Abstrakte Malerei von Jörg Höling

Jörg Höling, O.T., 2011, 2 Blätter, Acryl und Tusche auf Papier, je 100 × 70 cm. Ausschnitt. © Freunde der Schlumper e.V. Hamburg/Reprofotografie Peggy Kahl

aus Heft 3/2020 – Fachthema
Hemma Mayrhofer, Walter Fuchs

Gewalt an Menschen mit Behinderungen – Ausgewählte Ergebnisse der ersten österreichweiten Prävalenzstudie

Für Österreich fehlten bislang repräsentative Untersuchungen, wie häufig Menschen mit Behinderungen von Gewalt betroffen sind. Die vom Sozialministerium beauftragte Studie „Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen“ hatte zum Ziel, dieses für Präventionsmaßnahmen und die Aufarbeitung von Gewalt wichtige Wissen bereitzustellen. Die nun vorliegenden Ergebnisse unterstreichen und präzisieren das auf Basis anderer Forschungen zu vermutende deutlich höhere Gewaltrisiko, dem Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind. Sie zeigen zudem Faktoren auf, die in statistisch signifikantem Zusammenhang zum Ausmaß berichteter Gewalt stehen.

1. Einleitung
Im Laufe der letzten 50 Jahre lässt sich auch in der österreichischen Behindertenhilfe ein paradigmatischer Wandel weg von Segregation, paternalistischer Fürsorge und Rehabilitation hin zu Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe beobachten (vgl. Schönwiese 2009). Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Österreich bildet in rechtlicher Hinsicht den vorläufigen Kristallisationspunkt dieser stark von Menschen mit Behinderungen getragenen und vorangetriebenen Entwicklungen. Mit dem Prozess ging allerdings die längste Zeit keine nennenswerte öffentliche Auseinandersetzung mit Gewalt an Menschen mit Behinderungen einher, das Thema ist bis in die Gegenwart tabuisiert (vgl. Flieger 2015). In den 1970er und 1980er Jahren kann ein kritischer Diskurs zu Gewalt vor allem im Zusammenhang mit der Kritik an totalen Institutionen der Behindertenhilfe ausgemacht werden. Die dort jahrzehntelang vorherrschenden Gewaltsysteme werden erst aktuell wissenschaftlich aufgearbeitet (vgl. Mayrhofer et al. 2017; John, Wegscheider & Wisinger 2019) oder harren noch der Aufarbeitung. Aus den 1990er Jahren liegen zwei explorative Studien zu sexueller bzw. sexualisierter Gewalt an Menschen mit Behinderungen in Österreich vor (vgl. Zemp & Pircher 1996; Zemp, Pircher & Schoibl 1997). Sie blieben lange Zeit die einzigen österreichbezogenen Untersuchungen zum Thema, auf die sich die Fachdiskussion stützen konnte. Erst 2014 wurde eine neue qualitative Studie abgeschlossen, die sich mit dem „Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen“ (Mandl, Planitzer, Schachner & Sprenger 2014) auseinandersetzte. Wer repräsentative Daten zur Prävalenz, also der Häufigkeit von Gewalt an Menschen mit Behinderungen suchte, konnte sich seit einigen Jahren mit Studien aus Deutschland behelfen (vgl. Hornberg et al. 2013 sowie Schröttle & Hornberg 2013 und 2014).
All die in den angeführten Studien gewonnenen Forschungsergebnisse ließen vermuten, dass auch in Österreich im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung von einer deutlich erhöhten Gewaltbetroffenheit auszugehen ist. Ein parlamentarischer Entschließungsantrag zur Durchführung einer wissenschaftlichen Studie zum Thema Gewalt und Missbrauch an Menschen mit Behinderungen vom November 2014 gab schließlich den Anstoß, erstmals auf nationaler Ebene repräsentative Daten zu erheben. Mit der Umsetzung der Forschung wurden das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (Projektleitung), queraum. kultur- und sozialforschung, das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte und HAZISSA – Fachstelle für Prävention beauftragt. Gemäß Ausschreibungsvorgaben des Sozialministeriums bezieht sich die Untersuchung auf unterschiedliche Formen von Einrichtungen, in denen Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Erkrankung dauerhaft oder über einen längeren Zeitraum (mindestens sechs Monate) leben.
Die Studie folgt dem in der UN-Behindertenrechtskonvention abgebildeten Verständnis von Behinderung, das auf einem sozialen Modell von Behinderung basiert: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“ (Art. 1 UN-BRK, 2006). Die Forschungsperspektive orientierte sich an einem weiten Gewaltbegriff, der neben direkter und personaler Gewalt auch strukturelle Gewalt inkludiert, um die Vielfältigkeit und Komplexität der Gewalt- und Machtverhältnisse und deren Ursachen in den Blick zu bekommen. Erhoben wurden Gewalterfahrungen in allen Lebensphasen und -bereichen, d.h. der Forschungsfokus beschränkte sich keineswegs nur auf im institutionellen Kontext erfahrene Gewalt.
Die nun vorliegenden quantitativen Ergebnisse (vgl. Mayrhofer & Fuchs 2019) erlauben belastbare empirische Annäherungen an die Häufigkeit, in der Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Beeinträchtigung, die in institutionellen Kontexten leben (Wohn- und Tagesstrukturangebote), Gewalterfahrungen machen mussten und müssen. Die multivariaten statistischen Analysen lassen zudem Faktoren mit signifikanten Effekten auf das Ausmaß berichteter Gewalt erkennen. Nachfolgend werden ausgewählte Ergebnisse des quantitativen Studienteils präsentiert.

2. Methodik und Zusammensetzung der Stichprobe

Um die komplexen Fragestellungen der Studie hinreichend beantworten zu können, wurde ein triangulativer Forschungszugang gewählt, bei dem unterschiedliche quantitative und qualitative Methoden im Sinne einer wechselseitigen Ergänzung miteinander verschränkt sind. Im Mittelpunkt der Studie standen die mittels persönlich-mündlicher Befragung erhobenen Gewalterfahrungen von Menschen, die in österreichischen Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in psychosozialen Einrichtungen leben oder arbeiten (als Nutzer*innen von Tagesstruktur- oder Werkstättenangeboten) – eine kleine Teilstichprobe bezog sich auch auf Menschen im Maßnahmenvollzug. In Summe wurden 376 Interviews mit Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Beeinträchtigung durchgeführt, sie wurden in 43 verschiedenen Einrichtungen in einem mehrstufigen Verfahren der Stichprobenziehung erhoben. Die Einrichtungen verteilen sich auf alle Bundesländer und umfassen unterschiedliche Einrichtungsgrößen. Die Interviews können in drei Teilstichproben unterteilt werden: Teilstichprobe 1 umfasst die Befragungsergebnisse von 272 Personen in 30 Einrichtungen der Behindertenhilfe. Teilstichprobe 2 bezieht sich auf die Ergebnisse von 73 Personen in zehn psychosozialen Einrichtungen und Teilstichprobe 3 auf 31 befragte Insass*innen des Maßnahmenvollzugs in zwei Justizanstalten sowie einer forensischen Abteilung. Auf die letztgenannte Teilstichprobe wird in diesem Beitrag nicht Bezug genommen, da sie viele Besonderheiten aufweist.
Zusätzlich wurden pro Einrichtung je ein standardisiertes Interview mit einer Leitungsperson und einem*einer Mitarbeiter*in mit Betreuungs- bzw. Unterstützungsaufgaben geführt, sodass 86 Befragungen von Einrichtungsvertreter*innen vorliegen. Die Ergebnisse stützen sich somit auf eine Gesamtzahl von 462 gültigen Interviews. Ergänzt wurden diese Befragungen durch vertiefende qualitative Interviews mit Menschen mit Behinderungen, qualitative Expert*innen-Interviews sowie Good-Practice-Analysen.
In der Befragungszielgruppe der Menschen mit Behinderungen wurden erwachsene Personen befragt, sie verteilen sich relativ gleichmäßig über die verschiedenen Altersgruppen. Ältere Menschen (v.a. über 65-Jährige) sind allerdings in der Stichprobe vermutlich unterrepräsentiert, da Alters- und Pflegeheime ohne Schwerpunkt auf Menschen mit Behinderungen nicht in die Stichprobe einbezogen waren. Das Geschlechterverhältnis ist – gemäß Studienvorgabe – nahezu ausgewogen. Am häufigsten liegt in der Teilstichprobe 1 die Beeinträchtigungsform „Lernschwierigkeiten“ vor, sie wurde von knapp 60 % der befragten Personen genannt. Darüber hinaus nannten knapp 30 % eine körperliche Beeinträchtigung und gut zehn Prozent eine Seh- sowie ebenso viele eine Sprachbeeinträchtigung. Knapp 20 % der Interviewpartner*innen in dieser Teilstichprobe gaben auch eine psychische Beeinträchtigung an. In Teilstichprobe 2 wurde diese Form der Beeinträchtigung naheliegenderweise am häufigsten genannt. Zudem antworteten über alle Teilstichproben hinweg etwas mehr als 15 Prozent der Befragten, keine Behinderung bzw. Beeinträchtigung zu haben. Bei über einem Viertel der Befragten liegt eine Mehrfachbehinderung bzw. -beeinträchtigung vor.
Die Betroffenheit von psychischer, physischer und sexueller Gewalt wurde für jede Gewaltform getrennt mithilfe einer Itembatterie aus unterschiedlichen Erscheinungsformen bzw. Ausprägungen der jeweiligen Gewaltform erhoben. Hinweise auf strukturelle Gewalt im Einrichtungskontext hingegen sollten verschiedene Fragen zu den Lebens- und Unterstützungsbedingungen in der Einrichtung geben. Im Folgenden werden zentrale Studienergebnisse getrennt nach Gewaltformen zusammengefasst. Vorauszuschicken ist, dass die individuell berichteten Gewalterfahrungen nur ein unsicheres Indiz für Form und Ausmaß der tatsächlich widerfahrenen Gewalt darstellen, da verschiedene Faktoren die Erinnerung, das Sprechvermögen oder auch die Bereitschaft, von solchen Erfahrungen zu berichten, verändern. So könnten etwa in Teilstichprobe 1 die Gewaltprävalenzwerte insgesamt tendenziell zu niedrig bzw. weniger vollständig erfasst sein als in den anderen beiden Teilstichproben. Dies ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu bedenken.

3. Strukturelle Einschränkungen und Risikofaktoren

Knapp zwei Drittel der befragten Personen wohnen in institutionellen Settings (Heime, Wohngruppen, betreute WGs). Ein Fünftel lebt bei den Eltern oder anderen Angehörigen (sie wurden über Tagesstruktur-Angebote interviewt), 11 % im teilbetreuten Wohnen und nur wenige haben eine eigene Wohnung ohne Betreuung. Die Ergebnisse lassen erkennen, dass mit dem Leben in der institutionellen Umgebung nach wie vor in beträchtlichem Ausmaß die selbstbestimmte Gestaltung des privaten Alltags und Lebensraums eingeschränkt ist:
Für etwa ein Viertel der in Einrichtungen der Behindertenhilfe Befragten besteht ihren Angaben zufolge keine Möglichkeit, ihre Privatsphäre oder auch persönlichen Schutz durch Absperren des Zimmers, der Toilette oder des Badezimmers zu realisieren.
Mitbestimmungsmöglichkeiten bezüglich der Mitbewohner*innen sind laut den vorliegenden Ergebnissen nur für ein Drittel der in psychosozialen Einrichtungen interviewten Personen (Teilstichprobe 2) und für zwei Drittel der in Einrichtungen der Behindertenhilfe Befragten (Teilstichprobe 1) gegeben.
In psychosozialen Einrichtungen kann zudem die Mehrheit der Befragten nicht mitentscheiden, welches Essen sie zu sich nehmen. Auch in Teilstichprobe 1 wird teils von der Einrichtung vorgegeben, was gegessen werden muss.
Wer Besuch empfangen will, muss den Angaben der Einrichtungsvertreter*innen zufolge mehrheitlich Besuchsregeln berücksichtigen. Die Häufigkeit von Besuchen hängt von verschiedenen Faktoren ab, über die die Daten keine nähere Auskunft geben. Mehrheitlich zeigen sich aber eingeschränkte soziale Kontakte nach außen.
Eine Wahlmöglichkeit der Bewohner*innen bzw. Nutzer*innen bezüglich der Personen, von denen sie sich unterstützen lassen möchten, sieht mehr als die Hälfte der befragten Institutionenvertreter*innen nur in geringem Ausmaß oder gar nicht gegeben. Zugleich machen die Ergebnisse deutlich, dass solch eine für Selbstbestimmung essenzielle Wahlmöglichkeit in Bezug auf die unterstützende Person auch im institutionellen Setting realisierbar ist und von manchen Einrichtungen realisiert wird.
Mehr als ein Viertel der in Teilstichprobe 1 und etwa ein Fünftel der in Teilstichprobe 2 befragten Leitungspersonen und Mitarbeiter*innen nimmt personalmäßig erhebliche Engpässe in der eigenen Einrichtung wahr. Die weiter unten präsentierten Ergebnisse machen deutlich, dass dies Gewalt strukturell begünstigt.
Knapp die Hälfte der in beiden Teilstichproben Befragten gab an, dass in der Wohneinrichtung partizipative Gremien vorhanden sind. Insbesondere in Teilstichprobe 1 lässt sich eine deutliche Diskrepanz zu den Angaben der Einrichtungsvertreter*innen, die großteils solche Gremien realisiert sehen, beobachten. Insgesamt besteht somit in einem erheblichen Anteil der Wohnangebote in dieser Hinsicht Handlungsbedarf, in manchen Fällen müssen etwa eventuell vorhandene Gremien anschlussfähiger gestaltet werden.
Bei jenen Personen, die in einer betreuten Wohnform leben, gehört die Tagesstruktur sehr häufig dem gleichen Träger an. Ihnen wird den Ergebnissen der „Institutionenbefragung“ zufolge in der Regel ein Tagesstruktur-Besuch klar empfohlen oder teils auch vorgeschrieben.
Bei Unzufriedenheiten in Bezug auf die Einrichtung wendet sich die Mehrheit der Befragten an Betreuer*innen der Einrichtung. Institutionalisierten Beschwerdestrukturen wie Beschwerdebriefkästen, aber auch Peers in Vertretungsfunktionen und anderen (auch einrichtungsexternen) Formen kommt in der Praxis nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu. Dieses Ergebnis kann einerseits als Ausdruck großen Vertrauens in die Betreuungspersonen interpretiert werden, sich andererseits aber auch als erhöhte Abhängigkeit von diesen entfalten.
Die Studienergebnisse stärken die Hypothese, dass die Kennzahl „Einrichtungsgröße“ allein zu wenig über die „institutionelle Kultur“ (Europäische Expertengruppe 2012, S. 27), die in der Einrichtung herrschen mag, aussagt: Auch kleinere Einrichtungen können von einer institutionellen Kultur geprägt sein und realisieren nicht automatisch eine personenzentrierte und bedürfnisorientierte Unterstützung. Die bloße Größe der Einrichtung zeigt in den nachfolgend zusammengefassten statistischen Analysen auch keinen Zusammenhang mit dem Ausmaß an direkter und personaler Gewalt. Es benötigt einen vielschichtigeren Blick darauf, inwieweit eine „institutionelle Kultur“ bzw. strukturelle Einschränkungen in der Einrichtung gegeben sind oder nicht, auch wenn sich kleinere Einheiten mit der Realisierung von personenzentrierten Lebens- und Betreuungskonzepten leichter tun könnten (vgl. ebd.).

4. Psychische Gewalt

Der Ergebnisdarstellung ist vorauszuschicken, dass häufig die Formulierung verwendet wird, dass von Gewalterfahrungen berichtet wurde. Damit soll darauf verwiesen werden, dass die im Interview thematisierten Gewalterfahrungen nur ein Indiz für Form und Ausmaß der tatsächlich erlebten Gewalt sind. Verschiedene Umstände wie sich ändernde und unvollständige Erinnerung, Überformung des Erlebten durch spätere, aber auch frühere Erfahrungen, unterschiedliche individuelle oder sozial erlernte Sensibilität gegenüber verschiedenen Gewaltformen, Interaktionsdynamiken während des Interviews etc. wirken auf die berichtete Gewalt ein, sodass letztere nicht als sicheres und genaues Abbild der einst erfahrenen Gewalt gelten kann. Damit soll keinesfalls die Glaubwürdigkeit der Interviewpartner*innen infrage gestellt werden, es handelt sich lediglich um eine Eigenheit menschlicher Erinnerung, die für empirische Forschung eine spezielle Herausforderung darstellt – zumal dann, wenn es um ein sensibles Thema wie Gewalt geht.
Für jede Gewaltform und Teilstichprobe wurden aus den abgefragten Gewaltitems acht verschiedene Prävalenzwerte (d.h. Häufigkeitswerte) berechnet, die unterschiedliche Informationen berücksichtigen, sodass sich die Werte von einer sehr weiten zu einer sehr engen Gewaltdefinition entwickeln. Nachfolgend sind vier dieser Prävalenzwerte psychischer Gewalt, die in zehn verschiedenen Ausformungen (z.B. Anschreien, Beschimpfen, Einschüchtern, Drohen, Erpressen, Ausgrenzen oder Stalking) abgefragt wurde, zusammengefasst:
Unter Berücksichtigung aller jemals im bisherigen Leben erfahrenen Gewaltformen zeigt sich in der Gesamtstichprobe eine Prävalenz psychischer Gewalt von 82,6 %. Das bedeutet, dass mehr als acht von zehn befragten Personen davon berichteten, bereits zumindest einmal (häufig aber auch öfter) im Leben eine Form psychischer Gewalt erfahren zu haben.
Wenn alle genannten Gewalterfahrungen auf solche eingeschränkt werden, die bereits sowohl öfter im Leben als auch innerhalb der letzten drei Jahre erlebt wurden (rezente Gewalterfahrungen), dann zeigt sich in der Gesamtstichprobe ein Prävalenzwert psychischer Gewalt von 50,8 %. Fünf von zehn befragten Personen berichteten somit, Formen psychischer Gewalt schon öfter und auch in den letzten drei Jahren erfahren zu haben.
Bei einer Einschränkung auf psychische Gewaltformen, die potenziell in höherem Ausmaß strafrechtlich relevant sind (vereinfacht auch „schwere Gewaltformen“ genannt), liegt bei Berücksichtigung der gesamten bisherigen Lebenszeit ein Prävalenzwert von 60,1 % vor. Anders formuliert: Sechs von zehn Befragten nannten schwere Erfahrungen psychischer Gewalt.
Wenn nur rezente Fälle schwerer psychischer Gewalt berücksichtigt werden, weist die Gesamtstichprobe einen Prävalenzwert von 35 % auf. Dreieinhalb von zehn befragten Personen gaben somit an, innerhalb der letzten drei Jahre schwerer psychischer Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein.
Abb. 1: Prävalenz psychischer Gewalt. Quelle: eigene Darstellung
Vergleicht man diese Werte mit Ergebnissen der österreichischen Prävalenzstudie zu Gewalt an Frauen und Männern ohne Behinderungen (vgl. Kapella et al. 2011), dann deuten sich bei Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Erkrankung signifikant häufigere Erfahrungen psychischer Gewalt an. Zudem geht deren Gewaltbetroffenheit bei einer Einschränkung auf rezente Fälle psychischer Gewalt weniger stark zurück als bei Menschen ohne Behinderungen. Allerdings können diese empirischen Erkenntnisse nur bedingt verallgemeinert werden, da nur eine sehr begrenzte Zahl an Items psychischer Gewalt in beiden Studien eine für einen Vergleich ausreichende inhaltliche Übereinstimmung aufwies.
Die Prävalenzdaten zu psychischer Gewalt wurden binär-logistischen Regressionsanalysen unterzogen, mittels derer die Effekte verschiedener unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable (= berichtete psychische Gewalterfahrungen) unter simultaner Berücksichtigung der anderen Variablen statistisch geprüft wurde. In Summe fanden 20 unabhängige Variablen aus der Befragung der Bewohner*innen bzw. Nutzer*innen theoriegestützt Eingang in die Regressionsmodelle. Zusätzlich wurden in das Modell zu rezenten Gewalterfahrungen vier „Einrichtungsvariablen“ (in der Institutionenbefragung erhoben, u.a. ein aus mehreren Antworten gebildeter Indexwert „Präventionskultur“) aufgenommen. Nachfolgend werden besonders markante Einflussfaktoren aus allen berechneten Modellen zusammengefasst (alle Ergebnisse sind signifikant):
Insbesondere dann, wenn Personen in einem von körperlicher Gewalt geprägten familiären Kontext aufwuchsen, geht damit ein wesentlich höheres Risiko psychischer Gewalterfahrungen in allen Lebensphasen (Kindheit, gesamte Lebenszeit, letzte drei Jahre) einher.
Als bedeutsamer und mit dem erstgenannten Punkt vermutlich häufig korrespondierender Risikofaktor für psychische Gewalterfahrungen zeigt sich zudem eine lieblose Behandlung durch die Eltern oder – im Falle einer Heimunterbringung – durch Erzieher*innen in der Kindheit.
Personen mit psychischer Beeinträchtigung berichteten wiederholt in signifikant höherem Ausmaß, von psychischer Gewalt betroffen gewesen zu sein. Hier ist allerdings darauf zu verweisen, dass bei Menschen mit Lernschwierigkeiten möglicherweise die Gewaltbetroffenheit über die empirische Befragung weniger umfassend erhebbar war und Prävalenzwerte tendenziell zu niedrig sein könnten.
Vergleichbares kann auch in Bezug auf ältere Personen angenommen werden, die im Vergleich mit den jüngeren Befragten in der Mehrheit der gerechneten Regressionsmodelle signifikant niedrigere Gewaltnennungen aufweisen: Es ist davon auszugehen, dass die älteren Befragten weniger in der Lage waren, über ihnen widerfahrene psychische Gewalt zu berichten – bzw. sie überhaupt als Gewalt zu benennen. Möglicherweise trifft dies auch auf Personen mit Mehrfachbehinderungen zu, bei denen sich in drei Regressionsmodellen signifikant niedrigere Prävalenzwerte andeuten.
Niedrige Personalressourcen zeigen einen gewalterhöhenden Effekt: Von Personen in Einrichtungen mit (zu) geringem Personal werden signifikant öfter psychische Gewalterfahrungen in den letzten drei Jahren berichtet.
Die Effekte des Präventionsindex (je mehr Prävention, desto öfter wird über Gewalt berichtet) unterstreichen, dass die in empirischen Studien erfassbaren Erfahrungen von Gewalt in beträchtlichem Ausmaß davon abhängen, wie sehr die befragten Personen gelernt haben, bestimmte Verhaltensweisen ihnen gegenüber als Gewalt wahrzunehmen und einzuordnen, inwieweit sie widerfahrene Gewalt benennen und mitteilen können – und wie sehr ihnen das ihr (in diesem Fall institutionelles) Lebensumfeld erleichtert oder erschwert. Das bedeutet auch, dass Einrichtungen, in denen wenig Gewalt berichtet wird, keineswegs automatisch die gewaltfreiere Lebensumwelt darstellen.
Mit diesen Ergebnissen korrespondiert, dass die Wohnung bzw. das Haus der Eltern in den Antworten vergleichsweise oft als Ort psychischer Gewalterfahrungen genannt wurde – und die Eltern, aber auch andere Familienmitglieder als gewaltausübende Personen. Häufig wird psychische Gewalt den Antworten zufolge auch in der Einrichtung von Mitbewohner*innen bzw. anderen Nutzer*innen ausgeübt. Zudem bildet die Schule einen gewaltriskanten Ort, vor allem Schulkolleg*innen wurden als Täter*innen angegeben. Auch psychische Gewalt durch unbekannte Personen im öffentlichen Raum wurde vergleichsweise häufig genannt, und zwar insbesondere von Personen in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Von Frauen in psychosozialen Einrichtungen wurde besonders oft die eigene Wohnung bzw. das eigene Haus genannt, in dem psychische Gewalt durch den Partner erfahren wurde.
In Bezug auf psychische Gewalt zeigt sich in Gender-Hinsicht das „ausgeglichenste“ Tatverhalten, wobei vor allem von Gewalt betroffene Männer mehrheitlich andere Männer als gewaltausübende Personen nannten. In Summe wurden aber auch vergleichsweise oft Frauen als Täterinnen angegeben.

5. Körperliche Gewalt

Der Fragebogen enthielt zwölf Items für verschiedene Formen körperlicher Gewalt. Die Prävalenzwerte, d.h. der Prozentsatz an befragten Personen, die von entsprechender Gewaltbetroffenheit berichteten, gestalten sich wie folgt:
Unter Berücksichtigung aller jemals im bisherigen Leben erfahrenen Gewaltformen zeigt sich in der Gesamtstichprobe eine Häufigkeit körperlicher Gewalt von 76,7 %. Das bedeutet, dass knapp acht von zehn befragten Personen angaben, schon körperliche Gewalt erfahren zu haben.
Bei einer Einschränkung aller genannten Gewalterfahrungen auf solche, die sowohl öfter als auch in den letzten drei Jahren erlebt wurden, liegt in der Gesamtstichprobe eine körperliche Gewaltprävalenz von 19,1 % vor. Auf zwei von zehn Befragte trifft dies demnach zu.
Bei einer Einschränkung auf körperliche Gewaltformen, die potenziell in höherem Ausmaß strafrechtlich relevant sind (vereinfacht „schwere Gewaltformen“ genannt; Lebenszeitprävalenz), liegt insgesamt ein Prävalenzwert von 40,9 % vor. Vier von zehn Befragten berichteten über entsprechende Erfahrungen.
Wenn nur Fälle schwerer körperlicher Gewalt in den letzten drei Jahren berücksichtigt werden, dann ergibt sich in der Gesamtstichprobe eine Prävalenz körperlicher Gewalt von 10,8 %. Somit gab eine von zehn Personen an, dass ihr schwere körperliche Gewalt auch in den letzten drei Jahren widerfahren ist.
Abb. 2: Prävalenz körperlicher Gewalt. Quelle: eigene Darstellung
Aufgrund ausreichender inhaltlicher Übereinstimmung konnten relativ viele Items körperlicher Gewalt mit Ergebnissen der Prävalenzstudie zu Gewalt an Frauen und Männern ohne Behinderungen (vgl. Kapella et al. 2011) verglichen werden. Die statistischen Tests zeigen mehrheitlich signifikant häufigere Erfahrungen körperlicher Gewalt bei Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Erkrankung. Die Prävalenzwerte liegen oft beträchtlich über denen der österreichischen Bevölkerung allgemein. Dies trifft auch auf rezente, d.h. in den letzten drei Jahren gemachte Gewalterfahrungen zu. In den Ergebnissen wird zudem ein bedeutsamer Gender-Unterschied erkennbar: Männer mit Behinderungen oder psychischer Beeinträchtigung sind insgesamt besonders häufig von körperlicher Gewalt betroffen.
Die Prävalenzdaten zu körperlicher Gewalt wurden ebenfalls binär-logistischen Regressionsanalysen unterzogen, mittels derer die Effekte verschiedener unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable (= berichtete körperliche Gewalterfahrungen) statistisch geprüft wurden. Nachfolgend werden markante Einflussfaktoren zusammengefasst (alle Effekte sind signifikant):
Das Aufwachsen in einem von körperlicher Gewalt zwischen den Eltern geprägten familiären Umfeld führt ein erhöhtes Risiko eigener Gewaltbetroffenheit in allen Lebensphasen (nicht nur der Kindheit) mit sich. Besonders stark gestaltet sich dieser Effekt bei den Analysemodellen, die auf schwere Gewalterfahrungen einschränken.
Ebenso korrespondiert das Aufwachsen in einem von Lieblosigkeit geprägten familiären Umfeld (oder institutioneller Ersatzarrangements wie Kinderheime) mit signifikant höherer körperlicher Gewaltbetroffenheit, wobei die statistischen Effekte bei schweren Gewaltformen wieder besonders stark sind.
Personen mit einem Unterstützungsbedarf bei Grundbedürfnissen wie Körperpflege berichteten wesentlich öfter, in den letzten drei Jahren körperliche Gewalt erfahren zu haben. Dies dürfte in hohem Ausmaß direkt mit betreuungsrelevanten Gewaltformen zu tun haben.
Die Effektwerte des Betreuungsschlüssels verweisen wieder auf institutionelle Risikofaktoren für Gewalt: In Einrichtungen mit niedrigen Personalressourcen in der Betreuung berichteten die befragten Personen signifikant öfter rezente körperliche Gewalterfahrungen.
Die Variable „Präventionsindex“ verweist auch bei körperlicher Gewalt darauf, dass Gewalt dann besser benannt und mitgeteilt werden kann, wenn dafür im Lebensumfeld (etwa der Einrichtung) sensibilisiert wird.
Die Wohnung bzw. das Haus der Eltern erweist sich in allen Teilstichproben als der gewaltriskanteste Ort, die Eltern selbst wurden besonders oft als gewaltausübende Personen genannt. Zudem gaben die in Einrichtungen der Behindertenhilfe Befragten vergleichsweise häufig körperliche Gewalt durch Mitbewohner*innen in den Wohneinrichtungen oder durch andere Nutzer*innen der Tagesstruktureinrichtung, aber auch in der Kindheit durch Mitschüler*innen in der Schule an. In Teilstichprobe 2 wurde von Männern besonders oft die Schule bzw. Mitschüler genannt, von Frauen körperliche Gewalt durch den früheren Partner in der eigenen Wohnung. Die vorliegende Studie bestätigt den Befund anderer Studien, dass physische Gewalt in Summe öfter von Männern als von Frauen ausgeübt wird.

