Corona, Ethik und Public Health
Vulnerabilität ist zentrales Thema, das durch die Coronakrise und die zahlreichen Toten, die sie fordert, massiv in das Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten ist. Der folgende Beitrag soll am Leitfaden der Vulnerabilität aus medizinethischer und ethischer Sicht das Problem des Umgangs und der Bewertung der Coronakrise, die beileibe keine rein medizinische Problematik ist, erschließen. Das Hauptgewicht der Betrachtung liegt dabei nicht auf der Medizinethik, sondern auf der Public-Health-Ethik.
Medizin als Kulturleistung
Die Medizin ist eine große Kulturleistung des Menschen, die sich mit dem Kulturwesen Mensch befasst. Insofern ist die Medizin keine reine Naturwissenshaft. Die Medizin ist ein gemischter Diskurs, der von wechselnden paradigmatischen Denkstilen beherrscht wird. Im 19. Jahrhundert gab es eine Dominanz der Pathologie, heute finden wir eine der evidenzbasierten Medizin vor. Das wissenschaftliche Beobachten ist kein neutrales take notice, sondern ein interpretierendes Eingreifen und Herausstellen. In dieser Hinsicht ist speziell auch die ärztliche Diagnose zu betrachten.
Die ärztliche Diagnose ist ein besonderer Sprechakt. Sie bezeichnet etwas als pathologisch und damit jemanden als krank. Die Diagnose ist ein Akt eigener Art. Sie ist weder eine willkürliche Dezision noch Ergebnis der Laboranalyse. Die Diagnose ist ein „Werturteil“, das Ärzt*innen gegenüber Patient*innen, dem Gesundheitswesen und gegenüber der eigenen Berufsethik zu verantworten hat.
Eine Diagnose bezieht dabei ein Allgemeines auf ein Besonderes und hat auch noch die Singularität des Besonderen zu achten. Singularität bedeutet, dass eine Patientin / ein Patient nicht nur ein Fall unter anderen ist, sondern immer auch mehr als das. Patient*innen sind in Wirklichkeit Menschen, wie Victor von Weizsäcker betont. „Jeder Fall ist sowohl ein besonderer Fall in Hinblick auf ein allgemeines medizinisches Wissen und Können als auch jedesmal singulär.“ (Ricoeur 1990, 252) Dieser Aspekt ist wichtig in Zeiten der evidenzbasierten Medizin, welche die Patient*innen zu „Informationslieferanten für objektive Problemkonstellationen“ (Borck 2016, 167) macht und damit „das zentrale Problem für die Arzt-Patient-Beziehung, die Anerkennung der individuellen Situation“ (ebd., 166), ausspart.
Eine Diagnose ist auch in die politischen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen des Gesundheitssystems eingebettet. Sie tritt damit in das Spannungsfeld der Anerkennung und der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen ein (vgl. dazu: Dederich/Schnell 2011). Von hier aus ergeben sich zwei zusammengehörige Perspektiven. Arztmedizin sorgt sich um den Anderen. Public Health fügt dem die Dimension des Dritten hinzu. In ethischer Hinsicht entspricht dem die gesellschaftliche Frage nach Gerechtigkeit.
Medizinethik, Public-Health-Ethik und das Problem des Impfens
Medizin richtet sich auf die individuellen Patient*innen, Public Health auf eine kollektive Gesundheit. Public-Health-Ethik betrachtet im Unterschied zur Medizinethik die soziale Gerechtigkeit, die sich gegen ungerechte Gesundheitsungleichheiten (z.B. gegenüber Migranten, Arbeitslosen) richtet. Die Gerechtigkeit sucht nach einer akzeptablen Weise der Verteilung der knappen Güter der Gesundheitsversorgung.
Der ethische Anspruch eines demokratischen Gesundheitswesens besteht darin, dass ein großes Maß an Zugangsgerechtigkeit und Solidarität realisiert werden soll. Möglichst jeder/jede Bürger*in kann an der Versorgung durch das Gesundheitswesen teilhaben. Gerechtigkeit befasst sich mit der angemessenen Verteilung von Ressourcen und der Gestaltung von Institutionen. Aus ethischer Sicht ist die Gerechtigkeit der zentrale Wert, von dem aus der Bereich Public Health erschlossen werden kann.
