Leben im sozialen Miteinander am Loidholdhof
Einen Tag lang am Loidholdhof verbringen – da wird das, was man über Handlungspädagogik, Sozialgestaltung, Sozialtherapie oder Rudolf Steiner und Anthroposophie gelesen hat, begreifbar. Ich erlebe Gemeinschaft: wertschätzend, eigenverantwortlich, gleichberechtigt, ressourcenorientiert.
Der Loidholdhof ist ein traditioneller Bauernhof, der außerhalb von Sankt Martin im Mühlkreis idyllisch oberhalb der Donau liegt und mittlerweile rund 50 Hektar Wald‑, Feld-, Wiesen- und Gartenflächen umfasst. Zweieinhalb Stunden Autofahrt haben Spuren hinterlassen: Stress, Unruhe und Hektik, als ich eintreffe. Ein aufmunterndes Hallo empfängt mich. „Kann ich dir helfen, suchst du jemanden?“ Ein Mitarbeiter des Hofes nimmt mir sofort meine Unruhe. Es entwickelt sich ein Gespräch und ich werde zum Hofsprecher Achim Leibing geführt. Auch dort ein freundliches Hallo, das Du entsteht ganz wie von selbst in Sekundenschnelle. Die Einladung zu einem Kaffee nehme ich dankbar an – jetzt bin ich wirklich angekommen.
Eigentlich hätte der gemeinsame Tag mit dem Morgenkreis um 9 Uhr beginnen sollen – in Zeiten von Corona unmöglich. Sämtliche Hofbewohnerinnen und Hofbewohner stimmen sich da in dem im Jahr 2009 umgebauten Festsaal auf den Tag ein. Auch die gemeinsamen Hofkonferenzen finden dort statt. Ein Ort, der durch seine Farbgebung und Bilder ganz viel Ruhe und Kraft vermittelt.
Wir unterhalten uns völlig entspannt – so als ob ich nicht zum ersten Mal hier wäre. Immer wieder wird unser Gespräch mit Begegnungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Loidholdhofs bereichert. Sie nähern sich höflich und fragen, ob sie sich dazusetzen dürfen. Sie folgen unserem Gespräch interessiert, beobachten mich, um mich dann manchmal zu fragen, wer ich sei und woher ich komme. Andere wiederum haben Fragen an Achim Leibing, die ihre Arbeit betreffen. Diese werden freundlich und unaufgeregt beantwortet. Nach einem „Aha“ oder „Okay“ wissen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, woran sie sind und machen sich an ihre Arbeit.
Wir beginnen unseren Spaziergang. Nach wenigen Schritten fällt mein Blick wie magisch auf ein neu errichtetes Gebäude. Achim Leibing ist meinen Blicken gefolgt: „Das war einmal ein Steinhaufen, zu dem der alte Stall am Loidholdhof verfallen war“, kommt er meiner Frage zuvor. Was jetzt zu sehen ist: ein wunderschönes Gebäude – der Kreativ- und Bildungsstadl. „Auch aus bautechnischer Sicht ist dieses Atelier ein Meilenstein. Denn gemeinsam mit dem Baubiologen Alfred Ruhdorfer wurde auf eine kreislauffähige Ausführung Wert gelegt“, erklärt Leibing nicht ohne Stolz. Für ihn ist dieser Neubau ein weiterer Schritt in Richtung Öffnung der integrativen Hofgemeinschaft. 3200 Arbeitsstunden hat die Hofgemeinschaft selbst für ihre Akademie geleistet und im Gegenzug wurden die externen Arbeiter etwa bei gemeinsamen Mittagessen Teil der Hofgemeinschaft.
Freie Akademie Loidholdhof
Der im Jahr 2017 umgebaute Steinstall bietet nun als geräumiges, helles Atelier Platz und Möglichkeiten, um Lern- und Bildungsräume zu eröffnen – er ist das Zentrum und Herz der Freien Akademie Loidholdhof. Die Idee: Bildung neu denken. „In unserem bestehenden Bildungssystem fällt ein Teil der Menschen heraus, es ist vielfach von oben nach unten ausgerichtet. Wer die Hürde zum Studieren oder zum Erlernen eines Berufes nicht schafft, für den gibt es kein passendes Angebot. Am Loidholdhof soll man nicht nur leben und arbeiten, sondern sich auch bilden können.“ Dieser Ort wird vor allem als „Werkstatt gleichberechtigter Künstlerinnen und Künstler“ verstanden, wo jeder für sich und gleichzeitig für alle anderen arbeitet.
