Wollen wir Social Robots oder Social Humans?
Oft habe ich das Gefühl, in einem Paralleluniversum zu leben. Während Freunde von uns ernsthaft schlaflose Nächte haben, weil sie über die Anschaffung einer neuen Dunstabzugshaube grübeln, stehe ich nachts mehrmals auf, um Willi zu wickeln und um ihm im Schlaf heimlich eine Stütze an sein Handgelenk zu machen.
Wenn ich dann nicht wieder einschlafen kann, grüble ich zurzeit darüber nach, was Willi wohl hat mit seiner Hand. Er kann ja die Fragen der Ärztin nicht beantworten. Morgens weint er, sagt „Aua“, schlägt auf seine Hand und schließt und öffnet sie immer wieder. Ist sie eingeschlafen und kribbelt? Hat er vielleicht ein Karpaltunnelsyndrom? Wie sollen wir das bloß herausfinden? Über solche Dinge denke ich nach, NIEMALS aber über Dunstabzugshauben. Einerseits genieße ich es, wenn es in Unterhaltungen nicht ständig um das Thema Behinderung geht. Trotzdem ist es manchmal schwierig für mich, Problemen zuzuhören, die ich einfach unwichtig finde.
Sorgen und smarte Gedanken
Auch unsere Tochter Olivia (11) ist oft ein Sonderling unter ihren Freundinnen. Sie trägt kein Glitzer und als einziges Mädchen ihrer Klasse kurze Haare. Sie will auch kein Smartphone. Während die anderen Mädels schon immer VIEL mehr und krassere Filme oder Spiele nutzten (was wir nicht erlauben), durfte Olivia dagegen alleine mit der Bahn fahren, im Wald spielen, ein Messer und Sägen benutzen und abends lange draußen bleiben (was wiederum andere Eltern nicht erlauben). Eine besonders rosa glitzernde Freundin von Olivia hat eine besonders besorgte Mutter. Sie wohnt nur ein paar Straßen entfernt, muss aber jedes Mal anrufen, wenn sie angekommen ist. Es gibt immer Ärger, wenn das Kind bei uns sein Handy nicht hört, denn die Mutter macht sich dann Sorgen. Ich dagegen mache mir Sorgen, wenn die Kinder auf der Straße ständig auf ihre Smartphones schauen, statt auf die Autos. Neulich kam dieses Mädchen zusätzlich mit einer Smart Watch am Arm zu uns zum Spielen. Da die Uhr ganz neu war, war das Mädchen sehr stolz und fummelte fleißig an dem Ding herum. Olivia erkundigte sich höflich, was man damit alles so machen könne. Die Bilanz fiel aus ihrer Sicht aber enttäuschend aus: Die hatte nicht mal eine Stoppuhr (oder falls doch, wusste das Mädel nicht, wie sie funktioniert). Die Uhr konnte Fotos machen, aber die Bilder hatten nur Briefmarkengröße und es waren auch eine Menge Verrenkungen beim Fotografieren und Telefonieren nötig. Das sah alles etwas peinlich aus. Ich hatte das Vergnügen zu hören, wie das andere Mädchen – nachdem Olivia von der Smart Uhr nicht überzeugt schien – ihr nun die Vorteile eines Smart Homes erklärte.
Freundin: „Man kann sagen: „Licht an, Licht aus oder Musik leiser oder lauter.“
Olivia: „Aber wofür ist das gut?“ Freundin versteht die Frage nicht.
Olivia: „Aber warum drückt ihr nicht einfach selber auf den Lichtschalter oder macht lauter?“ Das wusste die Freundin natürlich auch nicht.
Für mich persönlich ist die Vorstellung eines smarten Hauses absolut beängstigend. Ein Kühlschrank, der wahrnimmt, wenn die Milch fast alle ist und dann selber welche bestellt? Das scheint mir doch eher etwas für Menschen mit einer Zwangsstörung zu sein. Das will ich auf keinen Fall. Es ist außerdem (wenigstens war es das vor Corona) eine Topp-Beschäftigungsmöglichkeit mit Willi, dass wir täglich zusammen einen Liter Milch und ein Brötchen einkaufen gehen. Ich denke, die meisten Menschen aus unserer Nachbarschaft haben Willi im Supermarkt kennengelernt. Es wäre schade, wenn solche Begegnungen wegfielen. Außerdem würde mein Smart Home Kühlschrank wahrscheinlich nicht sehen, dass mein Smart Ehemann im Winter seine großen Biermengen aus Stromspargründen zum Kühlen auf der Terrasse lagert und würde dann NOCH mehr Bier bestellen! Nein Danke!
Ich HASSE es, wenn meine Geräte für mich mitdenken. Es sind zum Beispiel irgendwie alle Geburtstage meiner Facebook-„Freunde“ automatisch in meinen Kalender eingetragen worden. Das fand mein Computer sicher schlau, aber ich habe das nicht gewollt und kann die Vermüllung meines Kalenders nun leider nicht so einfach rückgängig machen, denn es sind 1000 Einträge. Darum habe ich jetzt alle Geburtstage ausgeblendet und prompt vergessen, meiner Mutter zum 75. Geburtstag zu gratulieren!