Ein maßgebliches Beispiel der Ethik öffentlicher Gesundheit war und ist das Problem des Impfens. Die erste ethische Frage lautet: Nach welchem Kriterium wird festgelegt, welche Personen Zugang zu Impfseren haben? Folgende Kriterien sind unter anderem denkbar: gleiches Recht für alle oder ein bevorzugtes Recht für die, die am meisten gefährdet (weil vulnerabel) sind. Für beide Kriterien spricht etwas, aber sie können nicht zugleich realisiert werden.
Die zweite ethische Frage lautet: Ist Gesundheit ein individuelles oder ein kollektives Gut? Wenn es ein individuelles Gut ist, dann legen Eltern in einem Akt der Fürsorge fest, ob es für ihr individuelles Kind gut ist, geimpft oder nicht geimpft zu werden. Eine Folge dessen könnte sein, dass Kinder ihre Eltern verklagen, wenn sie eine Impfung verhindert haben und das Kind daher erkrankt ist. Wenn Gesundheit hingegen ein kollektives Gut ist, dann gibt es eine gesetzliche Pflicht, die das Impfen vorschreibt und damit auch, was für alle Kinder gut ist. Eine Folge dessen wäre die Einschränkung des gesetzlich verankerten Rechtsanspruchs der Eltern auf die elterliche Sorge.
Das Impfen zeugt von einem immanenten ethischen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Aus Sicht des Individuums ist das Impfen eine Körperverletzung, das nur durchgeführt werden darf, wenn es medizinisch indiziert ist und wenn die betroffene Person der Impfung zustimmt. Aus gesellschaftlicher Sicht ist das Impfen eine Angelegenheit der Gesundheit eines Kollektivs. In der Nachkriegszeit gab es Schluckimpfungen für alle Schulkinder zur Vermeidung von Kinderlähmung. In einer Demokratie müssen beide Aspekte in beiden Hinsichten berücksichtigt werden. Der Staat muss die Gesundheit des Kollektivs im Auge haben und darf das Recht des Individuums zur Zustimmung oder Ablehnung des Impfens nicht verletzen. Zugleich darf das Individuum sein Recht genießen, es muss aber den Anspruch des Kollektivs auf Gesundheit auch beachten. Undemokratisch ist ein Staat, der die Rechte des Individuums missachtet und das Impfen als kollektive Körperverletzung anordnet. Verantwortungslos ist ein Individuum, das das Impfen als reine Privatsache ansieht und sich für das Kollektiv nicht weiter interessiert. Weder Staat noch Individuum dürfen sich aus dem Konflikt, der das Impfen begleitet, nur die Punkte herausgreifen, die jeweils genehm sind, unter Weglassung der als problematisch empfundenen Aspekte.
In einer Pandemie, die potenziell die ganze Welt bedroht, darf ein Staat das Individuum vor die Wahl stellen, sich impfen zu lassen oder vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden. Diese Wahl achtet beides: das Recht des Kollektivs auf Gesundheit und das Recht des Individuums auf Zustimmung oder Ablehnung einer Impfung.
Es ist zudem extra zu prüfen, ob Angehörige der helfenden Berufe (Ärzt*innen, Pflegende, Sozialarbeiter*innen, Rettungssanitäter*innen etc.) nicht insofern zur Impfung verpflichtet sind, weil diese Maßnahme durch das Berufsethos abgedeckt ist. Medizinisches Personal soll Patient*innen nicht nur helfen, sondern ihnen auch nicht schaden. Eine Impfung würde dieses Kriterium erfüllen.
Das klassische Problemfeld des Impfens ist in der Coronakrise noch einmal neu erschlossen worden, weil das Impfen als der Königsweg aus dieser Krise angesehen wird.