Wertvolle Impulse gibt es dabei vor allem von Hannes Weigert. Er ist „freischaffender“ Maler und kam im Jahr 2018 an den Loidholdhof. Zuvor hatte er in einer Camphill-Einrichtung in Norwegen die bemerkenswerte und international geachtete Malerverksted von Vidaråsen Landsby aufgebaut (siehe auch Seite 19). Sein derzeitiger Status ist „artist in residence“. Er setzt seine in Norwegen begonnene Arbeit hier am Hof fort. Die neuen Verpackungen oder ein Bier-Etikett gemeinsam mit Lukas Prinz wurden so kreiert. Mir erschließen sich gerade neue Zugänge zu Bildung und Kunst – danke.
Vier Stunden verbringe ich mit Achim Leibing – wir reden, er führt mich durch den Hof. Und immer wieder offene Blicke, freundliche Worte; und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mir stolz ihre Tätigkeiten erklären – sie selbst und nicht die Leiterinnen und Leiter der jeweiligen Arbeitsbereiche wenden sich an mich. „Wir brauchen uns gegenseitig, jeden Tag. Wenn gemeinsam die Felder bestellt, die Kühe gefüttert, das Gemüse angebaut und geerntet, das Brot gebacken, das Essen zubereitet wird,“ bringt es Achim Leibing auf den Punkt.
Einmal bin ich im Selbstgespräch: Ein frischgeborenes Kalb kauert bei seiner Mutterkuh. „Das wäre jetzt gefährlich, mich der Kuh zu nähern.“ Ein lautes und selbstbewusstes „Das sehe ich ganz anders als Sie“ holt mich aus meinen Gedanken. Eine Mitarbeiterin, Ursula Punzenberger, outet sich als Kennerin ihrer Tiere und schildert mir den friedfertigen Charakter ihrer „Samira“. Okay, jetzt bin ich klüger – danke.
Beim köstlichen Mittagessen – es gibt Kürbiscremesuppe und Nudeln mit Pilzsauce: alles biodynamische Produkte, der Loidholdhof ist ein zertifizierter Demeterbetrieb – komme ich mit Jannik Fallmann ins Gespräch. Er studiert an der Fachhochschule in Linz, hat am Loidholdhof seinen Zivildienst gemacht – und der Loidholdhof lässt ihn nicht mehr los. Wenn es ihm seine Freizeit erlaubt, ist er weiterhin dabei: als Ehrenamtlicher. Ich lerne auch Wiebe Soepboer kennen: Er lebt in Estland und besucht mit seinem Wohnmobil immer wieder den Loidholdhof, „weil es da ganz besonders ist“.
Der Blick nach außen
Diese Öffnung nach außen ist Achim Leibing sehr wichtig: „Unsere Gemeinschaft ist verwoben mit der umgebenden Gesellschaft, wir sind mittendrin.“ Es vergehe kaum eine Woche, wo nicht Gäste aus dem In- und Ausland kommen, die sich für die Gemeinschaft am Hof interessieren. Das Miteinander sei offen für die Umgebung, einladend für jede/n: Die unmittelbaren Nachbarn genießen das Café, viele Interessierte besuchen die Veranstaltungen und einige helfen bei der Arbeit in der Landwirtschaft. Man sei auch gut in die Gemeinde St. Martin im Mühlkreis eingebunden. Doch auch darüber hinaus werden die Antennen nach außen gerichtet: Ausdruck dafür sind die von Achim Leibing seit dem Jahr 2007 initiierten Kultur- und Bildungsreisen. „In allen Ländern begegnete uns immer so viel an unerwarteter Menschlichkeit. Auf ganz unterschiedliche Art und Weise, immer tief berührend, gerade auch dort, wo wir es gar nicht erwartet oder damit gerechnet haben“, fasst der Hofsprecher zusammen. Einige Stationen: Rom, Paris, Berlin, St. Petersburg, Istanbul, Amsterdam, Moskau, Florenz, London. Seit einigen Jahren hat es sich etabliert, dass man vor Ort auch immer eine soziale Initiative besucht. Daraus haben sich dauerhafte Freundschaften und Folgeprojekte entwickelt. „Es sind tolle und wagemutige Unternehmungen, auf sehr hohem kulturellen Niveau.“ Ich bin beeindruckt: gemeinsam die Welt entdecken – wie wertvoll!
