Sebastian Ruppe im Rollstuhl hat seine fünfjährige Tochter Valentina auf seinem Schoß, der Zwillingsbruder Paul sitzt daneben auf einer Bank.

Sein Familienleben ist dem Autor Sebastian Ruppe sehr wichtig.

aus Heft 1/2020 – Fachthema
Sebastian Ruppe

Aber die Sonne mag mich – Vom Leben mit einer Querschnittlähmung

„Eine Sache ausdrücken heißt, ihre Kraft bewahren und ihr den Schrecken nehmen.“
(Fernando Pessoa, zitiert nach Pascal Mercier: „Nachtzug nach Lissabon“)

Überleben

Überleben, so wie dieser Tage, die dritte Infektion innerhalb von zwei Monaten, nach zwei Harnwegsinfekten jetzt ein bronchialer Infekt, jeder Hustenanfall dauert 40 Minuten, die Zwischenrippenmuskulatur und die Bauchmuskulatur sind gelähmt, es quält, es erschöpft, schwindlig falle ich zurück ins Kissen, diese Nacht ist noch lang, meine Schlaflosigkeit auch. Das Überleben, erleichtert durch die Liebe meiner Frau, die da ist, Geduld hat, mir den Rücken abklopft, um das Husten zu erleichtern, neuen Eibischwurzeltee zubereitet, ihr Dasein, ihr Trotzdem-, Trotz-allem-zu-mir-Halten, da ist jemand, der diesen Körper akzeptiert, mit all seinen Ausfällen, mit all seinen Einfällen. Überleben sind die eineinhalb Stunden Schlaf zwischen 6 und 7 Uhr 30, die tief sind und ungestört von weiteren Hustenreizen, es ist die heiße Tasse Kaffee zum Frühstück, zubereitet von einer persönlichen Assistentin, es sind das Leben und die Erzählungen, die dieser Mensch heute Morgen hier hereinbringt in die Wohnung, Abwechslung vom Kranksein, andere Geschichten, es ist die frische Zeitung auf dem Tisch, es ist die Sonne wieder einmal an diesem Tag, das frische üppige Grün, das sich hochstemmt aus der Wasserschwere der vergangenen Regentage …
Überleben 1991, 6. Oktober, 17 Uhr, Andalusien, Playa de Matalascañas  … Wie, ich weiß es nicht, es ist ein Sprung oder Sturz aus ein bis zwei Meter Höhe ins flache Wasser, ich verliere die Erinnerung an diesen Tag, an die zwei folgenden, wer rettet mich, wer sichert mein Überleben? Ich habe es nie erfahren. Man erzählt mir später, ich hätte meinen Rettern auf Spanisch erklärt, wie sie mich und meine gebrochene Wirbelsäule richtig lagern sollen. Die Erinnerung daran ist ausgelöscht. Vorstellungen und Fantasien werden sich in den kommenden Monaten und Jahren meiner bemächtigen, die Nachmittagsstunden dieses Spätsommertags betreffend, was wäre gewesen, wenn …
Diese Gedanken werden stark genug sein, um einige Jahre später sogar eine Reise an den Ort meines Unfalls zu motivieren, allerdings bringt auch das keinen Aufschluss über die Ursache des fatalen Sturzes oder Sprungs: 5. und 6. Halswirbel gebrochen, da ist es nicht selbstverständlich zu überleben, ich solle froh sein über mein zweites Leben, meine Wiedergeburt, immer wieder höre ich das in den Tagen, Wochen und Monaten nach meinem Unfall. Es tröstet nicht. Für mich ist es doch nur eine Katastrophe. Ich denke viel eher: Wäre es doch aus gewesen, Schlag fünf, aus und vorbei, dunkel, Vorhang zu, 24 Jahre gelebt, eine saubere Sache, Ende, Punkt. Das wäre würdevoller, als nun so weiterleben zu müssen.
Viele Hände, viele Schläuche und Geräte, viele Telefonate, Überlegungen und das Können verantwortungsvoller Menschen sind beteiligt daran, dass ich überlebe. Ich werde nach Graz geflogen, hier operiert, die Wirbelsäule wird stabilisiert – High-Tech-Medizin in einer stundenlangen komplizierten Operation ist für mein Überleben verantwortlich: Ohne Schulmedizin hätte ich keine Chance gehabt!
