Gelebtes Vertrauen in Freundschaftsbeziehungen - Über die Bedeutung der Vertrauensbildung in Freundschaftsbeziehungen bei Kindern mit einem individuellen Förderbedarf.
Das Thema Vertrauen und Freundschaft ist nicht nur im allgemeinen Schulkontext wichtig, sondern insbesondere auch bei Schüler:innen mit einem individuellen Förderbedarf. In Interviews hat sich eindrucksvoll gezeigt, dass sich durch vertrauensvolle Freundschaftsbeziehungen mit Mitschüler:innen und auch Lehrer:innen das Lebensschicksal leichter bewältigen lässt. Deshalb sollte die Schule Kompetenzen vermitteln, die vertrauensvolle Freundschaftsbeziehungen unter Schüler:innen zum Thema haben.
Bedürfnisse und Wünsche von Kindern mit einem individuellen Förderbedarf nach vertrauensvollen Freundschaftsbeziehungen im Kontext von Schule
„Vertrauen unterstützt Partizipation. […] Bildungseinrichtungen können dazu beitragen, dass Kinder und junge Menschen auch Vertrauen zu Menschen außerhalb ihrer Familie aufbauen. […] Und es kann eine positive Erfahrung für diejenigen anbieten, die einer diskriminierten Gruppe angehören […].“ (Booth 2011, S. 17).
Der Umgang mit Beeinträchtigungen, z.B. verschiedenste Körperbeeinträchtigungen, kognitive Beeinträchtigungen, Sinnes- und Sprachbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Ledl 2004), die die Teilhabe am Leben erschweren, führen dazu, dass Kinder mit einem individuellen Förderbedarf noch mehr Kraft und Engagement aufbringen müssen, um ihre Selbstständigkeit und eine autarke Lebensweise zu erreichen. Nicht nur die Hürden des alltäglichen Lebens müssen gemeistert werden, sondern neben diesen auch die Akzeptanz, Überwindung der oben genannten Beeinträchtigungen.
„In dieser Situation gerät das Kind / der Jugendliche möglicherweise dreifach unter Druck: Durch den Verlust der eventuell sorgenden und schützenden Eltern und Geschwister, durch die Konfrontation mit einem neuartigen Normensystem sowie durch die Nötigung, sich in großen Gruppen zu behaupten. Verunsicherungen und Leidensdruck können die Folge sein […].“ (Würker in: Korczak 2018, S. 87)
Somit ist das Bedürfnis nach Mitmenschen, die man in allen Lebenslagen in das Vertrauen ziehen kann, umso größer. Die Suche nach einem Freund, einer Freundin dem / der man vertrauen kann und die zu einer vertrauten Freundin, einem vertrauten Freund heranwächst, gestaltet sich jedoch stellenweise als schwierig. Leider kommen, wie in Interviews und in den folgenden Fallbeispielen dargestellt, Schüler:innen mit einem Förderbedarf auch mit Verhaltensweisen wie Ausgrenzung, Hänseleien, Ignoranz bis hin zu Mobbing in Berührung.
„Freunde sind nach der Familie so das Wichtigste, das einem Halt gibt und so grade auch die Gleichaltrigen und die Peergroup das ist ja auch ähm ja so sehr wichtig für das Selbstbild, was man hat und so das Selbstkonzept und […] wenn man das gerade wieder aufbauen muss, dann ist es schon nicht leicht zu merken, dass es auch Menschen gibt, die einem abgeneigt sind, die vielleicht gar nichts mit einem zu tun haben wollen.“ (Interview mit Elisa F. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021)
Dies geht in einigen Fällen sogar so weit, dass andere Schüler:innen nicht mit ihnen gesehen oder in Verbindung gebracht werden wollen, da sonst auch sie ausgegrenzt werden. Diese ausgrenzenden und anfeindenden Verhaltensweisen im Zusammenspiel mit der ursprünglichen Beeinträchtigung können zu seelischen, körperlichen und sozialen Belastungen mit entsprechenden negativen Auswirkungen führen, wie z.B. einem Misstrauen Mitmenschen gegenüber.