Hofladen mit Köstlichkeiten
Reich an Eindrücken und Erfahrungen denke ich an den Abschied. Doch davor noch ein Abstecher in den Hofladen. Und da gehen meine Augen auf: Ein vielfältiges Angebot an Produkten, die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Hof hergestellt worden sind, erwartet mich. „Alles Kostbarkeiten von höchster Qualität“, erklärt mir eine junge Dame. Basis dafür ist das hofeigene Getreide: Ur-Dinkel, Lichtkornroggen, Goldblumenweizen, Purpurweizen, Speise-Hafer, Einkorn, Emmer, Speise-Gerste, Rothirse, Buchweizen, Lein. Diese finden sich wieder in Mehlen, Grießen, ganzen Körnern, Flocken und Müsli. Jetzt ist Achim Leibing zur Stelle: „Das Besondere daran ist die Verarbeitung der Mehle.“ Mein fragender Blick ermuntert ihn zu einem weiteren Satz: „Es ist unsere Zentrofan Vollwert-Mühle.“ Mein Blick wird nicht weniger fragend. Endlich des Rätsels Lösung: Im Gegensatz zu den rotierenden Mahlsteinen herkömmlicher Getreidemühlen basiert der Mahlvorgang bei diesen Mühlen auf einem stillstehenden, zylindrischen Mahlstein aus Basalt-Lava. Durch den stillstehenden Mahlstein wird das Mahlgut nicht gequetscht, sondern am Mahlstein im ständig verwirbelten und kühlenden Luftstrom abgeschliffen. Es entsteht kaum Reibungshitze, alle Nährstoffe und Vitamine aus dem vollen Korn bleiben erhalten! Schonender ist die Mehlzubereitung kaum möglich. Und schon wieder bin ich beeindruckt – und kaufe fleißig ein.
Nun ist es aber wirklich Zeit für den Abschied: Ich werde wiederkommen, das ist meine Überzeugung. Optimismus und Freude begleiten mich auf der Autofahrt nach Hause. Die Worte von Achim Leibing beschäftigen mich: „Eine sozialtherapeutische Gemeinschaft versteht sich nicht als eine Institution, die Dienstleistungen für Kunden im marktwirtschaftlichen Sinne erbringt, sondern sie ist ihrem Selbstverständnis nach ein Sozialraum bzw. Gemeinwesen, das von allen Mitgliedern gemeinsam entwickelt, verantwortet und gestaltet wird.“ Wie recht er hat und wie gut das funktioniert. Schade, dass sich das bei vielen Verantwortlichen in der Behindertenhilfe noch nicht herumgesprochen hat.
Tätigkeitsfelder:
Rund 50 ha Landwirtschaft (Tierhaltung, Feld- und Waldbewirtschaftung), Imkerei, Gärtnerei (Feingemüsebau, Kräuterverarbeitung, Glas- und Folienhaus), Bäckerei, Holz- und Webwerkstatt, Küche, Hauswirtschaft, Wäscherei, Hausreinigung, Loidhold-Kulturcafé und Hofladen
Individuelle Wohnformen:
Die Wohnformen sind so unterschiedlich wie die persönlichen Bedürfnisse. Manche wohnen in Einzelzimmern, manche in Paarwohnungen, teilweise begleitet oder voll betreut. Aber auch Familien- und Mitarbeiterwohnungen sind im Gebäude verstreut. So bleibt die Gemeinschaft erhalten – auch nach der Arbeit und in der Freizeit.
Besonderes:
Bildungsangebote im Rahmen der Freien Akademie am Loidholdhof.
Künstlerische Angebote, erweiterte ganzheitliche medizinische Begleitung (auf anthroposophischer Basis), Chor- und Schauspielgruppe.
Hofzeitung „Dreiseiter“.
Info: www.loidholdhof.at