. Die verstärkte Zusammenarbeit mit Wohnungsämtern, der Behindertenhilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe muss forciert werden. „Will Österreich die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen ernst nehmen, muss man sich zwingend dem Thema der Kindesabnahme widmen. Dazu müssen wir unbedingt ein funktionierendes System der Persönlichen Assistenz für die Elternschaft mit Rechtsanspruch schaffen und Hilfestellung, wo es nur geht, leisten“, resümiert Christine Steger, Vorsitzende des Monitoringausschusses.
Zitate
Der defizitäre Blick, mit dem Behörden Eltern mit Behinderungen und insbesondere Lernschwierigkeiten betrachten, gepaart mit den teilweise nicht vorhandenen Unterstützungsleistungen, führt oft zum Obsorgeentzug.
Christine Steger, Monitoringausschuss
Eltern mit Behinderung benötigen individuell passende Unterstützung, dauerhafte Begleitung und Assistenz statt temporäre familienbezogene Hilfen.
Stephan Sting, Uni Klagenfurt
Eltern sind und bleiben Expertinnen und Experten für ihr Familienleben.
Ingrid Krammer, Jugendamt
Wir brauchen mehr Forschung über das Leben von Eltern mit Lernschwierigkeiten.
Rahel More, Uni Klagenfurt
Viele Mythen und Vorurteile – Vererbung der Behinderung; besonders viele Kinder; fehlende Kompetenzen; Gefahr der Vernachlässigung – bedürfen der Aufklärung.
Linda Schüchner, Verein GIN
Es hat sich einmal mehr gezeigt, dass es gerade bei diesem Thema den Sozialraum braucht, um solchen Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen.
Walter Perl, Jugend am Werk
Wir wollen gehört und gesehen werden.
Ossi Föllerer, Selbstvertreter
Die Fachtagung auf YouTube unter: https://youtu.be/yWSgdZCE2b8
Literaturtipp
Rahel More (2021)
Disability, Elternschaft und Soziale Arbeit
Softcover, 361 Seiten
Preis: 42 Euro
Opladen: Verlag Barbara Budrich
ISBN 978-3-8474-2537-3
Dieses Buch befasst sich mit Elternschaft von Müttern und Vätern mit sogenannten Lernschwierigkeiten, die häufig mit Vorurteilen gegenüber ihren Fähigkeiten in der Elternrolle konfrontiert werden. Die Autorin (und Tagungsreferentin) orientiert sich an der Gesellschaftskritik der Disability Studies und verfolgt einen emanzipatorisch-partizipativen Zugang. Nach der Analyse von gesellschaftlichen Diskussionen in Newsgroups, Interviews mit Fachkräften der Sozialen Arbeit und Interviews mit Eltern mit Lernschwierigkeiten erweisen sich mehrdimensionale Benachteiligungen und die jeweils (nicht) existenten Rahmenbedingungen für die Wahrnehmung der Elternrolle als besonders relevant.