„Vertrauen wird in der Definition von Mayer und Mitarbeitern (1995) mit der Bereitschaft, sich verwundbar zu machen gleichgesetzt. Demnach bedeutet Misstrauen, dass eine Person keine Risiken eingehen möchte und sich nicht angreifbar machen lässt. Sie glaubt nicht, dass der Interaktionspartner gute Absichten hat. […] Misstrauen wird […] als „Abwesenheit von Vertrauen in andere Personen charakterisiert“. (Petermann 2013, S. 78).
Auch Interviews mit Lehrer:innen zum Thema Vertrauen und Freundschaft im Kontext von Schule spiegeln wieder, dass auch diese das Bedürfnis der Schüler:innen erkennen, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen.
„Wir haben sehr, sehr viele Kinder […] in der Schule insgesamt, die eine relativ belastende Biografie mit sich bringen, wo Familienverhältnisse nicht unbedingt so sind, dass sie entwicklungsfördernd sind, wir haben zum Teil Kinder, die einen Fluchthintergrund haben, die auch Vertrauen einfach ganz neu schöpfen müssen. Also das Bedürfnis ist sehr, sehr groß, sich zum Teil sich auch anzuvertrauen. Und auch das bekommt man mit, dass die Kinder das auch wirklich gezielt suchen und dass das für sie wirklich ein ganz großes und ich würde sagen, eines der zentralen Bedürfnisse ist.“ (Interview mit Siamak Farhur zum Thema Schulfreundschaften und Vertrauen vom 14.08.021)
Interviews mit ehemaligen Schüler:innen mit einem individuellen Förderbedarf haben gezeigt, dass diese, neben vertrauensvollen Begegnungen auch verschiedenste Formen von Ausgrenzung im Kontext von Schule erfahren haben. Beide Erfahrungen zeigen eine Sehnsucht nach vertrauensvollen Freundschaften auf, die eine Basis für ein verlässliches Miteinander bieten.
Sophia B.– Eine ehemalige Schülerin mit einer Sinnesbeeinträchtigung Schwerpunkt „Hören“
„Freundschaft und Vertrauen bedeutet für mich, dass man den anderen so akzeptieren kann, wie er ist.“ (Interview mit Sophia B. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021)
Sophia ist 28 Jahre alt. Sie und ihre zwei Jahre jüngere Schwester sind von Geburt an hochgradig schwerhörig. Sophia trägt Hörgeräte und ihre Schwester, da sie auf einem Ohr taub ist, seit dem achten Lebensjahr ein Cochlea-Implantat. Die Eltern und die übrigen Familienmitglieder sind hörend. Somit sind beide Töchter mit der Lautsprache aufgewachsen und erfuhren von frühester Kindheit an therapeutische Förderung (u.a. Logopädie) und Unterstützung durch die Eltern. Aktuell erlernen beide Schwestern im Erwachsenenalter die Gebärdensprache.
„Jetzt beschäftigen wir uns beide trotzdem mit der Gebärdensprache, weil das eigentlich auch unsere Muttersprache ist und da merkt man auch, dass es leichter ist, mit der Sprache zu kommunizieren.“ (Interview mit Sophia B. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021)
Dass Sophia hochgradig schwerhörig ist, wurde erst im Alter von 2 Jahren festgestellt. Sie besuchte einen Regelkindergarten und anschließend eine inklusive Volksschule. In beiden Einrichtungen konnte sie auch mit ihrem Förderbedarf altersentsprechende Freundschaften knüpfen. Sophia beschreibt diese Freundschaften insbesondere mit Blick auf die Volksschule als gegenseitig und vertrauensvoll. In der Zeit der Volksschule besuchte Sophia eine Integrationsklasse.
„Es war halt schwierig, weil wir eben sehr viel von den Lippen ablesen. […] Dass es für mich ganz schwierig war, wenn die Lehrerin durch das Zimmer gegangen ist und ich das Mundbild nicht immer gesehen habe. Dann war es für mich halt schwierig […] zu verstehen, was gesagt worden ist. […] Für uns ist das Hören doppelt so anstrengend wie für die Hörenden. Nach der Schule war ich dann halt auch oft sehr müde dann, […].“ (Interview mit Sophia B. zum Thema Biografische Einblicke zum Förderbedarf „Hören“ vom 23.04.2021)
Um dem Unterricht gut folgen zu können, mussten neben dem Verständnis für die Situation, welche die Beeinträchtigung mit sich brachte, auch zunächst Rahmenbedingungen geschaffen werden (natürliches, sichtbares Mundbild, Blickkontakt, Einsatz entsprechender Technik, etc.), die es ermöglicht haben, dem Unterricht als Schülerin mit einem Förderbedarf Schwerpunkt „Hören“ folgen zu können, und es mussten zudem Bedingungen hergestellt werden, die ein Gelingen von Prüfungen ohne Benachteiligungen zuließen.
„Wenn man so übertrieben deutlich spricht, dann wirkt das Mundbild auch nicht mehr natürlich, sondern eher verzerrt und das gibt auch einem selber ein ganz komisches Gefühl, wenn dann das Gegenüber so spricht. Weil man dann das Gefühl hat, dass man, ich sag jetzt mal, als dumm oder quasi abgestempelt wird.“ (Interview mit Sophia B. zum Thema Biografische Einblicke zum Förderbedarf „Hören“ vom 23.04.2021)
In Gesprächen sticht für Sophia vor allen Dingen die paraverbale Kommunikation z.B. mit den Aspekten der Artikulation, Stimmlage und Tonfall, mit denen u.a. Doppeldeutigkeiten, Zynismus und Sarkasmus ausgedrückt werden, heraus. Um für den einer paraverbalen Kommunikation zugrundeliegenden Verstecktheiten vorauszugreifen, liegt ihre visuelle Beobachtung stark auf der non-verbalen Kommunikation (z.B. Gestik und Mimik).
„Natürlich schaue ich sehr stark auf die Mimik, auf die Gestik. Vor allem, wenn ich eben nichts verstanden habe, versuche ich dann immer mich dem Gegenüber anzupassen also vom Verhalten her auch oft, also, wenn ich merk also ich verstehe z.B. jetzt nicht, worüber gesprochen wird und es lachen aber alle, dann lache ich halt mit, damit ich nicht die Einzige bin, die nicht lacht.“ (Interview mit Sophia B. zum Thema Biografische Einblicke zum Förderbedarf „Hören“ vom 23.04.2021)
Neben der Schwerhörigkeit liegt bei Sophia auch eine Artikulationsstörung vor, die sich insbesondere auf die Sibilanten, d.h. auf die Reibelaute bezieht. Diese Störung in der Aussprache wurde von den Mitschüler:innen in der weiterführenden Schule zum Anlass genommen, sie zu mobben. Als äußerst verstörend und nicht nachvollziehbar war es für Sophia zu erfahren, dass die vorher ihr in Freundschaft verbundenen Mitschüler:innen aus der Volksschule, sie nun ausgrenzten und mit den neuen Mitschüler:innen aufgrund ihrer Beeinträchtigung aufzogen. Eine besondere seelische Belastung war, dass die Hänseleien, die mit Doppeldeutigkeiten durchzogen waren, so vollzogen wurden, dass sie diese aufgrund ihrer Schwerhörigkeit akustisch nicht richtig verstand. Dies führte ihrerseits zu einer starken Unsicherheit und zu einem starken Misstrauen den Schüler:innen gegenüber. Im Umgang mit Menschen beschreibt Sophia aufgrund dieser negativen Erfahrungen ihr Verhalten wie folgt.
„Ich habe mich schon eine Zeitlang schwer damit getan, ähm sofort eine Bindung zu anderen Menschen aufzubauen. Also da habe ich schon immer eine Zeit gebraucht, bis ich mich komplett geöffnet habe oder ich sage jetzt mal, mein wahres Ich gezeigt habe. Das war schon oft so.“ (Interview mit Sophia B. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021).
Eine Stärkung fand Sophia in neuen Freundschaften. Diese neuen Freundinnen setzten sich in der belastenden Zeit für Sie ein. „Deswegen haben meine Freunde dann auch oft Partei ergriffen und anstelle von mir etwas gesagt.“ (Interview mit Sophia B. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021) Neben dieser Verteidigung konnte sich Sophia ihnen in ihrer Not mitteilen, und sie konnte diese belastende Zeit durch die Stärkung und Unterstützung, die sie erfuhr, überstehen und für sich verarbeiten.
Elisa F. – Eine ehemalige Schülerin mit einer multiplen Körperbeeinträchtigung
„Andere Menschen haben mir geholfen, wieder Vertrauen zum Leben zu fassen – Zu einem Leben mit allen Facetten, mit allem was dazugehört.“ (Interview mit Elisa F. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021)
Elisa erfuhr in der Volksschule im 3. Schuljahr im Alter von 8 Jahren einen Schicksalsschlag – Diagnose Hirntumor. Die Folge waren Gesichtslähmungen und ein Angewiesensein auf den Rollstuhl. Über diese und weitere äußere Merkmale hinaus, sind jedoch die für sie markantesten Veränderungen, die Veränderungen in ihrem Inneren.
„Von heute auf morgen entstand ein Misstrauen dem Leben gegenüber, ähm da mir der Boden unter den Füßen also weggezogen wurde. Erst schrittweise konnte ich wieder Vertrauen in das Leben fassen. Neben meiner Familie haben mir auch meine Freunde dabei geholfen, wieder Vertrauen zu fassen.“ (Interview mit Elisa F. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021)
Nach einer mehrmonatigen Phase geprägt von Behandlungen und dem sich Zurechtfinden mit der sich ergebenen Situation, gemeinsam mit ihrer Familie, konnte sie die Schule wieder besuchen. Sie stieg in den Unterricht mit dem ihr nachfolgenden Jahrgang ein. Da sie eine Montessorischule besuchte und ein jahrgangsübergreifendes Lernen und Arbeiten stattfand, gingen ihr auch die Mitschüler:innen, zu denen sie auch vor ihrer Erkrankung freundschaftliche Kontakte pflegte, nicht verloren. Jedoch kam es auch zu Freundschaftsbrüchen, insbesondere dann, wenn die Freundschaft auch schon vor ihrer Erkrankung in einem Ungleichgewicht war.
„Ja, ich wurde erstmal so ausgebremst und war so, als hätte man mich mal kurz rausgenommen und dadurch habe ich dann auch wie den Anschluss vielleicht verpasst. Und ähm, ja und auch danach konnte man nicht direkt wieder an dem Punkt anknüpfen und weitermachen. Ähm, wenn man vorher in einer Freundschaft gewesen ist, […]. Es hat sich erstmal gezeigt, wer noch wirklich dageblieben ist.“ (Interview mit Elisa F. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021)
Freundschaften sind für Elisa Beziehungen aus Liebe, die sich in einem Gleichgewicht halten sollten. Über das Geben und Nehmen hält sich die Freundschaft für sie in der Balance. Daher war es neu für sie, in der aktuellen Situation in Freundschaften zunächst auch mehr zu nehmen als zu geben. Das Bedürfnis zu geben war trotzdem ungebrochen und dennoch musste sie lernen, auch mit dem Verlust von früheren Freund:innen zu leben und mit der neuen Situation umzugehen.
„Dass diese Verunsicherung einfach größer war, durch ja durch das, was ich alles hinter mir hatte. […] Dass ich einfach total viel Sicherheit und Halt und ja Vertrauen, Verlässlichkeit ähm brauchte, dass das halt noch einen größeren Stellenwert für mich hatte als so alles andere. Als ähm einfach nur gemeinsame Interessen oder so.“ (Interview mit Elisa F. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021)
Heute legt Elisa insbesondere Wert darauf, dass sie sich in einer Freundschaft bedingungslos anvertrauen kann und dass eine gegenseitige wertschätzende Haltung gegeben ist. „Das es nicht berechnend ist, sondern ähm, das ist dann glaub ich auch ein großer Vertrauensaspekt, dass man weiß, dass der andere einen jetzt nicht ausnutzt.“ (Interview mit Elisa F. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021)
Bedeutung des Vertrauens in Freundschaftsbeziehungen bei Kindern
