Thema der Ausgabe 3/2020:

Macht und Gewalt

Behinderte Menschen sind um ein Vielfaches häufiger von Gewalt betroffen.
(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Macht und Gewalt

Du hast mir gezeigt wie es ist, ein Schmetterling zu sein, nur um gleich darauf meine Flügel zu brechen – Du hast alles zerstört – All der Schmerz – Ich bin in Angst aufgewachsen – Ich hasse dich trotzdem nicht – Ein kleiner Teil hat immer noch Verständnis für dich.

„Ich war nie wütend. Alle Wut und Aggression habe ich immer nur an mir selbst ausgelassen. Durch selbstzerstörerisches Verhalten. Ich habe mich total alleine gefühlt, total unverstanden.“ Sina Niemeyer gibt uns bedrückende Einblicke in das Innere eines Opfers von sexueller Gewalt. Als Kind wurde sie missbraucht. „Selbst heute kann ich nicht genau sagen, was ich in diesen Momenten fühlte – ich verstand es einfach nicht.“ Als Erwachsene versucht sie ihre eigene Sprachlosigkeit künstlerisch zu überwinden. Ihre Fotos sind Zeugnisse tiefer seelischer Verwundungen, die der Täter durch sein Handeln hinterlassen hat.
Erstmals liegen für Österreich repräsentative Studienergebnisse vor, die zeigen, dass behinderte Menschen in ihrem Leben in wesentlich höherem Ausmaß Gewalt erfahren als Menschen ohne Behinderung. Wir präsentieren wichtige Teile dieser Studie. Hemma Mayrhofer, die Studienleiterin, listet mit Walter Fuchs die erschütternden Zahlen und Fakten auf. Knapp acht von zehn befragten Personen nannten körperliche Gewalterfahrungen. Vier von zehn Personen gaben auch an, in ihrem Leben schon schwere Formen körperlicher Gewalt erfahren zu haben. Jede zweite befragte Person antwortete, in ihrem Leben bereits von sexueller Belästigung oder schwereren Formen sexueller Gewalt betroffen gewesen zu sein.
Mit Yvonne Seidler präsentiert sie ernüchternde empirische Befunde zum Recht auf selbstbestimmte Sexualität und zum Schutz vor sexueller Gewalt. „Nur etwa die Hälfte der in Einrichtungen der Behindertenhilfe befragten Personen gab an, über Sexualität ausreichend aufgeklärt worden zu sein.“ Sabine Mandl und Anna Schachner zeigen an praktischen Beispielen auf, wie Selbstbestimmung und Autonomie nicht nur zu mehr Zufriedenheit führen, sie erhöhen auch die Lebensqualität und wirken gewaltpräventiv.
Udo Sierck legt offen, dass sich Gewalt im Verlauf der letzten Jahrzehnte gewandelt hat, sie ist versteckter, unsichtbarer geworden und verbindet sich mit subtilem Zwang. Bettfertig machen und Licht abdrehen am frühen Abend – das fällt auch unter strukturelle Gewalt.
Angela Wegscheider schildert anhand zweier Behindertenheime die Mechanismen struktureller Gewalt. Ihr Beitrag ist Teil eines großen Forschungsprojektes, das von der Caritas OÖ in Auftrag gegeben wurde, damit „die Geschichte der Heimkinder nicht in Vergessenheit gerät“. Es zeigt die damalige Denkweise, die sicherlich in anderen Einrichtungen ähnlich war und die in Ansätzen bis heute nicht überwunden ist.
Bei Anja Teubert geht es um den Nährboden der sexualisierten Gewalt. Sie will nicht nur den Fokus bei der Gewaltprävention allein auf die Stärkung der Kinder legen, denn dann machen wir sie allein verantwortlich für ihren Schutz. Das nutzen Täter und Täterinnen aus, indem sie suggerieren, etwas Gutes tun zu wollen. Sie sind zärtlich und lassen die von der Gewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen glauben, sie trügen selbst etwas zur Situation bei. Die Verantwortung liegt bei uns Erwachsenen!
Karin Iten gibt uns ein Tool in die Hand, wie wir auf verschiedenen Ebenen mit Machtfragen umgehen können. Macht bedingt Sorgfalt und Achtsamkeit, weil in Machtverhältnissen Grenzverletzungen besonders schwer wiegen.
Wir feilen an jeder Nummer unserer Zeitschrift. Wir haben wieder versucht, diesem schwierigen Thema vielstimmig gerecht zu werden. Mit Zahlen und Fakten, dem Bemühen, den Opfern gerecht zu werden, Wege der Prävention aufzuzeigen und mit vielen anderen Facetten zum Thema: etwa dem Plädoyer von Isabella Guanzini für die sanfte Macht der Zärtlichkeit, oder der Anklage von Erwin Riess gegen die „Schande Europas“, wie er die Lage behinderter Menschen in Osteuropa kennzeichnet, bis zu einem Comic über Freundschaft, Achtsamkeit und Gewalt.

 

Inhalt:

Artikel
Gewalt an Menschen mit Behinderungen
Macht und Gewalt
Behindertenheime als Orte struktureller Gewalt
Recht auf selbstbestimmte Sexualität und Schutz vor sexueller Gewalt?
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Menschenrechte in gelebter Praxis
Macht reflektieren und verantworten
Schmerzhaft vom Staub der Jahre bedeckt und gleichwohl unvergessen
Digitalisierung und Abstand – nichts für Willi
Zärtlich ist doch die Macht
Was Kinder brauchen
Herr Braun und die zweite Welle
Die Schande Europas – Zur Lage behinderter Menschen in Osteuropa
Beraten und Stärken – BeSt
Das Dunkel im Licht
Von der Uni lernen können alle
Der radbegeisterte Stehaufmann
Alles Liebe?
Humus für die Banalität des Bösen
Erfahrungen und Lehren aus COVID-19