Zugegeben, es wäre praktisch, wenn mein Haus bei Gewitter die Fester schließt. Aber ich rufe im Notfall einfach meine Nachbarn an, die einen Schlüssel haben. Sowas passiert doch ohnehin nur alle zehn Jahre und ich wette, wenn man es dann wirklich mal dringend braucht, funktioniert der Scheiß wieder nicht. Ich bin ganz zufrieden mit meinem Normalo-Home und halte es überhaupt nicht für besonders smart, immer mehr körperliche Bewegung oder zwischenmenschliche Kommunikation mit Hilfe von Geräten zu vermeiden. Trotzdem versteht Olivia an dem Punkt der Unterhaltung mit ihrer Freundin über das Smart Haus, an dem sie hört, dass man dem Smart-Haus auch sagen kann, dass es Türen oder Fenster öffnen und schließen soll, plötzlich, wofür das Ganze eigentlich gut ist. Sie ruft: „Ach so, das ist für Spastiker und so!“ Leider habe ich keine Aufnahme vom Gesichtsausdruck des anderen Mädchens von diesem Moment. Während Olivia das Wort „Spastiker“ ganz selbstverständlich ausspricht, begreift die andere die Welt nicht mehr: Das Coolste überhaupt – nämlich ein Smart Home – mit dem Uncoolsten überhaupt – nämlich mit etwas „Behindertem“ zu assoziieren – war für sie unbegreiflich. Das war dann auch das Ende der Unterhaltung.
Smarte Hilfen und Social Robots
Ich muss zugeben, dass ich wirklich stolz auf meine Tochter war. Sie hat ja so recht! Die Entwicklung vieler – aus meiner Sicht überflüssigen Dinge der digitalen Welt – sind wenigstens für Menschen mit Einschränkungen ein großartiger Fortschritt. Natürlich wäre für diese Randgruppe niemals so viel Geld in die Entwicklung von Haushaltsrobotern und künstlicher Intelligenz gesteckt worden. Finanziell lohnt es sich ja nur, Produkte für die breite Masse auf den Markt zu bringen. Dabei ist in den letzten zwei Jahrzehnten wirklich viel Praktisches und Bezahlbares für Menschen mit Besonderungen herausgesprungen, was große Vorteile für ein selbstbestimmteres und unabhängigeres Leben gebracht hat. Smartphones und Videotelefonie eröffnen gehörlosen Menschen ganz neue Möglichkeiten der Kommunikation. Man kann sich heute Websites vorlesen lassen und Nachrichten und Texte diktieren, die in Schrift umgewandelt werden, und das alles ohne teure Spezialsoftware. Es braucht keine Sonderanfertigungen mehr, um mit Sprachsteuerung oder einfachen Tasten über eine Smartphone App Haushaltsgeräte zu bedienen. Es gibt auch mittlerweile ganz einfach die Möglichkeit, Angehörige oder Betreuer zu informieren, wenn sich zum Beispiel eine Person mit Assistenzbedarf aus einem bestimmten Bereich heraus bewegt oder an einem Ort eintrifft. Eigens entwickelt für Eltern mit Kontrollwunsch über ihre ganz normalen Kinder. Wenn Willi mal etwas selbständiger wird und so eine Smart Watch akzeptieren würde, wäre das keine blöde Idee, um ihn im Notfall mal zu tracken. Und das Zeug ist – anders als die von Hilfsmittel-Firmen entwickelten Geräte oder Apps für den medizinischen oder therapeutischen Gebrauch – vergleichsweise günstig zu erwerben. Allerdings bezahlen die Krankenkassen solche preiswerten Hilfsmitteln in der Regel leider nicht, sie haben es lieber sehr teuer und umständlich.
Einen lukrativen Bereich in der Entwicklung von Geräten, bei dem Menschen mit Einschränkung im Fokus stehen, scheint es aber doch zu geben. Das ist die Betreuung von Menschen mit Demenzen. Wenn ich höre, wie intensiv an Pflegerobotern und sogenannten „Social Robots“ geforscht und gearbeitet wird, läuft es mir kalt über den Rücken. Manche sehen wie ein Rollator aus, oben mit einem Display, das ein vereinfachtes Gesicht zeigt. Der Roboter rollt umher, lächelt und fordert zum Tanzen auf und spielt Wunschsongs dazu ab. Andere Geräte kommen wie niedliche Stofftiere daher und können angeblich „menschliche“ Emotionen zeigen und sollen als Gefährten für demente Menschen dienen. Willi hätte sicher auch Spaß an so einem Kuscheltier mit großen Augen, das mit niedlichen Geräuschen auf ihn reagiert und könnte sich damit eine Weile beschäftigen. Aber mit solchem Spielzeug – was es in meinen Augen letztendlich ist – ernsthaft die Vereinsamung von Menschen in Pflegeheimen bekämpfen zu wollen, halte ich für unmenschlich. Den liebevollen Kontakt mit Menschen kann kein Gerät ersetzen und es sollte auch gar nicht unser Ziel sein, das zu versuchen. Ich erinnere mich daran, wie wir mal eine Seifenblasenmaschine gekauft haben, als Willi dauerhaft den sehnlichen Wunsch nach Seifenblasen hatte. Wir dachten, wir könnten dann vielleicht in Ruhe Kaffee trinken, während das Gerät für Willi Blasen macht. Aber Willi interessierte sich nur ein paar Minuten für den Kasten. Es ging ihm darum, dass WIR für ihn da waren und dass wir uns mit ihm beschäftigten. Eine Maschine konnte das nicht ersetzen.
Social Humans
Ich bin mir sicher, dass wir den Fachkräftemangel in der Pflege niemals durch Geräte ausgleichen können. Die Social Robots pflegen ja auch gar nicht, sondern sollen Gesellschaft leisten und einsamen Menschen menschliche Nähe bieten. Das ist genau jener Teil von Arbeit, für den die Pflegekräfte keine Zeit mehr haben. Persönlich sehe ich hier mal wieder ein paar Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen. Die Berufsbezeichnung könnte dann vielleicht „Social Humans“ heißen. Der Lohn für sie würde wahrscheinlich sogar deutlich unter den Kosten für Social Robots liegen. Aus meiner Sicht wäre das ein großer Fortschritt. Aber leider definiert sich Fortschritt in unserer Gesellschaft ganz anders.