Freundschaftsbeziehungen zwischen Kindern und ihre individuellen Verläufe beinhalten viele positive Aspekte, die eine stärkende Entwicklung der Kinder begünstigen. In Freundschaften erfahren Kinder z.B. wie es sich anfühlt, sich in schwierigen Situationen beizustehen und Halt zu geben, Gefühle zu teilen, Verständnis und Mitgefühl füreinander aufzubringen, Geheimnisse bewahren zu können, sich gegenseitig zu vertrauen und gemeinsam die Welt zu erfahren und zu entdecken. Freundschaften fördern das seelische Gleichgewicht, geben Halt in der sozialen Gemeinschaft und verleihen der eigenen Persönlichkeit Stabilität. Auch Forster-Swaihel (2008) beschreibt diese Aspekte einer Freundschaft in ihrem Artikel „Warum sind Kinderfreundschaften so wichtig und wie lassen sie sich fördern?“ (vgl. Forster-Swaihel in: Textor, Bostelmann 2008) Freundschaften können aber auch die Möglichkeit eröffnen, zu lernen, mit Widerständen und Streitigkeiten umzugehen, Enttäuschungen, Verletzungen oder sogar Freundschaftsbrüche auszuhalten. Im sozialen Miteinander können so im Idealfall Lösungsstrategien für Konflikte entwickelt und die Sozialkompetenzen erweitert werden. Insbesondere diese Fähigkeiten benötigen die Kinder und Jugendliche für das spätere soziale Leben. „Im weiteren Verlauf und vor allem im Jugendalter wird Vertrauen zu einem zentralen Beschreibungsmerkmal für Freundschaften und bedeutet, dem anderen jeweils persönliche Gedanken und Gefühle mitzuteilen bzw. dass Wünsche nach Nähe wie nach Autonomie gegenseitig anerkannt werden (Freundschaftskonzept, Stufe 3 u 4 bei Selman, 1984).“ (Scheuerer-Englisch & Zimmermann, 1997, S.3) Auf der Basis eines Leitfadens für ein Freundschaftsinterview (vgl. Selmann, 1984 S. 153 ff.) wertete Valtin in ihrem Buch „Mit den Augen der Kinder. Freundschaft, Geheimnisse, Lügen, Streit und Strafe“ ausführliche Gespräche mit Kindern über ihre Vorstellungen von Freundschaft und über ihre Freundschaftsbeziehungen aus (vgl. Valtin S.32). Valtin hielt fest, „dass die wichtigste Schlussfolgerung aus den Daten folgende war: Grundlegende Motive für eine Freundschaft, wie der Wunsch nach Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Austausch, Sicherheit, Anerkennung und Zuneigung, sind auf allen Altersstufen die gleichen […]“ (Valtin 1991, S.101).Würker versteht unter Freundschaft „[…] Beziehungen, die gekennzeichnet sind durch ein hohes Maß an Nähe, Offenheit und Vertrauen bzw. Vertrautheit, von Toleranz und von gegenseitiger Akzeptanz, von Bereitschaft füreinander einzustehen und auch unter problematischsten Bedingungen die Hilfsbereitschaft aufrecht zu erhalten“ (Würker in: Korczak 2018, S.86). Geht man von diesen oben genannten positiven Charaktereigenschaften einer Freundschaft aus, kann eine gelingende Freundschaftsbeziehung insbesondere für Schüler:innen mit einem Förderbedarf eine stärkende und aufbauende Wirkung haben. Vertrauen in das Leben, in sich selbst und in andere kann entwickelt, auch Resilienzkräfte können gefördert werden, indem Schwierigkeiten überwunden werden, Konflikt- und Problemlösestrategien ausgebildet und Probleme im Idealfall gemeinschaftlich überwunden werden. Auch der von Selman erstellte Leitfaden für ein Freundschaftsinterview umfasst neben Themen wie „Motive der Freundschaft, Bildung von Freundschaft, Streit und Konfliktbewältigung“ auch das Thema „Vertrauen“ mit folgenden Fragestellungen (vgl. Valtin 1991, S. 33 f.) „Was tun gute Freunde füreinander? Vertraust Du Deinem Freund? Was bedeutet Vertrauen für Dich? Ist es wichtig für Dich, dass Du Vertrauen zu einem Freund hast? Wenn Du etwas angestellt hast, erzählst Du es Deinem Freund? Darf er es weitererzählen? Was wäre, wenn er es weitererzählt?“ (Valtin 1991, S. 33 f.) Bei den Zwölfjährigen steht insbesondere der Wunsch sich der Freundin, dem Freund anvertrauen zu können im Vordergrund. Geheimnisse und Probleme können anvertraut werden, mit der Sicherheit, dass sie nicht verraten werden (vgl. Valtin 1991, S. 78).
„Fast alle Kinder, die ihren Freund als Gesprächspartner betrachten, betonen auch die Vertrauenswürdigkeit des Freundes: Er würde nichts weitererzählen.“ (Valtin 1991, S. 78 f.) „I: Hm. Warum ist es denn wichtig, wenn Du einen Freund hast? – C.: Wenn ich mal was gemacht habe, äh, was nicht ganz gut war oder so was, dem ich es dann auch mal erzählen kann oder so.“ (Valtin 1991, S. 79)
Dreiviertel der befragten Zwölfjährigen sind der Ansicht, die Freundin, der Freund müsse vertrauenswürdig sein. (vgl. Valtin S. 81) Für Jugendliche spielt hierbei auch die Identitätssicherung und die Identitätsentwicklung, für die Freundschaftsbeziehungen die Basis bieten, einen hohen Stellenwert. Die Jugendlichen lösen sich in dieser Phase der Identitätsfindung mehr und mehr von ihren Eltern und nutzen den schützenden Rahmen einer Freundschaft, um ihren Selbstwert zu stärken und ihr Selbstbewusstsein zu entwickeln. (vgl. Vatin S. 100) Diese Möglichkeit der Identitätsentwicklung ist insbesondere dann wichtig, wenn man mit Blick auf Freundschaftsentwicklungen im Erwachsenenalter davon ausgeht, dass Freunde als Spiegel des Selbstwertgefühls betrachtet werden können. So hält auch Ibelaidene in ihrem Artikel „Die Kunst Freunde zu gewinnen“ fest, dass die Qualität einer Freundschaft unmittelbar damit zu tun hat, welchen Wert man sich selbst beimisst und wie liebevoll oder lieblos man mit sich selbst umgeht. Wenn ich mir selbst als Mensch und als Freundin oder Freund wertvoll bin, entwickeln sich auch Freundschaftsbeziehungen, die auf Anerkennung, Respekt und Wertschätzung basieren. (vgl. Ibelaidene in: Korczak 2018, S. 62 ff.)
Markant ist, dass in Interviews mit ehemaligen Schüler:innen mit einem Förderbedarf das Thema Vertrauen als äußerst bedeutsam angesehen wird und eine noch stärkere Gewichtung erfährt. Einen besonderen Stellenwert hat das Thema Verlässlichkeit d.h., dass darauf vertraut werden kann, dass z.B. Absprachen und Verabredungen eingehalten werden. Dass man dem anderen auch vertrauen kann, ganz wichtig ähm ja oder dass man sich auf den anderen verlassen kann, wenn er jetzt gesagt hat, wir treffen uns da und da und dass er dann auch wirklich da hingekommen ist und nicht irgendwie im Stich gelassen hat. (Interview mit Elisa F. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021)
Einblicke in die Seminargestaltung zum Thema Freundschaftsbeziehungen in der Kindheit für Studierende der Primarstufe und der Elementarpädagogik
Sowohl bei Lehrer:innen in der Schule (Volksschule) als auch in den Arbeitsfeldern der Elementarpädagog:innen wie z.B. dem Kindergarten, dem Hort, der Offenen Ganztagsschule oder der Kinder- und Jugendhilfe stehen Freundschaftsbeziehungen zwischen Kindern im Mittelpunkt des pädagogischen Lebens. Lehrer:innen und Elementarpädagog:innen mit ihrer eigenen biografischen Geschichte sind Vorbilder für Kinder, insbesondere auch, was die Gestaltung von zwischenmenschlichen (sozialen) Beziehungen angeht. Daher ist es wichtig, das Thema Freundschaft nicht nur auf der fachwissenschaftlichen Ebene, sondern auch auf der autobiografischen Ebene zum Gegenstand des seminaristischen Arbeitens an der Hochschule und in der Ausbildung zu machen. Das in diesem Zusammenhang durchgeführte Seminar „Freundschaftsbeziehungen in der