In der Intensivstation nach der Operation geht es dann erst richtig los, das Überleben-Üben. Irgendetwas in mir will überleben, obwohl die Atmung so schwach ist, dass sie künstlich unterstützt werden muss – wie gesagt, die Zwischenrippenmuskulatur ist auch gelähmt, ich muss lernen, neu zu atmen mit dem Zwerchfell, das funktioniert noch, sonst bin ich von den Schultern abwärts bewegungslos. „Ich war doch ein Sportler.“ Niemanden interessieren solche Gedanken in diesen Wochen, nur mich.
Manchmal reicht es nur für Herzfrequenz 32, da gehen dann die Alarmglocken los, und das Pflegepersonal der Intensivstation stürzt auf von der Mitternachtsjause, um mir Adrenalin zu spritzen, dann geht’s wieder hurtig dahin, ein paar Mal den Tubus absaugen, juchhei, das Weiterleben ist gesichert. In der Früh bei der Morgenpflege trinke ich das Zahnputzwasser neben dem Beatmungsschlauch hinunter, was mir den Ruf eines kleinen Revoluzzers auf der Station einträgt, augenzwinkernde Anerkennung des Pflegers für meine waghalsige Unangepasstheit: Nahrung ist hier ja eigentlich nur durch andere Öffnungen vorgesehen: das Flüssige in die Vene, das Breiförmige durch die Nasensonde in den Magen. Ich kann allerdings die Lust auf echtes, kühles Wasser am Morgen, egal ob mit Zahnpasta vermischt oder nicht, kaum unterdrücken, und so schlucke ich. Ein Triumphmoment, eine Ausnahmesituation – ich habe mir mein eigenes kleines Glücksmoment geschaffen inmitten dieser artifiziellen Umgebung, die für Glück wenig Spielraum lässt.
Die Zimmeruhr, die die Sekunden zählt, ich mit ihr, so komme ich über den Tag und durch die meist schlaflosen Nächte. Auch hier während sechseinhalb Wochen Intensivstation sind es die Lieben, die Nahen, die Familie, die damalige Freundin, an denen mein Leben sich festhält. Die mit ihren Geschichten von draußen kommen, manchmal mit einer Karotte vom Markt – ich darf sie nicht essen, kann sie aber anschauen. Sie macht sich neben all den Perfusoren, Monitoren und Beatmungsgeräten aus wie ein Manifest des wahren Lebens.
Es ist der Gedanke an den Grünpolitiker Manfred Srb – dieser Mann war Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre samt seinem Rollstuhl im österreichischen Parlament –, der mich zum ersten Mal hoch holt, der mich denken lässt, dann musst du eben aus dieser Situation heraus, in diesem Zustand etwas Sinnvolles tun. Später der Gedanke an die Rehabilitation: Wenn ich nur endlich von diesen Schläuchen entkoppelt bin, wird das Weiterleben beginnen, dann kann ich trainieren, an Veränderung arbeiten, dem Tag und dem Leben wieder Sinn abgewinnen. Wann ist es endlich so weit? – Und dann gibt es noch einen Arzt mit einem großen schwarzen Rauschebart, er baut aus irgendwelchen medizinischen Stativen einen Ständer, auf dem ich es dann tatsächlich täglich schaffe, zwei Artikel aus der Zeitung zu lesen, bevor sich wieder schwarzer, kreiselnder Schwindel über meine Augen legt. Die Zeitung hat, glaube ich, zehn Schilling gekostet, er hat das Geld dafür aus seiner privaten Geldbörse genommen, daran erinnere ich mich noch. Die Ausgabe reicht für die ganze letzte Woche meines Intensivstationaufenthaltes, denn die Tagesaktualität der Artikel hat keine Bedeutung für mich. Was zählt, ist, geistige Nahrung in mich aufzunehmen, es entsteht nach sechs Wochen ein erster Bezug zum Leben, sonst geht es in diesen Tagen einzig um den ersehnten Entlassungstermin, wann endlich werde ich in das Reha-Zentrum überstellt, wann kann ich den Kampf gegen die Behinderung aufnehmen?
Manchmal bitte ich den Arzt mit dem schwarzen Bart um mehr Luft, wenn ich wieder einmal das Gefühl habe, nicht genug Sauerstoff zu bekommen. Er sagt dann zwar, er könne da nichts machen, erklärt mir aber mit ruhiger Stimme, dass die Sauerstoffsättigungswerte in Ordnung seien, es sei nur mein subjektives Gefühl, er bittet mich, ruhig zu bleiben, weiterzuatmen, er erzählt von einem Bauernhof im Ennstal, von dem er stammt, meine Atempanik beruhigt sich.

