Alle Menschen sollen teilhaben können
Der European Accessibility Act (EAA) will dazu beitragen
Stellen Sie sich vor, Sie nehmen sich am Weg zur Arbeit im Supermarkt einen Snack und zahlen an der Kasse mit Ihrer Karte. Dann holen Sie sich am Ticketautomaten einen Fahrschein, steigen in den nächsten Bus und hören sich mit Ihrem Smartphone die aktuellsten Podcast-Nachrichten an. Klingt doch alles ganz einfach, oder? Was für die meisten selbstverständlich erscheint, ist für viele Menschen schlichtweg nicht möglich.
Aus dem Rollstuhl sind Kartenlesegeräte an Kassen oft nicht einsehbar oder erreichbar. Touchscreens und Smartphones sind für blinde und seheingeschränkte Personen nicht oder nur eingeschränkt nutzbar. Die gängigen Nachrichtenformate sind zumeist zu komplex, um von Menschen mit Lernschwierigkeiten (oder geringen Deutschkenntnissen) verstanden zu werden. Das sind ein paar wenige Beispiele, die zeigen, wie Menschen mit Behinderungen in unserer Welt benachteiligt werden.
Eine Welt, die behindert
In unserer Gesellschaft wird – ausgehend von nicht-behinderten Menschen – ein Bild konstruiert, das all jene, die körperlich oder kognitiv nicht perfekt sind, in eine marginalisierte Gruppe der anderen wirft. Aufgrund der fehlenden Lobby bleibt diese Gruppe weitgehend unsichtbar. Deswegen werden die Bedarfe von Menschen mit Behinderungen in der Gestaltung unserer Umwelt oft ignoriert. Das Design von Produkten und die Zielgruppen von Dienstleistungen orientieren sich an einem nicht-behinderten Norm-Menschen, der jung, gesund, körperlich perfekt (und wahrscheinlich männlich und weiß) ist. Dadurch entsteht eine Welt, die behindert.
Die Verheißungen des EAA
Mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2010 von der EU formal angenommen wurde, rückten auch auf europäischer Ebene die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der politischen Tagesordnung nach oben. Um einen Fahrplan zur Umsetzung der Konvention zu entwickeln, entwarf die EU die „European Disability Strategy 2010–20“. Daraus entstanden zum Beispiel Rechtsvorschriften zur Verbesserung der Barrierefreiheit des Internets und über die Rechte von Reisenden mit Mobilitätseinschränkungen. Im Juni 2019 trat der „European Accessibility Act“, kurz auch EAA genannt, in Kraft. Dieses europäische Barrierefreiheitsgesetz zielt darauf ab, Güter und Dienstleistungen auf dem europäischen Markt barrierefrei zu gestalten. Das betrifft einerseits den gesamten Online-Handel, andererseits Hardware-Systeme einschließlich ihrer Betriebssysteme. Dazu zählen Computer, Tablets, Smartphones, Fernsehgeräte, E-Books und E-Book-Reader. Unter die Vorgaben fallen auch Check-In- und Fahrkartenautomaten, Zahlungsterminals, Geldautomaten, Online-Banking-Angebote, Notrufdienste sowie Dienstleistungen im öffentlichen Verkehr. Während Barrierefreiheitsanforderungen bislang nur den öffentlichen Dienst betrafen, wird nun erstmals auch der private Sektor zur Verantwortung gezogen. Durch das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz ist das in Österreich zwar jetzt schon möglich (Österreich hat damit eine Vorreiterrolle in der EU), allerdings verhindert eine potentielle Schadensersatzleistung die tatsächliche Abschaffung des Diskriminierungsgrundes bzw. der Barrieren. Hier verspricht der EAA eine Veränderung. Zusätzlich werden die neuen Vorschriften im gesamten EU-Raum gelten und damit den grenzübergreifenden Handel vereinfachen. Dadurch entstehen für Güter mit inklusiven Design mehr Marktchancen. Idealerweise führt das zu einem größeren Angebot an barrierefreien Produkten, die zu wettbewerbsfähigen Preisen erhältlich sind. Dann werden rund 80 Mio. Menschen mit Behinderung und speziell die 30 Mio. blinden und seheingeschränkten Europäerinnen und Europäer von der Richtlinie profitieren. Was in der Theorie verheißungsvoll klingt, bringt in der Praxis aber Herausforderungen.
Herausforderungen bei der Umsetzung des EAA
Im Gegensatz zu einer EU-Verordnung, die sofort in den nationalen Rechtsordnungen Anwendung findet, ist der EAA eine EU-Richtlinie. Das bedeutet, dass die Vorschriften für ihre Verbindlichkeit zuerst in innerstaatliche Gesetzgebungen transferiert werden müssen. Dafür haben die Mitgliedstaaten bis 2022 Zeit. Nach Ablauf der Übergangsfristen müssen alle Produkte und Dienstleistungen, die nach Juni 2025 auf den Markt gebracht werden, den neuen Anforderungen entsprechen. Hier liegt die erste große Herausforderung: Wie effizient sich der EAA auf unsere Lebensrealität auswirken wird, liegt daran, wie ambitioniert die einzelnen Staaten die Richtlinie in nationales Recht umsetzen, inklusive funktionierender Monitoring- und Sanktionierungsmechanismen. Die zweite große Herausforderung besteht darin, dass Gewerbetreibende, Industrie und Handel frühzeitig Informationen und das nötige Wissen erhalten, um die neuen Anforderungen richtig umzusetzen. Gleichzeitig müssen auch Menschen mit Behinderungen und deren Interessensgruppen von ihren Rechten erfahren, damit sie sich dafür stark machen können.