Gerechte Gesundheitsversorgung
Vordenker einer gerechten Gesundheitsversorgung ist Norman Daniels, Experte für Gesundheitsethik und Public Health. Gegen Ende der Sechzigerjahre setzte in den USA eine politische und soziale Bewegung ein, die eine Kritik der Ungerechtigkeit verfolgte.
Norman Daniels, ein Schüler von Rawls, integrierte neue Ansätze, wie jene von Amartya Sen und Martha Nussbaum (vgl.: Daniels 2009, 46 ff., 64 ff.), in den Diskurs.
Gerechte Gesundheitsversorgung entspringt Daniels zufolge aus drei Quellen. Demnach ist Gesundheit (1) von besonderem moralischen Interesse für eine Gesellschaft, da sie Grundlage für die Entfaltung von individuellen Möglichkeiten ist. Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung sind (2) ungerecht, wenn sie aus gesellschaftlicher Verteilungsungerechtigkeit resultieren. Schließlich gilt es (3), den Bedürfnissen nach Gütern der Gesundheitsversorgung auch dann angemessen zu begegnen, wenn eine Gesellschaft nicht alle Bedürfnisse bedarfsgerecht befriedigen kann (vgl.: 140). Diese drei Überlegungen stützen sich gegenseitig und bilden eine Grundlage für eine gesundheitswissenschaftliche Public-Health-Ethik (157).
Public-Health-Ethik in Zeiten von Corona
Die Public-Health-Ethik, die auch in Europa an die Überlegungen von Daniels anknüpft (vgl.: Knoepffler/Daumann 2017), befasst sich mit der Gesundheit von Kollektiven, ergänzt die politische und ökonomische Steuerung eines Gesundheitssystems und verhindert im Idealfall ungerechte Rationierungen zulasten vulnerabler Gruppen und Personen. Diese Bemühung ist in Zeiten von Corona an ihre Grenze gelangt. Corona ist (nach AIDS in den Achtzigerjahren) heute die Herausforderung der Public-Health-Ethik.
Ungewissheit
Die Coronakrise äußert sich als potenziell lebensbedrohliche Ungewissheit. Die traditionelle Doppelung von Ungewissheit als Nährboden für Hoffnung und Gewissheit als Zeichen von Stillstand greift in der Coronakrise, wie auch in anderen als lebensbedrohlich empfundenen Krisen, nicht. Gewissheit wäre jetzt wünschenswert. Dass sie fehlt und Ungewissheit nicht als Träger für Utopien fungiert, ist ein Kennzeichen von Risikogesellschaften, wie Ulrich Beck sie nennt. „Als Motor des Gesellschaftswandels gilt nicht länger die Zweckrationalität, sondern die Nebenfolge: Risiken, Gefahren, Individualisierung, Globalisierung.“ (Beck 1993, 71) Ungewissheit in der Coronakrise zeigt sich darin, dass kein normativer Endpunkt der Krise mit Gewissheit festgelegt werden kann.
Kein normativer Endpunkt der Krise
Da Public-Health-Ethik über medizinische Fragen hinausgeht und an der Schnittstelle zur Politik situiert ist, geraten viele Virolog*innen und Epidemiolog*innen ins Politisieren. Naturwissenschaft liefert jedoch keine zureichenden Antworten auf die Frage, wie wir in und mit der Coronakrise leben sollen. Die grundlegendste aller Fragen bleibt unbeantwortet: Was ist der normative – nicht der zeitliche – Endpunkt der Krise? Ist es die Durchseuchung der Bevölkerung? Oder die Vermeidung von Triagen (Entscheidungen darüber, wer nicht mehr behandelt wird)? Ist es die Vermeidung der Verdopplung von R (Zahl derer, die ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt)? Ist es der Inzidenzwert? Oder reicht es aus, wenn mehr Beatmungsplätze als Beatmungspatient*innen vorhanden sind und eine Überlastung des Gesundheitswesens damit in gewisser Hinsicht ausgeschlossen werden kann?
Ein verbindlicher normativer Endpunkt ermöglicht es, anhand von Werten festzulegen, wann das gesellschaftliche Leben wieder schrittweise normalisiert werden kann und ein Ausweg aus dem Lockdown denkbar ist. Doch die Angst der politischen Entscheidungsträger, unverantwortlich über das Ende der Krise zu sprechen, ist groß. In Ermangelung eines normativen Endpunktes folgt die Politik sehr lange dem zentralen Gebot einer Ethik der Distanz. Distanz ist die neue Nähe!
Wege aus der Distanz und damit aus der Krise?
Erster Weg: Evidenz.
Die wissenschaftliche Abstützung (scientific evidence): Public-Health-Maßnahmen betonen die Abhängigkeit aller Akteure voneinander und werden auf der Basis von wissenschaftlichen Daten und nicht von Annahmen und Meinungen getroffen. Hier liegt jedoch offenbar ein Problem. Es ist unklar, welche Evidenz maßgeblich sein soll. So gibt es höchst unterschiedliche Virologien. Manche befassen sich mit der Frage der Ansteckung von Tier zu Mensch oder (von Mensch zu Mensch), andere mit der Verbreitung des Virus oder mit einer Antikörperbildung. Welche Virologie ist die richtige?
Zweiter Weg: Wertedebatte.
Da die Naturwissenschaft allein nicht weiterhilft, soll nun nach zentralen Werten gehandelt werden. Aber es ist unklar, welche Werte maßgeblich sind.
Position zentraler Wert Konsequenz
Jürgen Habermas Gleicher Lebensschutz für alle andere Grundrechte stehen zurück
Wolfgang Schäuble Menschenwürde Akzeptanz, dass Menschen sterben
Klaus Günther Lebensschutz und Freiheit sind wichtig Grundwerte/-rechte können kollidieren
Dritter Weg: politische Steuerung.
Da Wissenschaft und Wertedebatte allein zu keinem Ergebnis führen, bedarf es einer Entscheidung über Maßnahmen durch die Politik. Es ist eine Entscheidung, die von Unsicherheit und Unklarheit geprägt ist. Das ist ein Kennzeichen einer Risikogesellschaft (U. Beck).
Maßnahme Vorteil Nachteil
Allgemeiner Lockdown Solidarität aller Ungerechtigkeit
Jede/r entscheidet selbst Gerechtigkeit Ungleichheit
(Kranke ins Spital,
Infizierte in Quarantäne,
Gesunde zur Arbeit)
Ausblick
Die Coronakrise dauert an. Sie stellt den Kapitalismus vor eine bislang ungekannte Herausforderung. Es muss nämlich ein Leben mit einer Gefahr gelingen, die innerhalb sehr kurzer Zeit das zentrale Prinzip des Kapitalismus – nämlich das Prinzip des Wachstums – zerstören könnte. Es ist deutlich, dass ein Plan B für ein Gelingen vulnerablen Lebens nicht existiert und auch aus medizinischer und einer Public-Health-Perspektive allein nicht zu gewinnen ist. Daher müssten wir in eine politische Analyse übergehen. Dieser Übergang ist – ausgehend von der Public-Health-Ethik – der nächste logische Schritt.
Literatur:
Beck, U. (1993): Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M.
Borck, C. (2016): Medizinphilosophie, Hannover.
Daniels, N. (2009): Just Health. Meeting Health Needs Fairly. Cambridge.
Dederich, M./Schnell, M.W. (Hg.)(2011): Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin. Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik,
Bielefeld.
Knoepffler, N./Daumann, F. (2017): Gerechtigkeit und Gesundheitswesen, Freiburg i. Br.
Ricoeur, P. (1990): “La prise de décision dans l’acte médical etdans l’acte judicaire”, in: ders.
(2001): Le Juste 2, Paris.
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Martin W. Schnell, M.A.
- Lehrstuhl -Sozialphilosophie und Ethik im Gesundheitswesen an der Universität Witten/Herdecke
- Leitung - Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Fakultät für Gesundheit
Sekretariat: Kerstin Pospiech-Form (Kerstin.Pospiech-Form@uni-wh.de)