Rehabilitation

Das Rehabilitationszentrum Tobelbad ist ein Schock, es dauert drei Monate, bis ich schwindelfrei im Rollstuhl sitzen kann, von Fahren keine Rede. Das Unterhosenanziehtraining beginnt um sechs Uhr 30 in der Früh, nach drei Monaten schaffe ich es, in 40 Minuten die Unterhose über ein Bein zu ziehen. Tränen sind hier nicht erwünscht, zum Glück gibt es Zimmergenossen, sogenannte „alte Hasen“, deren Unfall schon länger zurückliegt, die dazu auffordern. Sie wissen, wie man sich fühlt, so kurz nachdem alles anders geworden ist, so weit entfernt vom früheren Leben. Sie erteilen die Lizenz zum Weinen. Hinauszuschluchzen, ja zu brüllen ist mitunter das Tor zum Überleben. Das Pflegepersonal denkt hingegen an den Tagesablauf: Sieben Uhr frühstücken, acht Uhr kathetern, 14 Uhr kathetern, 20 Uhr kathetern, 10 Uhr 30 Rollstuhltraining: Rollstuhlfahrer unterschiedlicher Verletzungshöhen werden ins Rollen gebracht. 11 Uhr 30 Mittagessen, kein Hunger, schwindlig nach dem Training, der Löffel wird mit einer Plastikkonstruktion, die ich als hässlichen Fremdkörper empfinde, an der zittrigen, gelähmten Hand befestigt, eine Errungenschaft der Ergotherapie, wie das jetzt heißt … Endlich ausruhen, Pfleger legen mich ins Bett, doch um 14 Uhr, wenn einsetzende Träume mir gerade ein unbehindertes anderes Dasein vorgaukeln, heißt es schon wieder aufstehen, hinunter in die Physiotherapie, Gewichte heben, 16 Uhr 30 Abendessen, ja, 16.30! Gab es nicht einmal Zeiten, als wir um 21 Uhr in Wien in die Pizzeria aufbrachen? Danach ist aller Tage Abend, Abend in Tobelbad, der Tag tot, keine Trainingsmöglichkeiten mehr, die Therapieräume, das einzig Sinnbringende, um dieser Hölle ein Stück weiter zu entkommen, abgesperrt.
Die Rollstuhlkollegen ertränken ihre Traurigkeit ab 17 Uhr in der Cafeteria. Ich rolle rastlos durchs Haus, quäle mich noch dreimal die Rampe hoch, irgendetwas muss doch besser werden. Ich will nicht sein wie sie mit ihren krummen verbogenen Rücken, den klobigen Rollstühlen, bekleidet mit den immer gleichen blauen Trainingshosen, wo ist das Leben? Ich finde es manchmal draußen in einer Kurve des Parkweges, auf den die Sonne scheint, ich bleibe stehen, beobachte die Natur, blicke an den Rollstuhlstangen hinunter zu Boden, sehe Käfer über die Steine krabbeln, ich sehe sie jetzt genauer, im Sitzen bin ich ihnen näher. Es ist ein Aufhängen der Gedanken an die Wolken, die ziehen, ein Hinausschrauben der Fantasie in den Sommerhimmel, Gedanken an früher, an den kalten Kalkstein unter den rauen Fingern, Fuß für Fuß vorsichtig höher setzen, den Karabiner einhängen, durchatmen, Stand bauen, Sportklettern. Das war einmal.
