Wo alle Körper auserlesen sind
Es ist 2009, und ich bin in Philadelphia, um auf einer Konferenz einen Vortrag zu halten. Während einer langen Pause entscheide ich mich, das Mütter Museum zu besuchen. Ich unterrichte Anatomie, und das Museum besitzt eine Sammlung sogenannter medizinischer Kuriositäten. Ich betrachte die Wand voller Totenschädel, die Schaukästen voller Skelette, und dann gehe ich nach unten, wo mich konservierte Präparate erwarten.
Dort werde ich mit einem großen Schaukasten voller Präparate in Gläsern konfrontiert. Jeder Glasbehälter enthält einen Fötus im fortgeschrittenen Stadium, und alle Föten weisen die gleiche Fehlbildung auf: Ihre Wirbelsäule umschließt nicht ihr gesamtes Rückenmark, sodass Löcher (Läsionen genannt) in ihrem Rückgrat verbleiben. Aus einigen ragt eine pralle Blase, die einen Teil des Rückenmarks enthält. Durch sie wirken die Föten, als würden sie gleich explodieren. Dieses Leiden wird Spina bifida genannt.
Ich stehe vor diesen winzigen Menschen und versuche, nicht in Ohnmacht zu fallen. Ich habe noch nie gesehen, wie ich am Tag meiner Geburt aussah.
Aber das ist im Wesentlichen, was meine Mutter sah, kurz nachdem ich geboren wurde. Es erfüllt mich mit Ehrfurcht, dass sie nicht zurückschrak, dass sie mich nicht in eine Anstalt schickte, sondern dass sie mich behielt, für mich kämpfte, mich selber das Kämpfen lehrte. Und dennoch verspüre ich Betroffenheit ob der reinen Fremdartigkeit meines Körpers, eine sehr, sehr alte Scham und schließlich Kummer. Nicht für mich selber; ich fühle all das für meine konservierten Leidensgefährten, weil für ihre Körper die Zeit angehalten wurde. Historische Artefakte, die einen Moment verewigen, in dem die Medizin nichts anzubieten hatte.
Spina bifida
Jeder menschliche Körper markiert einen Zeitpunkt. Ich wurde im Jahr 1958 geboren, als Chirurgen gerade eine Möglichkeit entdeckt hatten, die Läsion der Spina bifida zu verschließen. Die gängige medizinische Praxis bestand darin zu warten, bis das Kind zwei Jahre alt geworden war, bevor ein chirurgischer Eingriff durchgeführt wurde. Ein Kind, das so lange lebte, wurde als stark genug erachtet, um zu überleben. Doch das taten nur wenige. Ich hatte Glück, denn mein Chirurg hatte die neuesten Techniken studiert und glaubte nicht an diese darwinistische Bioethik. Er führte den Eingriff sofort nach meiner Geburt durch.
Als ich fünf Jahre alt wurde, hatte mein Chirurg, Dr. Lester Martin, mich mehrere dutzend Male operiert. Das ist für Kinder mit meiner Form der Spina bifida (Myelomeningozele genannt) nicht ungewöhnlich. Es war aber doch ungewöhnlich, dass ich gehen konnte und dass ich nicht an einem Hydrocephalus (einer Ansammlung von Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit im Gehirn) litt, welcher in solchen Fällen für gewöhnlich auftritt. Ich trug jedoch Organschäden davon, hatte einen asymmetrischen Körper, meine Bewegungsfähigkeit war eingeschränkt und ich hinkte. Es war der Beginn eines Lebens unter einem Chor von Fremden, die alle sangen: Was stimmt nicht mit dir? Was stimmt nicht mit dir?
Ich wurde damit fertig, indem ich mich in bauschiger Kleidung versteckte und fest darauf bestand, normal zu sein. Ich klammerte mich an die Illusion, dass ich so durchgehen konnte. Ich ging ohne meine Brillen umher (meine Kurzsichtigkeit ist erstaunlich, genauso wie die Tatsache, dass ich nie überfahren wurde) um mein Spiegelbild nie in Schaufenstern zu sehen.
Neue Bilder
Doch nichts verändert das Selbstbild eines behinderten Menschen wie ein anderer behinderter Mensch. Ich bin Malerin, und 1995 wurde ich eingeladen, mich einer Gruppe von Künstlern, Schriftstellern und Darstellern anzuschließen, die eine Kultur der Behinderung („disability culture“) schaffen wollten. Ihre Arbeiten waren gewagt, ausgefallen, komisch und düster; sie lehnten alte Topoi ab, die uns als bedauernswert, furchterregend und wertlos definierten. Sie bestanden darauf, dass Behinderungen eine Gelegenheit für Kreativität und Widerstand darstellten.
