Beschreibung

Foto: Eva Gugg
aus Heft 2/2021 – Denkanstöße
Martin Spiewak

"Deutschland verdummt": Pathologischer Blick auf die Pädagogik

Unsere Kinder verfügen „über keine Frustrationstoleranz und meiden jede Anstrengung“. Jeder „zweite Azubi (Auszubildende) hat eine Psyche wie ein Kleinkind“, in den Grundschulen hinken gar „70 bis 80 Prozent der Kinder ihrer Entwicklung weit hinterher“.

Die Botschaften kommen einem bekannt vor? Der Sound vertraut? Tatsächlich: So liest es sich, wenn Michael Winterhoff – Arzt, Kinderpsychiater und Bestsellerautor – ein Buch schreibt. Winterhoff gilt als der Thilo Sarrazin der Erziehung im deutschsprachigen Raum, sein aktuellstes Werk heißt konsequenterweise: „Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut“. Ein knappes Dutzend Werke sind mittlerweile unter Winterhoffs Namen erschienen. Dabei ist es egal, welches Buch man liest. Denn Titel wie „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“, „Persönlichkeiten statt Tyrannen“ oder „SOS Kinderseele“ ähneln sich wie die Thesen, die Winterhoff wie Textbausteine immer neu zusammensetzt.

Die Psyche der Kinder verkümmert

Deutschlands Eltern haben es demnach verlernt zu erziehen. Statt ihrem Nachwuchs Grenzen zu setzen, behandeln sie ihn als Freund und Partner. Im Extremfall, der für Winterhoff meist die Regel ist, verbindet Erwachsene und Kinder eine Art „symbiotische Beziehung“. Die Folge: Die Sprösslinge haben keine Chance, sich zu entwickeln, ihre Psyche verkümmert auf dem Stand eines Säuglings. Wenn diese Kinder erwachsen werden, gefährden sie unseren Wohlstand, ja die ganze Gesellschaft.

Hunderttausende Mütter und Väter haben diese Beschimpfungen gelesen – gelernt haben sie jedoch dem strengen Therapeuten Winterhoff zufolge nichts. „Der Kampf ist so gut wie verloren“, schreibt er in seinem letzten Buch. Die letzte Hoffnung „die Psyche der Kinder doch noch zu entwickeln, liegt also auf Kindergarten und Schulen“. Aber natürlich versagen Personal in Kindertagesstätten, Lehrerschaft und Bildungspolitik genauso wie die Eltern.

Das hat laut Winterhoff viele Gründe: die zu großen Klassen, die Sparpolitik, Pisa, der Föderalismus, die Kompetenzorientierung, der Digitalisierungswahn… Man kennt die Aufzählung von anderen Beschreibungen des pädagogischen Niedergangs. Doch während Autoren wie Gerald Hüther oder Richard David Precht die Schulen als verkappte Dressuranstalten geißeln, haben sie Winterhoff zufolge das Dressieren leider verlernt. Im Gegenteil, in deutschen Bildungsanstalten herrsche die offene Anarchie.

In der Kita (Kindertagesstätte) haben sich die Erwachsenen danach weitgehend auf den Beobachterstatus zurückgezogen: Die Kinder entscheiden selbst, wo sie spielen, wann sie essen und „ob und wann sie gewickelt werden“ (!). Später in der Schule lümmeln sich die Jungen und Mädchen auf „Puschelteppichen“ oder „Sitzsäcken“ und greifen „je nach Lust und Laune“ mal zu einer Hör-CD, mal zu einem Lernvideo. Wagt die Lehrerin oder der Lehrer doch einmal, einen Hinweis für alle zu geben, würden die Kinder dies kaum verstehen.

Als Schuldigen macht Winterhoff die „Ideologie des offenen Unterrichts“ aus. Statt seine Klasse wie früher mit klaren Anweisungen zu führen („Jetzt holen alle das Deutschbuch heraus!“), würden die Lehrerinnen und Lehrer heute ihre Schülerinnen und Schüler mit Aufgabenzetteln abspeisen und sie dann ohne Anleitung und Hilfe allein lassen. Doch dieses „autonome Arbeiten“ überfordere die Kinder und raube ihnen die Chance, zu lernen und sich zu entwickeln.

Passive Lernbegleitung?

Schlechten offenen Unterricht gibt es tatsächlich zuhauf – so wie es schlechten Frontalunterricht gibt, wo der Lehrer oder die Lehrerin über die Köpfe der Kinder hinwegredet. Eine Lehrperson, die nur auf die Eigenmotivation ihrer Schülerinnen und Schüler setzt und die Klasse bloß moderiert, hat ihren Job nicht verstanden. Doch verstehen sich tatsächlich so viele Pädagoginnen und Pädagogen, wie Winterhoff behauptet, als passive „Lernbegleiter“? An wie vielen Schulen sind die Noten wie auch die Hausaufgaben komplett abgeschafft? Und wo ist der offene Unterricht die durchgehende Unterrichtsmethode? Glaubt man den Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung sowie den Unterrichtsbeobachtungen durch die Schulinspektionen der Länder, dürfte eher das Gegenteil der Fall sein: Danach beherrscht der traditionelle Lehrervortrag (insbesondere nach der Grundschule) weiterhin den Schulalltag.

