Inklusion und Exklusion als reale Erfahrungen
Die bitterlichen Grenzen der Inklusion sind die realen Erfahrungen der Exklusion.
(Josef Fragner, Chefredakteur)
Intro:
Inklusion und Exklusion als reale Erfahrungen
Inklusion und Exklusion werden meist leichtfüßig und fluid auf der Ebene des Symbolischen diskutiert. Adressierungen und Zeichen sind nicht so widerständig wie die Realität des Körpers, der Dinge, der strukturellen Versteinerungen; auf diese Weise werden die realen Verhältnisse „wegdekonstruiert“. Die bitterlichen Grenzen der Inklusion sind jedoch die realen Erfahrungen der Exklusion.
„Es geht nicht um kitschige Phantasien oder Paradiesvorstellungen, sondern um eine widersprüchliche und hindernisreiche Praxis“, so Mai-Anh Boger, die dieses Heft kuratiert hat. Inklusion haben wir mit all den Widersprüchen und Ambivalenzen zu denken und zu leben. Inklusion und Exklusion als Erfahrungen zu untersuchen, bedeutet für Mai-Anh Boger, dem singulären Subjekt wieder mehr Raum zu geben und besonders die beiden Ebenen, das Subjektive und das Strukturelle, zusammen zu denken.
In ihrem Beitrag, gemeinsam mit Malte Brinkmann, geht es zunächst um eine phänomenologische Konturierung der Erfahrung von Inklusion. Dabei wird versucht, die jeweils andere Erfahrung nicht zu normalisieren oder zu kolonialisieren, sondern sie in ihrer jeweiligen Artikulationsweise anzuerkennen. Bildungsprozesse sollen ermöglichen, von Kulturen der Exklusion hin zu Kulturen der Inklusion umzulernen bzw. einen anderen Umgang mit Behinderung einzuüben.
Jens Geldner beschäftigt sich mit dem Problem der Repräsentation realer Erfahrungen in Wissenschaft und Politik. Fast alle kennen den „Inklusionskreis“, in dem Menschen, visualisiert durch Punkte oder Piktogramme, drinnen oder draußen sind. Das nährt nur naive räumliche Vorstellungen von Inklusion und basiert auf einer sehr einfältigen Vorstellung von Gesellschaft, in der es weder Konflikt noch Widerstreit gibt. Geldner schlägt eine andere Darstellungsweise vor: Es ist eine weiße Fahne, aus derem Zentrum ein Kreis ausgeschnitten wurde, die also kein vordefiniertes Zentrum hat. Stellt man jedoch die Fahne an einem beliebigen Ort auf, so erscheint der jeweilige Hintergrund als Zentrum. Jedoch die kleinsten Bewegungen verändern die Sichtweisen für das Zentrum, also für „Inklusion“.
Notwendig für Inklusion ist Anerkennung, nach Axel Honneth aufgeteilt in Liebe, Respekt und Wertschätzung. Anerkennung baut jedoch nach Sina Isabel Freund nicht einfach Hierarchien ab, sie kann diese sogar verfestigen. Es bedarf vieler Fragen, um immer wieder neu zu schauen, was Anerkennung in Prozessen der Inklusion bewirkt.
Katharina Maria Pongratz stellt die Frage, ob Inklusion als soziale Handlung von Körpern zu verstehen ist. Schon Bourdieu beschreibt, dass einzelne „Klassen“ sich erst durch soziale Praktiken formieren und verfestigen. Diese soziale Praxis gilt es, verstärkt in den Blick zu nehmen.
„Wer bin ich?“ „Wie will ich gesehen werden?“ Solche Identitätsfragen werden zunehmend in den sozialen Medien gestellt. Ulrike Witten geht dieser „Identitätsarbeit“ nach und findet, dass der digitale Raum für Selbstermächtigung, aber auch für Hate Speech genutzt werden kann.
Die Fußballeuphorie wird beim Erscheinen dieses Heftes schon wieder abklingen, aber eine Frage bleibt, der Sven Bärmig in seinem Beitrag nachgeht: Ist Fußball inklusiver als Schule und benötigt Schule wie das Fußballspiel eine bestimmte Expertise aus Erfahrung, um erfolgreich zu sein?
Kerstin Ziemen erforscht mit ihrem Team die aktuellen Spannungsverhältnisse im Distanzunterricht während der Pandemie. Die Gefahr einer weitgehenden Isolation trifft vorwiegend Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Geistige Behinderung.
Der Magazinteil glitzert von Splittern aus dem Leben in der Exklusion. Etwa die kurzen Einblicke in das neueste Buch von Christoph Keller: „Jeder Krüppel ein Superheld“. Oder die bange Frage: „Bin ich schuld, dass Mama/Papa nicht arbeiten kann?“, die Kinder stellen, wenn sie merken, dass die Eltern immer wieder einspringen müssen, weil die Unterstützungssysteme brüchig sind. Oder die salbungsvollen Reden vom inklusiven Arbeitsmarkt, die Gerhard Einsiedler nicht mehr hören kann, weil nicht der geringste Fortschritt sichtbar ist.
Wir haben mehr zu tun, als coole Wörter über Inklusion zu finden, wir haben dafür einzutreten, dass sich die realen Verhältnisse ändern.
Inhalt:
Artikel | |
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Zur Phänomenologie der Erfahrungen von Inklusion, Exklusion und Behindert-Werden
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Inklusion, Exklusion und das Problem der Repräsentation realer Erfahrungen in Wissenschaft und Politik
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Drei Richtende und die Frage der Blickrichtung
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Inklusion als soziale Praxis?
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Identitätsarbeit in sozialen Netzwerken
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Expertise für Inklusion
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Spannungsverhältnisse im Distanzunterricht
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„Bin ich schuld, dass Mama/Papa nicht arbeiten kann?"
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Wie Corona unsere Gesellschaft spaltet
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Die Wissenschaft lässt mich nicht los – die Welt auch nicht
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Splitter aus dem Leben in der Exklusion
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Teil 2: Das ziemlich besteTeam – woher nehmen?
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Die Schwachen zuerst
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Blackboard Resilience
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Eine Reise, die gerade erst beginnt
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Impulse für den inklusiven Arbeitsmarkt
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Mit Zuversicht und Feuereifer dabei
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„So froh, dass wir arbeiten können“
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Von der Mitwirkung zur Mitbestimmung
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„Dann wagen wir das"
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Auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungssystem?
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Stillstand statt Segregationsabbau
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Alle Menschen sollen teilhaben können
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Inklusion über digitale Fähigkeiten
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Wie Inklusion gelingen kann
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Als der Schriftsteller Josef Burg einmal Deutsch unterrichten wollte
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Maskenbefreiung im Krankenhaus
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Der Teufel hinkt und die Lahmen laufen
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