Thema der Ausgabe 1/2022:

Sorge und Verantwortung

„Wie sehr wir nach menschlicher Verbundenheit dürsten,‭ ‬erfahren wir in diesen Zeiten.‭“

Josef Fragner, Chefredakteur

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Sorge und Verantwortung

„Game Changer“ nennt der Künstler Banksy sein Werk, das er der Uniklinik Southampton zustellen ließ und das im März 2021 für fast 20 Millionen Euro versteigert wurde. Darin spielt ein kniender Junge nicht mehr mit Spiderman- und Batman-Figuren – die hat er im Papierkorb entsorgt –, sondern lässt eine Krankenhauspuppe mit Mund-Nasen-Schutz und einem Roten Kreuz auf der Brust durch die Luft fliegen. Wird die nächste Generation, wenn der C-Spuk vorbei ist, mit einem anderen Wertesystem aufwachsen? Werden die zukünftigen Superhelden fürsorgliche Krankenschwestern sein, die sich kümmern und nicht gegenseitig bekämpfen?

Eine schöne, aber wohl utopische Vorstellung. Care wird trotz aller Beteuerungen kaum eine politischeKraft entwickeln, sie wird weiter im Familienkreis, genauer, im Frauenkreis, angesiedelt bleiben. Die schöne liberale Freiheit hat ihre Unschuld verlorenund ist toxisch geworden – so eröffnet Thomas Assheuer das Heft. Die Freiheit der Rechten ist eine sozialdarwinistische Freiheit und löst mit gnadenloser Kälte das Problem der Solidarität mit der zynischen Feststellung: Irgendwann erwischt der Tod jeden.Lazare Benaroyo sucht einen neuen Humanismus in der Medizin, in der die ethische Dimension der Einzelbegegnung die Schlüsselstelle ist. Die durch die Beherrschung der Technik erlangte Selbstsicherheit muss unbedingt in einem Raum ethischer Achtsamkeit verankert werden, die aus dem Blick ein Gespräch macht. Wir brauchen eine neue Aufklärung, so der Appell von Tsitsi Dangarembga, in der das „Wir“ und nicht das „Ich“ die zentrale Stelle einnimmt. Sophia Falkenstörfer, die dieses Heft angeregt und kuratiert hat, spricht von einer reflektierten Fürsorge. Ziel dieser ermöglichenden Fürsorge ist das Wohlergehen des Menschen sowie dessen Freiheit. Markus Dederich rahmt den normativen Gehalt einer verpflichtenden Sorge für den anderen Menschen in das Register der Anerkennung ein, die den konkreten Anderen im Fokus hat. Gerechtigkeit ist der Verantwortungnotwendigerweise zur Seite zu stellen. Auch Ursula Stinkes weist auf das Chiasma – also die Überkreuzung – von Ethik und Politik hin. Sorge fürund Unterstützung von anderen Menschen sind keine rein ethische Privatangelegenheit, sondern auch eine politischeAufgabe. Zu helfen kann schwierig sein, sich helfen zu lassen, noch schwieriger, so Ursula Immenschuh mit Blick auf die „unerhörte“ Scham, die sich meist hinter Masken versteckt. „Scham ist die Hüterin der Würde.“ Ninon Hensel und Fabian van Essen beleuchten die Assistenztätigkeit. Der Kontakt zu sich selbst wird als Voraussetzung für die Kontaktfähigkeit mit dem Anderen beschrieben. Wie sehr wir nach menschlicher Verbundenheit dürsten, erfahren wir in diesen Zeiten. Fürsorge – für sich selbst, für andere und die Welt – schafft diese Verbundenheit. Ohne sie scheitert auch jede Vernunft.

 

Inhalt:

Artikel
Freiheit und Corona: Die Panik der liberalen Geister
Wege eines Humanismus in der Medizin
Liebe und Fürsorge bis zuletzt
"Für die, die sich im Wal befinden: Wir brauchen eine neue Aufklärung"
Was man von uns nicht wissen will
Ein klares Ja zu Eltern mit Behinderung
"Wir kämpfen ums Überleben"
Du trägst diesen unsichtbaren Schmerz - doch wer trägt Dich?
Arme Mongolen oder "Beim Kasanwirt"
Projekt écolsiv
Geht nicht, gibt´s nicht!
Reale Nöte und coole Helden
Mit Schwung durch den Alltag
Für Sorge
Ethik der Sorge: Verantwortung, Anerkennung, Gerechtigkeit im Zeichen radikaler Andersheit. Ein Versuch
Am Leitfaden der Vulnerabilität
Die Kunst, sich helfen zu lassen und was das mit Würde zu tun hat
Selbstfürsorge als Unterstützung der Kontaktfähigkeit in der Assistenz-Tätigkeit
Vom Zwiespalt in der Sorge
Begleitete Elternschaft
inklusionINSIGHTS
Skirennen fahren, ohne etwas zu sehen