Während ich aufwuchs, hatte ich genug medizinische Illustrationen und Plakate für Monstrositätenschaus gesehen. Die einzigen Bilder des zeitgenössischen behinderten Körpers, die ich je gesehen hatte, waren von Photographen, die ihre behinderten Modelle als Inkarnationen geistiger Unruhe verwendeten, wie etwa jene in den Arbeiten von Joel-Peter Wilkin. Geschöpfe des Leidens und der Sünde. Eine monströse Symbolik, die mir beibrachte, dass ich ein Monster war. Niemals sah ich Arbeiten, welche die Schönheit behinderter Menschen zeigte, außer, es handelte sich um eine banale und rührselige Schönheit. (Gott schütze mich vor „inspirierenden Zeugnissen des menschlichen Willens“.) In dieser neuen Gruppe sah ich behinderte Körper zum ersten Mal als etwas Unerwartetes und Bezauberndes und Aufregendes. Jeder dehnte die Grenzen von dem, was es heißt, menschlich zu sein. Sie machten die Welt groß genug, um mich aufzunehmen.
Heute bin ich als Erwachsene weniger als einen Meter fünfzig groß. Mein Rückgrat ist gekrümmt. Ich trage riesige, klobige orthopädische Stiefel. Mein Anderssein ist sichtbarer als je zuvor – aber ich trage jetzt immer meine Brillen. Ich schrecke nicht mehr vor meinem Spiegelbild zurück. Ich muss sagen, es ist schön, nicht mehr nahezu so oft gegen Gebäude, Fußgänger, Hunde und geparkte Autos zu stoßen.
Die Schriftstellerin Elaine Scarry schreibt in ihrem Buch On Beauty and Being Just, dass Schönheit im Betrachter den Wunsch auslöst, sie zu kopieren. Wir wollen das vervielfältigen, was uns ästhetischen Reiz beschert. Die Leute, die ich soeben getroffen hatte, entfachten in mir denselben Impuls, als ob ich ihr Wesen aufnehmen wollte, um sie künstlerisch nachzubilden. Und so schluckte ich und fragte, ob ich ihre Portraits malen durfte. Als sie ja sagten, veränderten sie mein Leben.
Schönheit
Ich begann damit, meine Kollegen über ihre Karriere und ihr Privatleben zu befragen. Die Bilderwelt der Portraits entstand aus diesen Gesprächen. Ich gab ihnen sehr viel Kontrolle über die Bilder, denn fast alle empfanden es als schmerzhaft, angestarrt zu werden, und ich weigerte mich, diesen Schmerz zu wiederholen. Meine Kollegen machten in diesem Prozess ihren Anspruch auf ihre eigene Schönheit geltend.
Der tiefgreifende ästhetische Reiz, den ich empfinde, kann anhand eines einzigen Bildes erklärt werden. Ich traf den Dichter, Essayisten und Aktivisten Eli Clare zum ersten Mal kurz vor seiner Geschlechtsangleichung. Sein Portrait (siehe Seite 40) entstand über zwei ganze Jahre, während denen ich seine Verwandlung mitansah. Elis Behinderung ist Zerebralparese, welche eine durchgehende isometrische Aktivität der Muskeln verursacht. Dadurch ist Elis Körper sehr konturiert, so athletisch geformt, dass er einer klassischen Art der Schönheit entspricht. Zudem lebt Eli in Vermont und ist ein begeisterter Wanderer und Radfahrer. Die Art, in der Eli seinen Körper gebraucht, und die Auswirkungen seiner Beeinträchtigung verleihen ihm eine Anmut, der männliche und weibliche Ideale vereint. Die meisten Leute würden niemals bemerken, dass eine Behinderung der unmittelbare Grund für Stärke und Gesundheit sein könnte; aber das ist es, was Körper so magisch macht – sie reagieren mit ihrer eigenen Art der poetischen Genialität auf das Unerwartete.
Ich hatte das Glück, mit anderen prominenten Figuren der „disability culture“ zu arbeiten, wie auch mit Mitgliedern der LGBT-Gemeinschaft; Menschen, die eine gemeinsame Geschichte des auferlegten Stigmas haben, wie die Bilderromanautorin Alison Bechdel, bekannt durch Fun Home und Are You My Mother?; der britische Schauspieler Mat Fraser, Star der Serie American Horror Story: Freak Show; Lynn Manning, ein Dichter, Dramaturg und Gründer des Watts Village Theaters; Lennard Davis, ein Theoretiker der Disability Studies, dessen Memoiren an sein Leben als hörender Sohn gehörloser Eltern erinnern; Nomy Lamm, eine Musikerin und Aktivistin zu den Konzepten der Fat- und Queer-Identität; die Psychologin, Wissenschafterin und Aktivistin Rebecca Maskos (s. Seite 24), die daran arbeitet, in Deutschland eine lebhaftere „disability culture“ zu schaffen; und die Tänzerin Alice Sheppard, die half, Choreographie auf Rollstuhlbasis neu zu definieren.
Diese Portraits verlangen nicht nach Sympathie oder Empathie – nicht einmal, dass Betrachter die Schönheit der Modelle akzeptieren. Ich will nur, dass die Betrachter sich das Leben der Menschen vor ihnen vorstellen. Dass wir uns nach einer Welt ausstrecken, in der alle Körper auserlesen sind, während sie sich zwischen allen Gestalten der Menschlichkeit bewegen.
Denkanstöße für die Zukunft
Ich hätte leicht als Schaupräparat in einem Glas enden können. Doch der glückliche Zufall schenkte mir einen Chirurgen. Beherzte Eltern schenkten mir ein Leben außerhalb der Anstalt. Heute unterrichte ich Zeichenkunst im Studiengang in den Medical Humanities an der Northwestern University. Meine Studenten im ersten und zweiten Studienjahr zeichnen die anomale Fötus-Sammlung im Leichenraum. Jeder Fötus weist eine unterschiedliche Entwicklungsbeeinträchtigung auf.
Ich lehre meine Studenten, die fötalen Körper bis ins kleinste Detail abzubilden, bis die Zeichnungen zu tiefgründigen Untersuchungen von Körpern werden, für welche die Zeit stillsteht. Ihre letzte Aufgabe ist es, eine zeitgenössische Person zu erforschen, die dieselbe Fehlbildung wie ihr auserwählter Fötus hat, und ein Referat über ihr Leben zu halten. Es hilft diesen zukünftigen Ärzten dabei, die Präparate nicht mehr als historische Artefakte oder tragische medizinische Probleme zu sehen. Es ist, als wären wir wieder im Mütter Museum, doch dieses Mal bekommen diese Föten mögliche gegenwärtige Leben: ein Schritt vorwärts in die Zukunft.
Circle Stories (Kreisgeschichten)
Circle Stories ist eine Portraitreihe von Menschen mit Karrieren in den Bereichen der Kunst, der Wissenschaft und des politischem Aktivismus. Jeder und jede hat eine erhebliche körperliche Behinderung und erforscht Themen um den Körper in seinen oder ihren eigenen Arbeiten.
Die Bezeichnung „Kreisgeschichten“ bezieht sich auf mehrere Aspekte des Projekts. Das Prozedere der Portraitmalerei ist zyklisch, denn es erfordert lange Gespräche mit den Teilnehmern, in denen wir ihr Leben, ihre Arbeiten und ihr Verständnis der Behinderung besprechen. Im Laufe dieses partnerschaftlichen Prozesses streben wir eine Bildsprache an, die ihre wirklichen Erfahrungen darstellt.
Zudem ist der Kreis des Rollstuhls das beinahe gemeingültige Symbol der Behinderung, ein Rad, das den gewöhnlichen Gegenstand des Stuhls in das Zeichen der körperlichen und sozialen Differenz verwandelt.
Schließlich beabsichtigen meine Arbeiten, die Existenz einer Gemeinschaft behinderter Vorkämpfer nachzuzeichnen, die Unterstützung und Kontexte für die Neudefinition der Behinderung im 21. Jahrhundert liefern. Dies ist für mich der bedeutendste Kreis von allen.
Riva Lehrer
Riva Lehrer: Künstlerin, Pädagogin und Kuratorin
Inspiriert von ihren eigenen Erfahrungen mit Spina bifida, einer Fehlbildung, bei der die Wirbelsäule im Mutterleib das Rückenmark nicht ganz umschließt, erklärt Riva Lehrer ihre Arbeiten, die darauf abzielen, „disability culture“ umzugestalten. Durch Portraits von Menschen mit Behinderungen oder anderen Stigmata stellt sie ihre Modelle als etwas Unerwartetes, Bezauberndes und Aufregendes dar. Als Zeichenlehrerin im Studiengang der Medical Humanities an der Northwestern University bringt sie Studenten bei, Körper nicht als Objekte oder Fehlbildungen zu betrachten, sondern als mehrdimensionale Menschen mit mehrdimensionalen Leben und Geschichten.
Aus dem Englischen: Michael Angerer
© New York Times