Kindheit“ als Teil des Professionalisierungs- und Biografieprojektes „Die Welt mit Kinderaugen betrachtet“ ermöglicht, den Studierenden einen Zugang zum Thema Freundschaft mit der Unterstützung von künstlerischen Mitteln. Das auf fachwissenschaftlicher Ebene erworbene Wissen und die über den autobiografischen Zugang erlangten Erfahrungen werden genutzt, um einen pädagogischen Transfer zur eigenen Lebenspraxis sicherzustellen. Durch den Rückblick auf die eigene Kindheit und Jugend entsteht ein Bewusstsein für die Bedeutung von Freundschaften und deren Einfluss auf das Leben. Freundschaftliche Beziehungen in der Kindheit können sogar Auswirkungen auf die Lebensprozesse des Menschen im Jugendlichen- und Erwachsenenalter haben; so zum Beispiel auf die partnerschaftliche Entwicklung, die persönliche Stellung in der Gesellschaft und auf berufliche Entscheidungsprozesse. Die Studierenden erleben es als besonders bereichernd, dass persönliche Aspekte auch einen Anteil im Seminar haben und ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass die eigene Entwicklung einen Einfluss auf die Kinder hat, die von den Studierenden in den pädagogischen Einrichtungen unterrichtet und begleitet werden. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Biografie, hier bezogen auf das Thema Freundschaft, setzt die Bereitschaft zur Selbstreflexion voraus. Zugänge zur Selbstreflexion und zu einem gemeinsamen Austausch, werden den Studierenden im Seminar durch die Möglichkeit des künstlerischen Ausdrucks gegeben. Das Malen z.B. mit Pastellkreide, das Verfassen von Texten (kreatives Schreiben) und die Gestaltung und Umsetzung szenischer Darstellungen erweisen sich als Türöffner für neue Lernfelder sowohl auf biografischer als auch auf fachwissenschaftlicher Ebene. Die kreativ-künstlerische Herangehensweise gibt den Studierenden darüber hinaus Halt und Sicherheit für Ihre Lernprozesse. In Interviews, die sich an die Seminare anschließen, berichteten die Studierenden davon, dass die Kombination aus einem künstlerischen Zugang, den fachwissenschaftlichen Inhalten und dem biografischen Rückblick auf das eigene Leben (als Kind bzw. als Jugendliche, Jugendlicher) einen sehr positiven und nachhaltigen Effekt auf ihre Arbeit mit den Kindern in der Praxis haben. Darüber hinaus konnten sie ihre eigene Kindheit und Jugend für sich neu und wertschätzend entdecken.
Als Beispiel ist der Beitrag von Kindheitspädagogik-Studentin Sina Westermann zu nennen, welche im Seminar eine besondere Freundschaftsbeziehung aus der Grundschulzeit reflektierte und diese künstlerisch mit einem Leuchtturm assoziierte: „Als ich dich kennenlernte, lernte ich gleichzeitig mich selbst kennen. Du hast mir gezeigt, wie wertvoll es sein kann, einen Freund an seiner Seite zu haben, der einen vom Kopf bis zu den Zehenspitzen liebt. Wenn du an meiner Seite warst, konnte mir niemand etwas. Ich war doppelt so stark und doppelt so mutig. Die Sicherheit, die du mir gegeben hast, ließ mich so selbstbewusst werden... Durch dich fühlte ich mich innerhalb kürzester Zeit angekommen. Sowohl in der neuen Klasse, als auch im Leben selbst.“ (Sina W., 2019, Auszug aus einem Brief an ihre Freundin aus der Volksschulzeit, entstanden im Seminar „Freundschaftsbeziehungen in der Kindheit“.)