6. Sexuelle Belästigung und Gewalt

Formen sexueller Gewalt (mit diesem Begriff sind auch Formen sexueller Belästigung umfasst) wurden in 15 verschiedenen Items erfasst. Die Prävalenz sexueller Gewalt zeigt sich in den unterschiedlichen Maßzahlen wie folgt:
Unter Berücksichtigung aller jemals im bisherigen Leben erfahrenen Gewaltformen weist die Gesamtstichprobe eine Häufigkeit sexueller Gewalt von 50,9 % aus. Demnach berichteten fünf von zehn befragten Personen, dass ihnen sexuelle Gewalt in ihrem Leben bereits widerfahren ist.
Werden die Gewalterfahrungen auf sowohl öfter als auch in den letzten drei Jahren erlebte Gewalt eingeschränkt, dann liegt in der Gesamtstichprobe eine Prävalenz sexueller Gewalt von 14,2 % vor. Eineinhalb von zehn interviewten Personen nannten folglich entsprechende Gewalterfahrungen.
Bei einer Einschränkung auf Formen sexueller Gewalt mit direktem Körperkontakt (vereinfacht „schwere Gewaltformen“ genannt; Lebenszeitprävalenz) liegt insgesamt ein Prävalenzwert von 35,8 % vor. Dreieinhalb von zehn Befragten gaben somit an, dass ihnen bereits schwere Formen sexueller Gewalt zugefügt wurden.
Wenn nur rezente Fälle schwerer sexueller Gewalt berücksichtigt werden, weist die Gesamtstichprobe einen Prävalenzwert von 12,8 % auf. Jeder zehnten befragten Person wurde demnach auch innerhalb der letzten drei Jahre schwere sexuelle Gewalt angetan.
Abb. 3: Prävalenz sexueller Gewalt. Quelle: eigene Darstellung
Der Vergleich dieser Daten mit den Studienergebnissen zu Gewalt an Frauen und Männern ohne Behinderungen (vgl. Kapella et al. 2011) ergibt heterogenere Resultate. Insgesamt zeigt sich allerdings auch bei dieser Gewaltform mehrfach eine signifikant höhere Gewaltprävalenz bei Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Beeinträchtigung. Vorauszuschicken ist, dass Frauen mit und ohne Behinderungen bzw. psychischer Erkrankung insgesamt eine höhere – meist wesentlich höhere – Betroffenheit von sexueller Gewalt berichten als Männer. Im nach Geschlecht getrennten Vergleich der Prävalenzwerte wird zudem bei Männern mit Behinderungen oder psychischer Beeinträchtigung im Vergleich zu Männern ohne Behinderung eine deutlich (meist auch signifikant) höhere Betroffenheit von sexueller Gewalt sichtbar. Beim Vergleich der Frauen-Stichproben beider Studien zeigen sich unterschiedliche Analyseergebnisse: Manche Formen sexueller Belästigung bzw. diese Itemgruppe insgesamt lassen bei Frauen ohne Behinderungen eine signifikant höhere Gewaltbetroffenheit erkennen, wobei hier die Frage zu stellen ist, inwieweit sexuelle Belästigung von Frauen mit Lernschwierigkeiten möglicherweise systematisch weniger als Belästigung benannt werden kann (vgl. Mayrhofer & Seidler in diesem Heft). Bei schwereren Formen sexueller Gewalt (v.a. „hands on“) wird hingegen mehrfach eine höhere Betroffenheit von Frauen mit Behinderungen bzw. psychischer Beeinträchtigung im Vergleich zu Frauen ohne Behinderung sichtbar.
Auch die Prävalenzdaten zu sexueller Gewalt wurden binär-logistischen Regressionsanalysen unterzogen, mittels derer die Effekte verschiedener unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable (= berichtete sexuelle Gewalterfahrungen) statistisch geprüft wurden. Ausgewählte Ergebnisse werden hier zusammengefasst (alle Effekte sind signifikant):
Die Analyseergebnisse zu sexueller Gewalt verdeutlichen nochmals, welch gravierende Auswirkungen ein Aufwachsen in einem von körperlicher Gewalt geprägten Elternhaus auf eigene Gewalterfahrungen hat: Wer in solch einem familiären Umfeld groß wurde, berichtete in der überwiegenden Anzahl der Modellregressionen hochsignifikant öfter davon, im bisherigen Leben von sexueller Gewalt betroffen gewesen zu sein.
Auch eine lieblose Behandlung durch die Eltern oder Erzieher*innen in der Kindheit wird mehrfach als Risikofaktor für sexuelle Gewalterfahrungen sichtbar.
Neu zeigt sich – wenn auch erwartbar – fast durchgehend die Variable „Geschlecht“ als relevant: Die interviewten Frauen berichten signifikant öfter von sexueller Gewalt als männliche Befragte, insbesondere wurden schwere Formen sexueller Gewalt öfter erlebt.
In mehreren Modellen wird bei Menschen mit psychischer Beeinträchtigung eine höhere Betroffenheit von sexueller Gewalt erkennbar. Besonders stark und zugleich hochsignifikant ist dieser Effekt bei einer Einschränkung auf Erfahrungen sexueller Gewalt in der Kindheit, aber auch bezogen auf die letzten drei Jahre lassen sich signifikant höhere Prävalenzwerte beobachten.
In Einrichtungen, in denen ein ungünstigerer Betreuungsschlüssel (höhere Anzahl an Bewohner*innen bzw. Nutzer*innen pro Betreuer*in) vorliegt, wird signifikant öfter sexuelle Gewalt berichtet. Hingegen werden beim Präventionsindex diesmal keine statistisch signifikanten Effekte auf das Berichten von Gewalterfahrungen ausgewiesen – vermutlich aufgrund zu komplexer Wirkzusammenhänge.
In Teilstichprobe 1 wurden Mitbewohner*innen im institutionellen Wohnangebot, aber auch andere Klient*innen in der Tagesstruktur häufig als Tatorte und Täter*innen angegeben. In allen Teilstichproben nannten vor allem Frauen Personengruppen aus dem privaten Wohnumfeld: frühere Partner, den eigenen Vater, aber auch Bekannte bzw. Nachbarn. Eine höhere Anzahl an Nennungen entfällt auch auf unbekannte oder nur flüchtig bekannte Personen, dies korrespondiert mit öffentlichen Plätzen (v.a. von Frauen angegeben) und halböffentlichen Räumen wie Lokalen oder Diskotheken als wiederholt genannte Tatorte sexueller Übergriffe bzw. Gewalt.
Den von sexueller Gewalt betroffenen Frauen wird sexuelle Gewalt fast ausschließlich von Männern zugefügt. Bei den männlichen Betroffenen sexueller Gewalt, die in dieser Studie befragt wurden, verweisen die Antworten zum Geschlecht der gewaltausübenden Person auch auf ein nennenswertes Ausmaß an Frauen, wobei auch hier männliche Täter etwas öfter genannt wurden.