Ich entdecke die Kapelle für mich, die niemand aufsucht, hier kann ich Stille tanken, der Selbstbezogenheit der biertrinkenden Gruppenidentität entkommen: „Jetzt bist ein Querschnittler, also sauf ma.“ Ich war doch vor ein paar Wochen noch mit meinem Fahrrad in den Pyrenäen. Die „alten Hasen“ haben auch ihre ungesunden Seiten, vor denen ich mich fernhalten will. Alkohol: Es läge nahe, aber es tröstet mich nicht. Es gibt eine Bibliothek. Auch hier bin ich allein, niemand tritt oder rollt herein, stundenlang, die Bücher sind uninteressant, aber ich habe meine eigenen mit, oft sitze ich da bis spät, lasse mich vom Nachtdienst suchen, ein Freiraum ist geschaffen, Zubettgehen ist entweder um 18 Uhr oder um 22 Uhr möglich, dazwischen nicht – ich habe mich an von anderen festgesetzte Zeiten zu halten, alleine kann ich es ja nicht mehr. Das Pflegepersonal beantwortet meine Suche nach Freiräumen mit engeren Grenzen. „Ein Reha-Aufenthalt ist kein Kuraufenthalt, hier ist zu üben, Disziplin zu lernen, zu trainieren, Zeiten und Regeln sind einzuhalten, das Leben mit einer Querschnittslähmung will gelernt sein, es erfordert ein strenges Regime über den Körper, wann wirst du das endlich kapieren? Wir wissen, was gut ist für dich, lass es dir sagen, hältst dein Übel wohl für einzigartig, wenn du nur wüsstest, wie viele hier schon durch die harte Schule gegangen sind“, so lese und höre ich ihre Gedanken.
Der Anstaltspsychologe hat folgenden tröstenden Satz für mich bereit: „Letztlich sind Sie ein weiteres Opfer der Statistik, Herr Ruppe.“ Nein, so will, so kann ich nicht sein. Es klingt wie, „Aus Ihnen wird nie etwas.“ Ich war doch schon einmal wer. Ich versuche mich dessen zu versichern, indem ich mich tagsüber in der Ergotherapie an die Schreibmaschine setze und mit zwei Plastikklammern an meinen Händen Texte über früher in die Maschine klopfe, Hasstiraden auf das Heute. Es nützt nichts oder nur stundenweise: Sobald ich ende, hält die Bewegungslosigkeit mich erneut gefangen. Die Realität will, dass ich ihr endlich ins Auge schaue.
Ich habe viel Besuch, auch das den Pflegeverantwortlichen ein Dorn im Auge, sie würden gerne allein den Tagesablauf meines Körpers bestimmen, sie halten sich aus jahrelanger Erfahrung für die einzig wahre Querschnitts-Lebensschule – „eine Jean ist keine Hose für einen Querschnittsgelähmten“. Ich weigere mich, in der Trainingshose auf einen Therapieausflug in die Stadt zu fahren. Musik ist ein Trost, das ständig präsente, quälend laute Fernsehen nicht, das hat doch nichts mit wahrem Leben zu tun, die haben ja alle Muskeln, die können sich bewegen, da kann ich nichts herauslesen für meine Situation. Ein Freund kommt fast jeden Tag, ich hätte das nicht gedacht, sein fröhlicher roter Sportwagen draußen vor dem Reha-Zentrum ist ein Zeichen der Gegenwelt. In den Gesprächen mit ihm bekommt mein Leben wieder Profil, ein Verbündeter gegen das Rollstuhlkrankenpflegestationblauetrainingshosenwundliegesuppositorienergotherapieterminzentrum.
Carpe diem – Die Zukunft existiert nicht
„Die Zukunft existiert nicht“, diesen Gedanken – schwer zu denken! –, übe ich mit einem anderen Freund ein. Er kommt von weit her – es muss mir etwas Schwerwiegendes passiert sein, meine Besuche scheuen keine Anreisedistanzen –, mit ihm war ich vor drei Monaten noch in den Pyrenäen. Ich kann, ich will mir ein Leben im Rollstuhl noch immer nicht vorstellen, aber es drängt sich auf, in den furchtbarsten Farben, ein Horrorgemälde. Aber „die Zukunft existiert nicht“, es reicht, diesen einen heutigen Tag zu bewältigen.