Neben der oben dargestellten innovativen Seminargestaltung zum Thema Freundschaft und Vertrauen wird abschließend noch der Blick auf die Gestaltung eines inklusiven Unterrichts an der Volksschule gerichtet. Verschiedenste Faktoren und Entwicklungen machen das Arbeiten und das Gestalten von Unterricht an der Volksschule immer herausfordernder und komplexer. Gesellschaftliche Veränderungen, ministerielle Vorgaben, vielschichtiger Situationen an den Schulen, Kinder mit komplexeren Bedürfnissen in der Förderung, größere Klassenstärken und vermehrte Elternarbeit seien unter anderen als einige Faktoren genannt. Diese Faktoren beeinflussen direkt aber auch indirekt den Unterricht und können sowohl bei Eltern und Schüler:innen als auch bei Lehrer:innen zu Verunsicherungen und Herausforderungen führen. Mit Blick auf diese Veränderungen gewinnt eine Pädagogik des Vertrauens für ein soziales Miteinander an der Schule zunehmend an Bedeutung. Im Mittelpunkt, als Vertrauensträger, stehen die Lehrer:innen, denen sowohl die Eltern als auch die Schüler:innen Vertrauen entgegen bringen. Die Eltern vertrauen darauf, dass Ihre Kinder in bestmöglicher Weise unterrichtet und gefördert werden und die Schüler:innen vertrauen darauf, dass eine Basis für ein soziales Miteinander und für ein gemeinsames Lernen geschaffen wird. „Wenn Vertrauen, Fürsorge, Geduld und Liebe zu grundlegenden Werten einer inklusiven Pädagogik werden, können Verschiedenheiten und die damit verbundenen Spannungsfelder ausgehalten werden.“ (Wirts et al. 2017, S. 18) Somit werden höhere Anforderungen an die Lehrer:innen gestellt, die ihrerseits darin gestärkt werden müssen, um eine Pädagogik des Vertrauens verkörpern zu können. Im Mittelpunkt steht hier neben dem Vertrauen der Lehrerin des Lehrers in die eigenen Fähigkeiten und Haltungen insbesondere auch das Vertrauen in die eigene Person als Pädagogin als Pädagoge. Eine vielschichtige Fach-, Beratungs- und Konfliktlösekompetenz, Mediations- und Moderationskompetenz sowie ein Wissen um die eigne Biografie, verbunden mit einer Selbstreflexionskompetenz können die Basis für ein gesundes Vertrauen in sich selbst sein, was es wiederum ermöglicht, nach außen ein Vertrauen zu vermitteln und zu leben, dass sowohl Schüler:innen als auch Eltern Halt geben kann. Insbesondere Schüler:innen benötigen das Vertrauen der Lehrerin des Lehrers im Sinne eines Zutrauens, einer Geborgenheit (vgl. Bollnow 2009, S.262). Dass Schüler:innen etwas zugetraut wird, dass sie z.B. selbstentdeckend lernen können, sich aus eigener Kraft zum Positiven weiterentwickeln auch im Persönlichen und Sozialen, öffnet und stärkt das Selbstvertrauen der Schüler:innen, was wiederum einen positiven Effekt auf die Selbstwirksamkeit hat.
Literatur:
Bollnow, Otto Friedrich (2009): Die Ehrfurcht - Wesen und Wandel der Tugenden. In: Otto Friedrich Bollnow Schriften in 12 Bänden, hrsg. von Boelhauve, Ursula et. al. Würzburg: Königshausen & Neumann. (S. 261 - 268)
Booth, Tony (2017): Wie sollen wir zusammenleben? Inklusion als wertebezogener Rahmen für die pädagogische Praxis. Frankfurt am Main: GEW – Jugendhilfe und Sozialarbeit.
Forster-Swaihel, Evelyn (2008): Warum sind Kinderfreundschaften so wichtig und wie lassen sie sich fördern? In Textor, Martin / Bostelmann, Antje (Hg.): Das Kita-Handbuch. (https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/soziale-und-emotionale-erziehung-persoenlichkeitsbildung/1945) aufgerufen am 03.09.2021
Ledl, Viktor (2004): Kinder beobachten und fördern. Eine Handreichung zur gezielten Beobachtung und Förderung von Kindern mit besonderen Lern- und Erziehungsbedürfnissen. Bildungsverlag Eins.
Ibelaidene, (2018): In Korczak, Dieter (Hg.): Freundschaft. Von Aristoteles bis Facebook. Kröning: Asanger. (S. 59 - 74)
Petermann, Franz (2013): Psychologie des Vertrauens. 4. Aufl. Göttingen: Hogrefe.
Selman, Robert (1984): Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Entwicklungspsychologische und klinische Untersuchen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Valtin, R. (1991): Mit den Augen der Kinder. Freundschaft, Geheimnisse, Lügen, Streit und Strafe. Reinbek: Rowohlt.
Würker, Achim (2018): Schulfreundschaften. In Korczak, Dieter (Hg.): Freundschaft. Von Aristoteles bis Facebook. Kröning: Asanger. (S. 85 - 99)
Die hier verwendeten Interviews können in transkribierter Form beim Autor eingesehen werden.
Michael Brockmann M.A.
Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems
Institut Ausbildung Wien
Campus Strebersdorf
Mayerweckstraße 1
1210 Wien