7. Schlussfolgerungen

Abschließend sollen die Ergebnisse auf daraus ableitbare Empfehlungen befragt werden, wobei diese häufig bestehende Forderungen der Fachöffentlichkeit bekräftigen. Die generierten Daten belegen zunächst vielfach, dass aus einer von Lieblosigkeit, Vernachlässigung und Gewalt geprägten Kindheit eine lebenslang höhere Vulnerabilität gegenüber Personen mit Gewaltabsichten bzw. sozialen Kontexten, die Gewalt begünstigen, resultiert. Somit kann die zentrale Bedeutung unterschiedlichster Präventions- und Interventionsmaßnahmen, die dem Aufwachsen in einem von Gewalt und Lieblosigkeit geprägten Umfeld entgegenarbeiten, nicht genug betont werden. Zugleich braucht es auch für erwachsene Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Erkrankung adäquate und ausreichende (trauma-)therapeutische Unterstützungsangebote zur Aufarbeitung der Folgen von Gewalterfahrungen in der Kindheit.
Die Schule zeigt sich für Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Erkrankung oft als gewaltriskanter Ort, Mitschüler*innen wurden besonders häufig als gewaltausübende Personen genannt. Prävention und Intervention sowie Nachbearbeitung von Gewaltvorfällen in der Schule – auch mit Fokus auf Gewalt gegenüber Kindern mit Behinderungen – kommt große Bedeutung zu. Hierzu zählt u.a. die nachhaltige Information der Schüler*innen über Anlaufstellen und Kontakte bei Gewaltbetroffenheit.
Die Studie unterstreicht die Wichtigkeit einer gendersensiblen Perspektive bei der Prävention und Aufarbeitung von Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Erkrankung. Mit Blick auf Männer gilt es teils die gängigen genderspezifischen Wahrnehmungsmuster zu verlassen, um auf die im Vergleich zu Männern ohne Behinderung oft deutlich höhere Betroffenheit von sexueller Gewalt ausreichend reagieren zu können.
Vielfach bringen die Studienergebnisse eine nochmals höhere Gewaltbetroffenheit von Personen mit psychischer Erkrankung zum Ausdruck. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zu beachten, dass psychische Beeinträchtigungen in allen Teilstichproben (d.h. auch von Menschen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe befragt wurden) in beachtlichem Ausmaß genannt wurden. Eventuell tragen auch unterschiedliche „Sprechmächtigkeiten“ (s.u.) zu den Ergebnissen bei. In Bezug auf die in der Stichprobe vertretenen psychosozialen Einrichtungen wird teilweise erheblicher Handlungsbedarf zur Reduktion bzw. Vermeidung struktureller Einschränkungen im Einrichtungskontext erkennbar.
Personen mit Unterstützungsbedarf bei Grundbedürfnissen wie Körperpflege, Nahrungsaufnahme etc. berichteten wesentlich öfter über Gewalterfahrungen auch in den letzten drei Jahren. Die Studienergebnisse verweisen darauf, dass diese hohen Prävalenzwerte durch in der Betreuung erfahrene Gewalt mitbedingt sind. Weiter dürfte Gewalt durch andere Bewohner*innen oder Nutzer*innen eine Rolle spielen, gegen die etwa bei geringen Personalressourcen nicht ausreichend vorgegangen werden kann. Für die Prävention betreuungsbezogener Gewalt braucht es aber nicht nur ausreichend Personal, sondern u.a. auch personenzentrierte Betreuungskonzepte, einen reflektierten Umgang mit Nähe und Distanz und regelmäßige supervisorisch angeleitete Reflexion zu diesen Themen.
Eingeschränkte Sprechmächtigkeit erhöht die Risiken, von Gewalt betroffen zu sein, und reduziert die Möglichkeiten, Grenzen setzen und Unterstützung mobilisieren zu können. Psychische, körperliche und sexuelle Übergriffe als Gewalt wahrnehmen und benennen zu können, ist ein wesentlicher Baustein zur Gewaltprävention, dafür braucht es gezielte Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung bei Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Beeinträchtigung sowie bei Mitarbeiter*innen und Unterstützer*innen. Zudem erhöhen verschiedene Formen unterstützter Kommunikation die Sprechmächtigkeit von Menschen mit Unterstützungsbedarf in der Kommunikation, hierfür gilt es entsprechende Kompetenzen, Instrumente und zeitliche Ressourcen in jeder Einrichtung bereitzustellen. Ganz allgemein bilden eine Steigerung des Selbstwerts und Empowerment wesentliche Schutzfaktoren gegen Gewalt, ohne dass damit die Verantwortung auf Seiten der Gewaltbetroffenen individualisiert werden darf.