Dieses Motto – umgekehrt und also positiv formuliert, würde es lauten „Carpe diem, nutze den Tag“ – wird zu meiner persönlichen Überlebensstrategie der kommenden Jahre, in denen sich zeigt, dass das Leben außerhalb des Reha-Zentrums zwar freier, aber noch viel anstrengender ist als innerhalb der Versorgungsmauern. Ist das Duschen und WC-Gehen mit einer Querschnittslähmung ein mühevoller, oft stundenlanger, kräfteraubender Prozess, so gönne ich mir danach eine Stunde in der Sonne. Die Sonne wärmt mich, mag mich, so wie ich bin, sie stellt keine Bedingungen, ist einfach nur da, scheint mich an. Ein gutes Buch dazu, ein intelligenter Zeitungsartikel, eine zweite Tasse Kaffee, und ein Ausgleich des Wohlfühlens ist geschaffen zu dem, was innerlich quält. Stundenlanges Spazierenfahren, Bewegung, auch Tischtennis kommen bald dazu, sind wichtige Strategien, um mich Schiff über Wasser zu halten. Bald auch die Wiederaufnahme des Studiums, die Lernsachen am Tisch, ein zu bewältigendes Pensum, der Tag ist gegliedert, es geht etwas voran.
Ein Glück verheißender Moment jeden Tag ist der Weg zum Postkasten, wir sprechen von jener Zeit, als man noch Briefe schrieb, es kommen auch Briefe aus fernen Ländern, sie sind ein, zwei Wochen unterwegs, dem Briefumschlag sieht man die Reisestrapazen an, ein Brief riecht auch, ich schreibe viele, fast täglich, ein Bewältigungstagebuch in alle Welt verteilt.
Das Einrichten der kleinen neuen Wohnung, funktional und trotzdem schön, wird zu einem Herzensprojekt, bei dem der Freund mit dem Sportwagen hilft. Er ist Architekt, und manchmal fahren wir gemeinsam im Sportwagen zu Geschäften, um Schrauben oder Kleber einzukaufen.
Das Einsteigen in den tiefen Flitzer ist bald erlernt, und wenn wir dann nebeneinander sitzen, ist meine Behinderung verschwunden, der Rollstuhl im Kofferraum versteckt. Ich lerne eine Vielfalt von Betrieben kennen in Graz und Umgebung, die ich nicht kannte und die jetzt kennen zu lernen meinem Leben ein Stück Sinn zurückgibt. Anstrengungslos beginne ich meine Aufmerksamkeit auf Kleinigkeiten des Alltags zu richten, früher Ungesehenes, „Normales“ rückt genauer in den Blick, es entsteht Empathie Lebensrealitäten gegenüber, die mir früher entgangen sind. Außerdem bin ich im Rollstuhl normaler Kunde der von uns aufgesuchten Unternehmen.
Auch nach dem Einkaufen in der Pizzeria mit dem Freund formen sich erste Einsprengsel einer neuen Lebensnormalität: Auch die anderen Gäste sitzen, wenn auch nicht auf Rädern. Oft sind Geschäfte oder Lokale aber nicht zugänglich, wir müssen uns über Stufen mühen, finden keine WCs, die berollbar sind. Der Kampf dagegen entwickelt sich während des folgenden Lebensabschnitts zu einer neuen Überlebensstrategie.

Brücken bauen

Ich engagiere mich journalistisch und aktionistisch für mehr Barrierefreiheit, mein Engagement verwandelt den Rollstuhl unterm Hintern langsam vom behindernden Anhängsel zum Experten-Attribut. Ich bin Experte für einen Lebensbereich, den andere nicht kennen, nicht kennen wollen. Ich sehe mich als Brückenbauer zwischen denen auf zwei Füßen und denen auf vier Rädern. Die Botschaft ist einfach: Hey, es kann euch allen jederzeit passieren. Geht nicht so hochmütig durch eure Leben, denkt uns mit. Und so engagiere ich mich in Baugruppen, nehme an Gesprächsrunden und Symposien teil, halte Vorträge auf Tagungen, mache Politikern und Architekten Vorschläge, schreibe in Zeitungen. Schließlich ist es das eigene Weiterleben in dieser Gesellschaft, um das ich hier motiviert kämpfe. Anderen helfen, denen es gleich geht, Vermittler sein zwischen denen, die sich Behinderung nicht vorstellen können und wollen, und denen, die ihrer Behinderung keine Worte zu geben vermögen.
Um die Jahrtausendwende übernehme ich für einen kurzen Zeitraum das Referat für behinderte und chronisch kranke Studierende an der Universität Graz, das Erkämpfen von Rechten für eine Minderheit innerhalb einer großen Institution ist motivierend, die Ignoranz und Widerstände, auf die man dabei stößt, sind frustrierend.

 

Reisen

 

Das Reisen wird zu meiner Leidenschaft. Auf spontanen, billigen Restplatzreisen irgendwohin nach Europa oder in die USA, gemeinsam mit lebenslustigen Freunden oder Geschwistern, merke ich zum ersten Mal, dass Reisen mir Luft schafft; es lockert den strengen Gürtel der Behinderung, der um mich geschnallt ist, mit ihren immer gleichen Abläufen, Orten, Verpflichtungen. Im Rollstuhl verreisen erfordert zwar Abenteuergeist, Organisationstalent und eine ausgeklügelte Logistik, je mehr Freunde dabei sind, desto ungezwungener und spontaner ist es allerdings möglich.
Und so rattern wir im Jeep durch Zypern, sitzen an einem Montagnachmittag im Frühjahr plötzlich an Kretas Südküste beim Essen, setzen im Nachtflug auf Miami an oder fahren das alte Auto meines Vaters in den Karpaten der Westukraine zu Schrott.
Im Auto, Flugzeug, in der Eisenbahn und letztlich im Rollstuhl Landschaften zu durchqueren ist Bewegung, und um die Kompensation von Bewegungslosigkeit geht es täglich seit dem 6. Oktober 1991. Wo ist ein Hauch von Schwerelosigkeit? Was hebt die Erdgebundenheit auf, jetzt, wo es nicht mehr das Bergsteigen, das Radfahren oder das Waldlaufen sein kann?
Eine geplante Durchquerung von Lappland auf Hundeschlitten, die Freunde auf Langlaufschiern, scheitert dann allerdings an der Komplexität der Aufgabe. Für zu erwartende Temperaturen von 35 Grad unter null wäre die Konstruktion eines beheizbaren Cockpits vonnöten, das auf den Hundeschlitten aufgesetzt werden kann. Der Hundetrainer und unser Tourphysiker geben auf, und beim Gedanken an die Notwendigkeit sterilen Katheterisierens mit gelähmten Händen im Schneesturm nördlich des Polarkreises frage auch ich mich dann: Wozu soll ich mir das eigentlich antun?

Auf dem Weg zur eigenen Mitte

Ich verschiebe die Grenzen in die andere Richtung und reise nach Abschluss meines Studiums alleine nach Kuba. Ich lebe vier Monate in Havanna bei einfachen Leuten, die zu meinen Lebensfreunden werden.
Kuba erlebt nach dem Wegfall der Hilfe durch die Sowjetunion Anfang der Neunzigerjahre einen kontinuierlichen período especial, also einen Ausnahmezustand, das heißt simpel, die Bevölkerung hat nichts zu essen, ich erlebe, was es heißt, sich alle zwei Wochen über vier Eier und einen halben Liter Öl für die Familie zu freuen, mehr gibt es von den rationierten Lebensmitteln nicht.
Mein westliches Geld reicht auch nicht für alles, und so leben wir relativ bescheiden. Ich lerne Überlebensstrategien der anderen Art kennen und begreife langsam, dass eine Querschnittslähmung nur eine Schicksalsvariante ist, es gibt viele Formen von Schwierigkeiten, nicht auszudenken, wenn sie sich summieren.
Zu dem Satz „Die Zukunft existiert nicht“ tritt der „weise Blick“ hinzu. Er geht so: Schau nicht auf das, was du nicht hast, sondern auf das, was da ist. Vergleiche dich nicht mit denen, denen es besser geht, sondern mit denen, denen es schlechter geht. Es gibt sie an jeder Straßenecke, an jeder Biegung des Lebens. Wiederum: leicht zu denken, aber schwer zu leben. Unsere Gesellschaft ist genau in die Gegenrichtung gepolt: höher, stärker, weiter, rastlos, unzufrieden mit dem Gegenwärtigen.
Selbst stecke ich ja genauso in dieser Leistungsspirale in meinem Beruf an der Universität, und gerade mit einer doch erheblichen körperlichen Einschränkung muss man sich immer wieder fragen: Ist das meine „Mitte“, ist mir das noch zuträglich, wo sind meine Grenzen, worum geht’s im Leben?
In einer Ausbildung zum Lebens- und Sozialberater habe ich in den vergangenen Jahren ein Tätigkeitsfeld gefunden, das für mich sehr nahe an dieser Mitte des Lebens liegt. Im Zuhören, im Gespräch mit anderen Menschen, die sich ebenfalls in dieser suchenden Kreisbewegung um ihre eigene Mitte befinden, ist mir noch klarer als bisher geworden, dass wir alle zum selben Stern gehören. Anerkennung, Liebe, Sicherheit, Sinnerfüllung, das suchen wir in unserem Leben, egal ob behindert oder nicht.
Wie dort hinkommen? Das ist die Frage, auf die es wahrscheinlich so viele Antworten wie Menschen gibt. Ich bin gerade dabei, mir zu dem bereits zitierten Satz „Die Zukunft existiert nicht“ eine weitere – zugegeben herausfordernde – Überlebensstrategie zurechtzulegen: Tue nichts aus Angst, nichts aus Pflicht, nichts aus Scham oder Schuld in deinem Leben. Lebe, weil du leben willst, und lebe, was du leben willst.
Nachbemerkung Februar 2020:
Den vorliegenden Text schrieb ich für ein mündliches Kolloquium zum Thema Überleben im Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz im Jahr 2006. Der Text fokussiert auf meinen Unfall 1991 und die unmittelbare Zeit danach in Intensivstation, Rehabilitationszentrum und dann zu Hause, als es zuerst einmal galt, das physische und psychische Trauma zu bewältigen und in mein Leben zu integrieren. 28 Jahre nach meinem Unfall kann ich heute sagen, dass die Bewältigungsarbeit noch immer, wenn auch in anderer Form, in Gang ist. Sprache, das Ausdrücken, Benennen, drüber Sprechen, Erzählen, der Austausch mit Zuhörenden und Gleichgesinnten, Gesprächstherapie, Peer Counseling, all das hilft immer noch. Wo die Sprache und das Sprechen an ihre Grenzen stoßen, sind es Körperarbeit, Massage, Physiotherapie, Sport, Schwimmen oder Bewegung in der Natur, die Linderung bringen. Mit den Jahren stellt sich entlastende Routine aber auch schmerzhafte Abnützung ein. Nicht jede Reise, die einmal verlockend erschien, will mehr gemacht werden. Das Ausruhen hat einen großen Stellenwert bekommen, genug Schlaf, genug unverplante Zeit. Meditieren, einfach da sein und die Intuition sagen lassen, wo es langgeht. Mit anderen Menschen sein, gut essen, dankbar sein. Und meine tolle Frau und meine wunderbaren Kinder, meine Familie: das ist das Schönste, das Größte, das Wertvollste, was ich habe. Das ist, was mich trägt und was ich tragen darf, hoffentlich noch lange ohne Ermüdung.
Sebastian Ruppe, Mag.
Geboren 1967 in Salzburg. Spanisch- und Germanistik-Studium in Graz und Wien. Ausbildung zum Lebens- und Sozialberater. Lehrtrainer für soziale Kompetenz im Umgang mit behinderten Menschen. Gründer des Vereins „Selbstbestimmt Leben Steiermark“. Verheiratet, zwei Kinder. Lebt in Graz und unterwegs.

sebastian.ruppe@chello.at