Thema der Ausgabe 1/2021:

Da-Sein bis zuletzt

Palliativ Care steht immer an der Seite der Menschen, bis zuletzt.
(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Da-Sein bis zuletzt

Ohne an der Hand der Liebsten ist es ein einsames Sterben, das Virus erzwingt es. Die meisten wollen angesichts des nahenden Endes noch so leben, wie sie es stets getan haben. Sie verlangen nach dem gleichen Kuchen, der ihnen immer schon schmeckte, sind neugierig auf Geschichten, die sie schon so oft gehört haben, sie interessieren sich für das Alltägliche, das ihrem Leben Kontinuität verliehen hat. Und sie wollen diesen Lebensabschnitt mit ihren Nächsten beenden.

Das ist auch der Wunsch von behinderten Menschen. Sie wollen in ihrer letzten Lebensphase nicht einsam verschwinden in Pflegeheimen, wo sie niemanden kennen, auf Krankenstationen, die ihnen völlig fremd sind. An dieser Schwelle zeigt sich besonders, was Menschenwürde konkret bedeutet.
Dieses Heft eröffnet Agnieszka Maluga mit der Forderung, den Kindern ein Recht auf den Tod zuzugestehen. Das mag auf den ersten Blick als Zumutung erscheinen. Es sind keineswegs Argumente für aktive Sterbehilfe, im Gegenteil. Die Kinderhospiz-Bewegung lebt auf sensible Weise eine Pädagogik der Achtung im Sinne von Janusz Korczak. Das Kinderhospiz Tŷ Hafan hat Christoph Soeder mit seiner einfühlenden Kamera besucht. Er sieht Kinder, die verletzlich sind und uns in ihrer Hilflosigkeit anrühren, aber auch Kinder, die reif und stark sind und im Hier und Jetzt leben.
Zur Situation von Menschen mit Behinderung am Lebensende liegen im deutschsprachigen Raum bisher nur wenige empirische Erkenntnisse vor, obwohl die Zahl der älteren Menschen mit Behinderung in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Drei Universitäten haben sich in den letzten Jahren zum gemeinsamen Forschungsprojekt „Palliative Care for people with intellectual and multiple disabilities – a survey of research and practices (PiCarDi)“ zusammengeschlossen, um diese Lücke zu schließen. Wir stellen die wichtigsten Erkenntnisse in diesem Heft vor.
Sven Jenessen und Sabine Schäper skizzieren die Matrix, welche an Selbstbestimmung, Teilhabe, Professionalität und Solidarität sowie Versorgungsqualität als Leitideen einer guten Versorgung und Begleitung am Lebensende ausgerichtet ist.
Sabine Schäper und Barbara Schroer fordern eine bewusste „Gegenkultur“, in der Menschen in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, unabhängig vom Schweregrad ihrer Beeinträchtigung.
Christine Fricke, Julia Heusner und Helga Schlichting berichten von der belasteten Ohnmacht der Angehörigen, ob ihre Liebsten in der letzten Lebensphase in der gewohnten Umgebung bleiben können. Wenn auch bei größter Anstrengung ein Wille nicht verlässlich ermittelt werden kann, so darf das Recht auf Selbstbestimmung nicht in Frage gestellt werden.
Nach Kristin Fellbaum, Sven Jennessen und Judith Lilly Alber verbinden die meisten Menschen mit einem guten Sterben den Wunsch, umfänglich versorgt, umsorgt und begleitet zu sein.
Auf Barrieren bei der palliativen Versorgung machen Sandra Falkson und Karin Tiesmeyer aufmerksam. Sie fordern deren Einbeziehung in die Entscheidungsfindung und mehr wissensbasierte Zusammenarbeit der einzelnen Bereiche.
Monika T. Wicki berichtet über die aktuellen Entwicklungen in der Schweiz. Bei der vorausschauenden Behandlungsplanung (Advance Care Planning) sind Lebensfreude und Krankheitserfahrung zentrale Elemente.
Sophia Falkenstörfer plädiert für eine neue gesellschaftliche Kultur, in der die Sorge für sich und andere einen eigenen Stellenwert bekommt, weil sie den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet und das „innerste Wesen des ethischen Lebens“ darstellt.
„Palliative Care, in ihren besten Momenten, respektiert ihre Patient*innen, deren Stil und Integrität – den Ton der Lebensgeschichte, das Gewebe ihrer Beziehungen zur Welt. Sie lässt sie aber niemals alleine und bleibt in täglichen kleinen Siegen, aber auch im Scheitern, an der Seite der Menschen, die sich ihr anvertrauen“, bringt es David Fuchs auf den Punkt.
In Österreich hat vor kurzem der Verfassungsgerichtshof die Regelung aufgehoben, wonach Beihilfe zum Suizid strafbar ist. Franz-Joseph Huainigg plädiert für ein würdevolles Leben bis zuletzt und warnt vor Sterbehilfe. Bei behinderten Menschen dürfen wir nicht geschichtsvergessen über diese Fragen diskutieren. Die „Euthanasie“ war keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern diese setzten nur grausam um, was schon vorher heftig diskutiert wurde. Die massenhafte Tötung wurde schleichend vorbereitet: Bestimmten Personengruppen wurde das „echte“ Personsein abgesprochen, persönliche Verantwortung durch bürokratische ersetzt, Mythen einer „reinen“ Gemeinschaft wurden aufgebaut und „harte“ politische Positionen eingenommen und in die Tat umgesetzt. Wir sollten nicht nur aufmerksam auf die ökologische Klimaveränderung achten, sondern auch auf mögliche gesellschaftliche und soziale Klimaänderungen, wenn sie auch unter dem Banner der Selbstbestimmung daherkommen.

 

Inhalt:

Artikel
Gute Begleitung und Versorgung am Lebensende
Einbezogen werden, beteiligt sein und Entscheidungen treffen
Selbstbestimmt leben – selbstbestimmt sein auch in der letzten Lebensphase
Multiprofessionell, sicher, kompetent – Versorgungsqualität für Menschen mit Behinderung am Lebensende
Palliative Versorgung – Barrieren der Inanspruchnahme für Menschen mit Behinderung
Begleitung von Menschen mit Behinderung am Lebensende
Care und Fragen des guten Lebens(endes)
Das Recht des Kindes auf den Tod
Sorge um den Tod
Sterben und Tod im Wohnheim
Förderschule im Lockdown
Wo sich Palliative Care und Behinderung treffen können
Im Hier und Jetzt
„Wirf sie in den Fluss – sie wird niemand zur Frau nehmen"
Nationalbank und Heereswesen
Barrieren im Internet
Der Patientenwille im Vordergrund
Das Lebensende im Fokus der Forschung
Bekämpft die Not Sterbender, aber tötet sie nicht!
„Ich bin ein lebensfroher Mensch“
Wenn Leben zu Ende gehen
Georg Feuser – solidarisch, standfest, empathisch
Atelierblaue Sichtweisen