Hohen Handlungsbedarf macht die Studie in Bezug auf Sexualität und sexuelle Gewalt sichtbar. Da diesem bislang nach wie vor stark tabuisierten Thema ein eigener Beitrag gewidmet ist, soll hier nur auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden (vgl. Mayrhofer & Seidler in diesem Heft).
In den Wohn-, aber auch Tagesstruktur-Einrichtungen wird vergleichsweise oft Gewalt durch Mitbewohner*innen bzw. andere Nutzer*innen erfahren. Die Studienergebnisse verweisen darauf, dass die Gewalt durch den institutionellen Kontext mitbedingt sein kann. Ein schlechter Betreuungsschlüssel, d.h. Personalknappheit, zeigt sich als besondere Risikostruktur, ausreichende Personalressourcen stellen eine notwendige, aber noch keine hinlängliche Bedingung für die Vermeidung von Gewalt in den Einrichtungen dar. Wesentlich für den Abbau von institutionellen Risiken sind u.a. auch Mitbestimmungsmöglichkeiten bezüglich der Mitbewohner*innen, ausreichend Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten, eine möglichst selbstbestimmte Gestaltung des Lebensalltags, flexible Anwendung von Regeln und Strukturen des Zusammenlebens, die partizipativ erarbeitet wurden, und Wahlfreiheiten in Bezug auf die unterstützenden Personen. Generell ist die Wichtigkeit ausreichender Wahlfreiheit bezüglich der Wohn- und Unterstützungsformen zu betonen, wobei sich beim Weg in selbstständigere und potenziell selbstbestimmtere Wohn- und Unterstützungsformen begleitende Maßnahmen und längerfristige Übergangszeiten erforderlich zeigen.
Ein differenziertes Netzwerk sozialer Kontakte und mehrere Personen, die als Ansprech- und Vertrauenspersonen fungieren, stellen wichtige Schutzmaßnahmen gegen Gewalt dar. Um einer einseitigen Abhängigkeit von der Einrichtung entgegenzuarbeiten, braucht es auch niederschwellig zugängige externe Anlauf- und Beschwerdestellen bzw. Personen mit entsprechenden Funktionen, die von außen in die Einrichtung kommen. Peer-Unterstützungssysteme werden derzeit – wenn vorhanden – wenig angenommen, hier gilt es von erfolgreichen Modellen zu lernen (vgl. Mandl & Schachner in diesem Heft).
Einrichtungsleitung und Organisationskultur wird eine maßgebliche Bedeutung für einen wirksamen Gewaltschutz in den Einrichtungen zugesprochen, wobei an dieser Stelle nur auf die Ergebnisse der Gesamtstudie verwiesen werden soll (vgl. Mayrhofer et al. 2019, S. 453ff.). Und nicht zuletzt kommt neben Maßnahmen auf Einrichtungsebene einer breiten gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung weiterhin eine große Bedeutung zu, um Herabsetzung, Ausgrenzung und Gewalt an Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Erkrankung entgegenzuarbeiten.
Literatur
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Schröttle, M. & Hornberg, C. (2014): Gewalterfahrungen von in Einrichtungen lebenden Frauen mit Behinderungen – Ausmaß, Risikofaktoren, Prävention. Bielefeld: Forschungsbericht im Auftrag des Deutschen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zemp, A. & Pircher, E. (1996): „Weil das alles weh tut mit Gewalt“. Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Wien: Frauenministerium.
Zemp, A., Pircher, E. & Schoibl, H. (1997): Sexualisierte Gewalt im behinderten Alltag. Jungen und Männer mit Behinderung als Opfer und Täter. Wien: Frauenministerium.
Fußnote
1 Die Gesamtergebnisse der Studie sind nachzulesen in Mayrhofer, H., Schachner, A., Mandl, S. & Seidler, Y. (2019): Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen. Wien: Forschungsbericht herausgegeben vom BMASGK. Online abrufbar unter https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=718
Hemma Mayrhofer, Dr.in
Soziologin, wissenschaftliche Geschäftsführerin am IRKS – Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien. Forschungsschwerpunkte (Auswahl): Soziale Inklusion/Exklusion, Soziale Arbeit, totale Institutionen, Lebens- und Unterstützungssituation von Menschen mit Behinderungen.
hemma.mayrhofer@irks.at
Walter Fuchs, Dr.
Jurist und Rechtssoziologe, Senior Researcher am IRKS – Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien. Forschungsschwerpunkte (Auswahl): Rechtsmobilisierung und Rechtskulturenvergleich, öffentliche Sicherheit, Kriminalität, Erwachsenenschutz, quantitative Forschungsmethoden.
walter.fuchs@irks.at