Thema der Ausgabe 2/2020:

Biographische Spuren

„Mitgefühl, die urmenschliche Eigenschaft, verdorrt durch Distanz.“
(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Biographische Spuren

„Wer bist Du?“ fragt Florian Jaenicke seinen Sohn Friedrich. Friedrich kann ihm mit Worten nicht antworten. Als Fotograf versucht er, ihn mit seinen Bildern besser zu verstehen, Antworten zu finden darauf, was sein Sohn denkt, träumt, fühlt.
„Wer bin ich?“ fragt sein Vater, wenn er über das Leben mit seinem Sohn nachdenkt. Viele Vorstellungen sind zerbrochen. Aber die Glücksmomente sind da, es sind Kleinigkeiten, für die er sensibel geworden ist: zarte Bewegungen und leise Geräusche, die anzeigen, dass Friedrich in der Nähe und in vielen Momenten glücklich ist. Das Leben ist, wie es ist.

Wir sind diesmal auf den Spuren von einzelnen Menschen, die unter besonderen Umständen leben. Birte Müller öffnet den Vorhang zu ihrem Familienleben. Offen, ehrlich und ungeschminkt schildert sie auch diesmal ihre Krisensituation.
Das Lauschen und Hören ist für Michael Wahl der schönste Genuss, da er nicht sehen kann. Diese Sinnlichkeit „hinter dem Sehen“ kann gerade in diesen Zeiten Sinn stiften.
Franz-Joseph Huainigg muss seit über einem Jahrzehnt beatmet werden. Sein Lebenswille ist dadurch nicht gebrochen: „Ich bin geboren, um zu leben“. In einem fiktiven Zwiegespräch mit Gott sieht er seine Lebensaufgabe: „Ich nehme Dir die Lungenkraft und schenke Dir einen langen Atem. Um für die Würde des Lebens zu kämpfen“.
Barbara Jeltsch-Schudel zeichnet die Lebensspur von Nick Gerber nach. Er hatte kein einfaches Leben, dennoch sprechen alle wertschätzend von ihm und wie er in seiner großen Familie das Gefühl der Zugehörigkeit und des Zusammenhalts lebendig gehalten hat.
Nach Bernhard Schmalenbach dienen autobiographische Erzählungen der Emanzipation und Befreiung von fremden und feindlichen Zuschreibungen.
Cosimo Mangione schaut sich genau an, wenn Eltern für ihre behinderten Töchter und Söhne sprechen. Sie sind aufgrund der Lebensumstände oft gezwungen, an deren Stelle einen Lebensentwurf zu planen. Sie kommen dadurch in ein Spannungsfeld zwischen ihrer Schutzhaltung als Eltern und der „Würde der eigenen Biographie“ ihrer Söhne und Töchter.
Sabrina Schramme lässt die heute erwachsenen, ehemaligen „Integrationskinder“ zu Wort kommen. Sie wollten nicht als „Integrationskinder“ oder als „Behinderte“ wahrgenommen werden, sondern zur „normalen“ Gruppe gehören.
Pädagogisches Handeln ist durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Diese machen eine methodische Reflexion notwendig, so Hendrik Trescher. Er erweitert den Zugang zum Verstehen, indem er drei Perspektiven einführt: was die Personen ausdrücken wollen, wie tatsächlich gehandelt wird und was sie dabei subjektiv fühlen und erleben.
Wir haben an dieser Ausgabe unter isolierenden Bedingungen und dem Gebot, voneinander Abstand zu halten, gearbeitet. Die menschlichsten Eigenschaften – Nähe, direkte Begegnung, Berührung – sollen möglichst unterbunden werden. Gerade diejenigen, die danach am heftigsten verlangen, trifft es am härtesten. Die Schilderungen von Müttern, die mit ihren behinderten Kindern alleine zu Hause eingesperrt sind, zerreißen einem das Herz.
„Wer sind wir?“ Wenn die Stopptaste, die die Welt gedrückt hat, etwas Gutes haben will, dann dies: Es wirft die vitalen Fragen nach uns auf, nach einem gelingenden Leben.
Derzeit gibt es viel konkretes Gutes in Distanz. Die tätige Sorge um das Wohlergehen des Anderen wird an vielen Orten und in aufmerksamen Gesten gelebt. Wir erfahren, wie tief jeder von uns in andere Menschen eingebettet ist. Es ist auch ein Aufbäumen der staatlichen Fürsorge für jede und jeden.
Die Verletzlichkeit, die uns gerade vor Augen geführt wird, lehrt uns schmerzlich das Bedürfnis nach Nähe und Gemeinsamkeit. Die tiefen Gefühle der liebenden Verbundenheit spüren wir zunehmend durch ihre Abwesenheit. Mitgefühl, die urmenschliche Eigenschaft, verdorrt durch Distanz. Die Hand, die einem liebevoll über die Haare streicht, haben wir bald wieder bitter nötig.

 

Leseproben:

Der Vater umarmt von hinten seinen lachenden Sohn.
Der Vater umarmt von hinten seinen lachenden Sohn.
Report
Florian Jaenicke

Wer bist Du?

Friedrich, heute 15, ist nach einem massiven Zelltod im Gehirn, bedingt durch Sauerstoffmangel bei seiner Geburt, „global retardiert“. Er hat sich seit seiner Geburt kaum weiterentwickelt und kann die meisten Dinge, die für uns selbstverständlich sind, nie erlernen. Ein anderer Begriff für seinen Zustand ist „infantile Zerebralparese“, das ist eine kindliche Hirnlähmung. Medizinisch kann man Friedrichs Zustand in seitenlangen Befunden beschreiben, die für den Laien nur mit Mühe zu verstehen sind.

Franz-Joseph Huainigg sitzt lächelnd in seinem Rollstuhl vor dem ORF-Gebäude, in dem er arbeitet. Sein Beatmungsschlauch ist unaufdringlich erkennbar.
Franz-Joseph Huainigg sitzt lächelnd in seinem Rollstuhl vor dem ORF-Gebäude, in dem er arbeitet. Sein Beatmungsschlauch ist unaufdringlich erkennbar.
Fachthema
Franz-Joseph Huainigg

Mitten im Leben mit langem Atem!

Ich möchte mit einem kleinen Liebesgedicht an meine Beatmungsmaschine beginnen:

Die Maschine
Leise schnurrt sie neben mir.
Ich atme, sie heult auf.
Ich atme aus, sie schnurrt friedlich.
Ich spreche, sie heult und zischt.
Ich rede schneller, ihr Heulen überschlägt sich.
Ich schreie, sie schreit schrill piepsend mit.
Ich halte den Atem an. Sie stößt Luft in mich hinein.
Ich beruhige mich.
Leise schnurrt sie vor sich hin.
Sie lebt durch mich und ich lebe durch sie.

Zwei ineinander verschlungene Hände in Großaufnahme. Eine Hand ist die des Vaters, die andere die des Sohnes.
Zwei ineinander verschlungene Hände in Großaufnahme. Eine Hand ist die des Vaters, die andere die des Sohnes.
Fachthema
Barbara Jeltsch-Schudel

Die Lebensspur von Nick Gerber – Erste Einblicke in ein angelaufenes Forschungsprojekt

Alter und Altern von Menschen mit Behinderungen sind in den letzten Jahren in mehreren Disziplinen zum Thema geworden. Verschiedene Facetten wurden theoretisch diskutiert und empirisch untersucht, so etwa diverse Wohnformen, Gestaltung der letzten Lebensphase, Palliative Care. In den Blick genommen wurde zunehmend auch die Lebensgeschichte, sei dies in der Praxis, beispielsweise mit Biografiearbeit (z. B. Lindmeier 2017), sei dies in einer wissenschaftsbasierten Herangehensweise wie der Rehistorisierung (Jantzen 2005).

Inhalt:

Artikel
Mitten im Leben mit langem Atem!
Die Lebensspur von Nick Gerber
Biographische Narrative
„Was soll er erzählen? Er ist doch behindert“
Biografische Erfahrungen „ehemaliger Integrationskinder“
Pädagogisches Handeln methodisch reflektieren
Beiträge des anthroposophischen Sozialwesens für inklusive Gemeinwesen (BaSiG)
Wer bist Du?
Lieber Friedrich,
Familienkrise in der Corona-­Krise
In Zeiten des Coronavirus
Sinnlichkeit hinter dem Sehen
Mütter zeigen den Weg
„Der ganze Mensch ist der verletzliche Mensch“
Pakistan: Körperlich behinderte Frauen in Lahore
Den Blick erweitern
Gernot und seine Harley
Von Slavas Flucht und zu vielen Ferien
Mein Weg zum Kunstlehrer
Menschen mit Behinderung am Lebensende
Elias, der Poet
Die Schande von Prato