Der offene Unterricht, oder besser, der schülerzentrierte Unterricht, versucht eine Antwort zu geben auf die wachsende Vielfalt in den Klassenzimmern. Schülerinnen und Schüler kommen mit unterschiedlichen Fähigkeiten in die Schule, lernen im eigenen Tempo, brauchen eigene Zugänge. Dafür gibt es unterschiedliche Methoden, ob sie nun Lernstation oder Wochenplan heißen, Projektunterricht oder Freiarbeit. Die Methoden sind anspruchsvoll und wenn Lehrkräfte sie nicht beherrschen, gibt es Chaos im Klassenraum. Wenn es gut geht, lernen die Schülerinnen und Schüler jedoch, was sie heute am dringendsten brauchen: die Fähigkeiten, Probleme zu lösen und sich von Neuem nicht einschüchtern zu lassen.

Von alledem scheint der Autor freilich noch nie etwas gehört zu haben. Michael Winterhoff bastelt sich seine Schulrealität aus Zeitungsartikeln, Meinungsumfragen und Interviews mit Praktikerinnen und Praktikern, die der Autor über das Buch streut. Da ist die „Gymnasiallehrerin Frau D.“, der „Berufsschullehrer H.“ und der „Hausmeister S“. Die Begründung für die Anonymität seiner Kronzeugen (Angst vor Repression) ist etwas seltsam, angesichts der Tatsache, dass gefühlt jede Woche eine Lehrerin ihr Leid in einem neuen Buch beklagt. Die Gesprächspartnerinnen und -partner bestätigen außerdem immer genau das, was Winterhoff vorher ausgeführt hat – oft mit fast identischen Worten („Früher hatten die Lehrer das Ganze im Blick, heute werden die Kinder kaum beachtet“). Das nährt den Verdacht, dass diese Gespräche so nie stattgefunden haben.

Darüber hinaus sollen Fallgeschichten aus der Winterhoffschen Therapeutenpraxis aus Bonn seine Thesen belegen. Dieser rein pathologische Blick erlaubt jedoch kaum allgemeingültige Aussagen über alle Kinder. Man befragt ja auch keinen Bordellbesitzer zum Zustand der Ehe in Deutschland. Immerhin eines ist besser geworden im neuesten Buch: Die Anzahl der schiefen Metaphern, originellen grammatikalischen Konstruktionen oder Satzgirlanden, die irgendwo im Bedeutungsnirwana enden, hat sich merklich reduziert.

Nicht redigieren ließ sich der düstere pädagogische Pessimismus, der das ganze Werk des Autors durchzieht. Kinder und Jugendliche sind demnach rein lustbetonte Wesen, die eine kurze Leine benötigen. Wenn Erwachsene den Kindern erklären, warum sie etwas lernen sollen, dann ist das laut Winterhoff im Grundschulalter „schädlich“; dass Schülerinnen und Schüler ihre Leistungen im Unterricht selbst einschätzen, ist „Unsinn“. Zu Hausaufgaben: „Frühestens wenn das Kind vierzehn Jahre alt ist, können sich die Eltern darauf verlassen, dass es sich aus eigenem Antrieb an den Schreibtisch setzt.“

Zusatzaufgaben, Nachsitzen, Wiederholungen

Nur von welchen Kindern spricht Winterhoff hier? Von seinen eigenen? Von seinen Patientinnen und Patienten? Oder von den Schülerinnen und Schülern von Frau D. oder Herrn H.? Schon in seinem ersten Buch plädierte der Autor für die alte Lenkungspädagogik, also für Zusatzaufgaben, Klassenbucheintragungen, Nachsitzen sowie (in typischer Winterhoff-Prosa) „möglichst häufige Wiederholungen bei der Einübung der Grundfunktionen.“

Bleibt die Frage nach den Ursachen des Winterhoffschen Erfolgs. Warum kaufen Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher seine Bücher? Warum folgen sie den verschwurbelten Gedanken eines Psychiaters, dessen wichtigster Therapievorschlag darin besteht, in den Wald zu gehen? Der Kinder als „Monster“ bezeichnet und tatsächlich behauptet, mehr als die Hälfte von ihnen seien psychisch gestört.

Erklärung eins: der Expertenbonus. Als „Deutschlands bekanntester Philosoph“ (Precht) oder „Deutschlands renommiertester Hirnforscher“ (Hüther) kann man zu allem etwas sagen, zur Schule ohnehin. Das gilt für Deutschland bekanntesten Kinderpsychiater erst recht.

Erklärung zwei: Horrorlust. Nichts lässt einen genussvoller gruseln als die Gewissheit, dass die nächste Generation verloren ist. So war es schon bei Sokrates.

Erklärung drei: der Entlastungeffekt. Wer die Winterhoffschen Alarmmeldungen liest, fühlt sich gleich besser, denn so schlimm ist es in der eigenen Klasse, Familie, Kindertagesgruppe zum Glück noch nicht – und wenn doch, dann bekommt man die Schuldigen geliefert (Monsterkinder, Versagereltern, vernagelte Bildungspolitikerinnen und -politiker).

Katastrophenmeldungen, Elternbeschimpfung, Lehrerbashing: so sehen heute pädagogische Bestseller aus. Die Schule besser machen sie nicht, den Kindern und ihren Eltern dienen sie ebenso wenig.

Dies ist eine vom Autor aktualisierte Fassung seines Artikels vom 1. Juni 2019 in der DIE ZEIT.

Martin Spiewak Redakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT