Bunte Landschafts- und Stadteindrücke

Gemälde von Petra Frühauf. Sie ist Künstlerin der Remstal Werkstätten der Diakonie Stetten e.V..

aus Heft 6/2019 – Fachthema
Andre´ Frank Zimpel

Spiel und Förderung

„Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. Phantasie umkreist die ganze Welt.“
(Albert Einstein 1929)

„Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen.“
(Ludwig Wittgenstein 1953)

Kinder werden nicht mit viel Phantasie geboren. Sie müssen sie erst entwickeln. Die Entwicklung der Phantasie ist eine zentrale Voraussetzung für die geistige und die sprachliche Bildung. Das ist eine Grundannahme der Spielforschung an der Universität Hamburg seit ihrer Gründung vor genau 100 Jahren. Kinder entwickeln ihre Phantasie nahezu ausschließlich im Spiel. Mit jedem Sprachspiel, an dem sich Kinder beteiligen, weitet sich der Horizont ihrer Phantasie, mit jedem Konstruktionsspiel erweitert sich ihre innere Bilderwelt und mit jedem Bewegungsspiel entwickeln sie ihre Fähigkeit, eine komplexe Welt in phantasievollen Mustern einzufangen. Kinder im Neurodiversitätsspektrum bleiben in ihrer kognitiven und sprachlichen Entwicklung hinter ihren Möglichkeiten zurück, wenn sie zu wenig Gelegenheit zum freien Spiel mit anderen Kindern finden.

 

Freiarbeit, Spiel und Ernstspiel

Die Hamburger Psychologin Martha Muchow (1892–1933) würdigte die ursprünglich für schwerstbehinderte Kinder in der Psychiatrie Roms entwickelte Pädagogik Maria Montessoris (1870–1952). Skeptisch sah sie jedoch den Begriff „freie intellektuelle Arbeit“ (kurz: „Freiarbeit“), der in der Montessori-Pädagogik eine zentrale didaktische Funktion besitzt. Muchow sah im Spiel des Kindes die „beherrschende Tätigkeit“. Montessoris Argument, dass Kinder ihre freigewählte Tätigkeit so ernsthaft ausführen wie Erwachsene ihre Arbeitstätigkeit, genügte ihr nicht. Sie erkannte im Arbeitsbegriff eine zu geringe Wertschätzung der Phantasie des Kindes. 

Montessoris Beobachtung weist aus meiner Erfahrung auf einen sehr wichtigen Unterschied hin: nämlich den Unterschied zwischen einem die geistige Entwicklung fördernden Spiel und bloßer Spielerei aus Verlegenheit: zur Überbrückung einer monotonen Situation des Wartens, des Übens, des Arbeitens oder des Mangels an anderer sinnvoller Beschäftigung. In einem die Entwicklung förderndem Spiel befindet sich das Kind in der Zone seiner nächsten Entwicklung (Vygotskij, 1896–1934): Es fühlt sich bildlich gesprochen „einen Kopf größer“.

Passender als „Arbeit“ ist für diese Form des entwicklungsfördernden Spiels der Begriff „Ernstspiel“. Geprägt wurde er vom Mitbegründer der Universität Hamburg, Wilhelm Stern (1871–1938). Auf ihn geht auch die erste Methode, einen Intelligenzquotienten „IQ“ zu berechnen, zurück. 

Mit dem Begriff „Ernstspiel“ wollte Stern zunächst den dramatischen Schwankungen zwischen Ernst und Spiel im Verhalten von Teenagern einen Namen geben. Eine schöne Illustration für ein solches Ernstspiel ist die Fridays-for-Future-Bewegung, ursprünglich ein „Schulstreik für das Klima“, um das auf der Weltklimakonferenz in Paris 2015 beschlossene 1,5-Grad-Ziel der Vereinten Nationen einzuhalten.

Nach dem Vorbild der Initiatorin Greta Thunberg gehen Jugendliche freitags während der Unterrichtszeit auf die Straßen und protestieren. Wer das einmal miterlebt hat, wird sich schwer der spielerischen Freude humorvoller Plakate und begeisterter Sprechchöre gemischt mit dem tiefen Ernst des Anliegens entziehen können. 

Stern hätte seine Freude gehabt: Sowohl die Undiszipliniertheit (wie zum Beispiel das Schule-Schwänzen am Freitag) als auch das Aufdecken von Heuchelei (Ignorieren von internationalen Klimavereinbarungen) sind typische Charakteristika des Ernstspiels im Jugendalter.

Wissenschaftliche Studien aus der Entwicklungspsychologie und den Neurowissenschaften zeigen, dass es während der Adoleszenz zu einer grundlegenden Reorganisation des Gehirns kommt. Während das Gehirn in der vorpubertären Entwicklung das Maximum der Dichte der grauen Substanz im primären sensomotorischen Kortex erreicht, reift der präfrontale Kortex zuletzt aus. Das limbische System reift früher, sodass in der Adoleszenz ein Ungleichgewicht zwischen reiferen subkortikalen und unreiferen präfrontalen Hirnstrukturen besteht. Dies erklärt jugendtypische Stärken, wie beispielsweise Risikofreude, Idealismus, emotionales Engagement und Schwärmerei.

Später stellte Stern jedoch fest, dass Spiel in allen Altersstufen und in den verschiedensten Situationen Ernstcharakter aufweisen kann und damit den gemeinsamen Grundzug für eine Reihe verschiedenartiger Spielformen darstellt – sogar im Spiel Einjähriger.

 

Objektspiele bei Säuglingen: Sie explorieren anfänglich konzentriert handliche Objekte, indem sie diese zum Mund führen. Später entwickeln sie Vorlieben für Objekte, die bei Berührung Geräusche machen, oder für Farbenspiele, die zum Hinkrabbeln auffordern. Sie lernen, indem sie Gegenstände wegschleudern, ihren Greifreflex zu überwinden und letztendlich Objekte, die ihrer Wahrnehmung nicht zugänglich sind, in der Phantasie festzuhalten (Objektpermanenz).

Als-ob-Spiele der Anderthalb- bis Dreijährigen: Kleine Spielzeugmodelle der Umwelt wie Puppenteller oder -tassen, Autos oder Häuser im Miniaturformat fungieren als Gedächtnisstützen für Vorstellungswelten in der Phantasie. Vor allem aber Bausteine, die universell für alles einsetzbar sind, regen ihre Phantasie an. Sie können ein Auto sein, ein Schiff, ein Haus und schaffen damit Bilder im Gehirn. So lernen Kinder auf kreative Weise, Probleme zu lösen.

Rollenspiele der Drei- bis Fünfjährigen: In dieser Phase werden sich Kinder verschiedener sozialer Rollen bewusst. Deshalb sind Faschingskostüme oder Masken ein gutes Geschenk. Auch einen Spiegel haben Kinder in dieser Zeit gerne. Sie entwickeln ein Bild ihrer eigenen Person, indem sie ihr Äußeres gestalten und gedanklich in verschiedene Rollen schlüpfen.

Regelspiele der Vorschulkinder und Erstklässler: In dieser Zeit lieben Kinder es, Regeln einzuhalten. Daher sind Regelspiele wie zum Beispiel „Mensch ärgere Dich nicht“ oder Kartenspiele sehr beliebt, aber auch Musikinstrumente und bunte Kreide zum Malen.

Wettspiele von Schülerkindern: In dieser Phase treten Kinder gern in einen Wettbewerb. Sportgeräte, Brettspiele, Hilfsmittel für Musizier-, Malwettbewerbe und Ähnliches wecken ernsthaftes Interesse und fördern die Selbsteinschätzung.

 

Spiel und kognitive Entwicklung

Mit jeder dieser vorpubertären Spielstufen entwickeln sich die Frontallappen des Menschen, die ihn auch deutlich von seinen nächsten Verwandten, den Bonobos, Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans, unterscheiden. Dieser Reifungsprozess der vorderen Bereiche des Stirnhirns ist beim Menschen erst mit dem Ende des Jugendalters abgeschlossen. Es handelt sich also um die Struktur mit der längsten Entwicklungsgeschichte sowohl in der Evolution des Menschen als auch in seiner Individualentwicklung.

Die physiologische Individualentwicklung des Stirnhirns verläuft dabei nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen: Das Stirnhirn vergrößert sich beim Menschen bis zum vierten Lebensjahr immens und noch einmal in einem zweiten Schub zwischen dem siebenten und achten Lebensjahr.

Der dorsolaterale präfrontale Kortex spielt eine zentrale Rolle für die sogenannten Exekutivfunktionen: Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, Planung, Hemmung und abstraktes Denken. Diese komplexen mentalen Aktivitäten stehen mit vielen anderen kortikalen und subkortikalen Schaltungen in Verbindung, um Bewegungen vorzuplanen, Zukünftiges vorherzusehen und die Aufmerksamkeit zu steuern.

Die ventromedialen Bereiche und der orbitofrontale Bereich des präfrontalen Kortex spielen eine wichtige Rolle beim Korrigieren der Bewertung erlernter Emotionen. Verletzungen dieses Bereiches führen zu Veränderungen in der Motivation, der Persönlichkeit und des Charakters. 

Lange Zeit nahm man an, dass eine genetische Disposition (wie zum Beispiel eine Trisomie 21) Vorhersagen über die Intelligenzentwicklung ermöglicht. Mit einem von mir geleiteten Forschungsteam haben wir 1.294 Menschen mit Trisomie 21 untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass herkömmliche Intelligenztests Menschen mit Trisomie 21 nicht gerecht werden, weil sie ihre Aufmerksamkeitsbesonderheiten nicht berücksichtigen. 

Die Ursachen für diese Aufmerksamkeitsbesonderheiten liegen hauptsächlich in den Basalganglien und im limbischen System. Sie haben aber oft zur Folge, dass das Spiel mit Gleichaltrigen erschwert ist oder gar nicht stattfindet. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Entwicklung des präfrontalen Kortex. Durch geeignete Spielförderung unter Beachtung der Zone der aktuellen und der Zone der nächstfolgenden Entwicklung können wir das umgehen.

Das zeigen unsere Untersuchungsergebnisse im Zentrum für Neurodiversitätsforschung (ZNDF) Hamburg/Eppendorf auch bei Kinder im Autismus-Spektrum, mit Williams-Beuren-Syndrom und so weiter. Schon seit Beginn der neunziger Jahre untersuche ich den engen Zusammenhang zwischen verschiedenen Spielphasen (Objekt-, Als-ob-, Rollen-, Regel- und Wettspiel) mit kognitiven Entwicklungsphasen (sensomotorische, vorbegrifflich-symbolische, anschauliche, konkret-operationale und formal-logische Intelligenz). 

Auf die Frage „Was macht eine Person intelligenter als eine andere?“ kann als Antwort kein isoliertes neuronales System angeführt werden. Intelligenz beruht auf der Funktionsweise von verschiedenen anatomisch unterscheidbaren Regionen des Gehirns. Davon sind, wie schon gesagt, einige vom dritten Chromosom 21 betroffen, andere wiederum nicht. Die entscheidende Fähigkeit, die diese Hirnregionen zu Intelligenzleistungen befähigt, ist die menschliche Phantasie – und die entwickelt sich, wie unsere Forschungsergebnisse zeigen, nahezu ausschließlich im Spiel. 

Hinzu kommt, dass der blinde Fleck von Intelligenztests darin besteht, dass jede messbare Intelligenz beim Menschen immer zuerst die Kenntnis sozialer Spielregeln voraussetzt. Wenn ich einen Intelligenztest bestehen will, muss ich erraten, was die Test-Entwicklerinnen und -Entwickler von mir hören wollen. Das benachteiligt zum Beispiel Personen im Autismus-Spektrum, bei denen manche Intelligenztests zu dem Ergebnis kommen, sie seien geistig behindert – und andere Intelligenztests zeigen, dass sie hochbegabt sind. Diese neuen Erkenntnisse zeigen, dass Intelligenzentwicklung nicht allein von genetisch vorgegebenen Einschränkungen beim Lernen abhängig ist. Solche Sichtweisen begünstigen jedoch selbst erfüllende Prophezeiungen. 

Daran schließt sich die Frage an, welche Wirkung Spiel auf die kognitive Entwicklung von Personen im Neurodiversitätsspektrum (Autismus, Trisomie 21, ADHS usw.) hat. Antwort: Ein wesentlicher Effekt des Spiels besteht darin, dass Menschen lernen, andere Personen und sich selbst besser einzuschätzen. Dass Selbsteinschätzung der Hauptfaktor für den Bildungserfolg ist, belegen 816 Metaanalysen von 52.649 Einzelstudien, an denen mindestens 83.033.433 Lernende aus der ganzen Welt beteiligt waren. In die Studie sind Daten über den Einfluss der Lernenden selbst, des Elternhauses, der Schule, der Lehrpersonen, der Curricula und des Unterrichtens auf den Lernerfolg eingeflossen. Das Ergebnis der statistischen Messung von 138 Einflussgrößen auf das Lernen ergibt eine Art Hitparade der Faktoren, aus der man ablesen kann, welche Faktoren das Lernen behindern, dem Lernen nicht schaden, das Lernen fördern und das Lernen am effektivsten voranbringen. 

Die beiden unangefochtenen Spitzenplätze sind:

 

die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus und

die Berücksichtigung der kognitiven Entwicklungsstufe nach Jean Piaget.

 

Halten wir fest: Selbsteinschätzung und geistige Entwicklung sind die Hauptfaktoren für gelingendes Lernen, soweit wir diese auf einer Skala messen können. Alle anderen 136 Faktoren für den Bildungserfolg sind nicht signifikant. 

Auch wenn Computer aufgrund ihrer hohen Rechenleistung schon besser Schach und Go als die Weltmeister spielen können, übertrifft das menschliche Gehirn Computer vor allem in der Fähigkeit, ein Bewusstsein seines Selbst zu entwickeln. Sich selbst aus der Perspektive anderer Personen betrachten zu können, ist die Voraussetzung für Selbstbewusstsein. Um dieses bewusste Selbst würdigen, einschätzen und nutzen zu können, benötigen Menschen – insbesondere Heranwachsende – sehr viel Zeit zum Spielen. 

Die Bedeutung der Selbsteinschätzung für den Bildungserfolg ist ein wichtiges Ergebnis der modernen Bildungsforschung, das sehr gut zu den Ergebnissen der Neurodiversitätsforschung passt: Kein Gehirn gleicht einem anderen. Deshalb gleicht auch keine Sicht auf die Welt eines Menschen der eines anderen. 

Selbstbewusstsein bewahrt uns vor Über- und Unterforderung. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass Selbstbewusstsein in der Wissens- und Informationsgesellschaft dem Intelligenzquotienten bald den Rang ablaufen wird. Denn Intelligenz, das zeigen uns Computer-Algorithmen, finden wir auch in Maschinen ohne Bewusstsein. Intelligenz ist eine Anpassungsleistung an die Umwelt, Selbstbewusstsein ermöglicht die Anpassung der Umwelt an die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele.

 

Förderung der Phantasie durch Bildgeschichten 

Bildliches Denken gilt als charakteristisches Merkmal für Menschen mit ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Trisomie 21 und mit Diagnosen im Autismus-Spektrum. In einer eigenen Studie an mehr als 100 Schülerinnen und Schülern bestätigte sich das nicht. Das Problem liegt eher in der Einseitigkeit. Lernende, die vorwiegend zu einer bildlichen Steuerung der Aufmerksamkeit neigen, aber auch Lernende, die einseitig zu einer sprachlichen Steuerung der Aufmerksamkeit neigen, sind eher von Legasthenie und/oder Dyskalkulie betroffen. Kaum aber Lernende, die eher zu Kombinationen von bildlicher und sprachlicher Gedanken- und Handlungssteuerung neigen. 

Bilderleben ist für Literalität also genauso wichtig wie Buchstabenkenntnis. Das lässt sich beispielsweise am „Lesen“ von Wimmelbildern, Bildfolgen und einfachen Comicgeschichten zeigen. Das Bildverständnis entwickelt sich bei Kindern über das gesamte Vorschulalter und darüber hinaus. Dieser Entwicklungsprozess hält auch im Grundschulalter noch an. Die Welt der Bilder erschließen sich schon Einjährige, indem sie auf vorgedruckte Bilder zeigen und den Namen für das dargestellte Tier oder den abgebildeten Gegenstand aussprechen. Mit circa 18 bis 20 Monaten erkennen Kinder schon ihr eigenes Bild im Spiegel. Es fällt ihnen aber immer noch schwer, sich selbst in bewegten Bildern auf einem Videofilm zu erkennen. Noch schwerer erkennen sie ihr Bild auf einem Foto in Interaktion mit anderen Personen. Auch mit drei Jahren überfordert es sie oft noch, über etwas zu berichten, woran sie ein Foto erinnern soll.

Mit circa sechs Jahren können Kinder sich in der Regel an ein Erlebnis, das auf einem Film aufgezeichnet wurde, erinnern und davon zusammenhängend berichten. Sie lassen das anschauliche Denken hinter sich und denken nun schon öfter in konkreten Operationen. Das Rollenspiel tauschen sie als aktuelle Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung mit dem Regelspiel aus. Mit Wimmelbildern erschließen sie sich nun eine neue Dimension der Welt. Comicgeschichten locken sie in fremde Welten, nach Enten- oder Schlumpfhausen oder in ein kleines gallisches Dorf.

Manche Schülerinnen und Schüler mit wenig sozialer Anregung, mit Entwicklungsbesonderheiten oder Lernschwierigkeiten verfügen noch nicht über den notwendigen Perspektivwechsel, um sich in Comicfiguren hineinzuversetzen. Sie fragen sich beispielsweise, warum Rotkäppchen nicht dasselbe weiß wie sie. Sie muss doch wissen, dass es der verkleidete Wolf ist und nicht die Großmutter, die da im Bett liegt! Sie denken auch, dass Schneewittchen ebenso wie sie selbst wissen müsste, dass der Apfel vergiftet ist und sie ihn nicht essen sollte. Märchen vermitteln Kindern in drastischer Weise, dass verschiedene Menschen die Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und interpretieren. Die Erkenntnis, dass andere Menschen nicht über das gleiche Wissen wie sie selbst verfügen, stellt für Kinder ein wichtiges Schlüsselerlebnis dar. Dieses Schlüsselerlebnis wird auch als „Theory of mind“ bezeichnet. Sie markiert eine Wende in ihrer Entwicklung. Man kann inzwischen sogar die Teile im Gehirn identifizieren, die sich dabei entwickeln: die vorderen Stirnlappen (der präfrontale Kortex). Bildergeschichten sind für diese Entwicklung eine große Hilfe, weil bei ihnen länger verweilt werden kann als beim gesprochenen Wort. 

Überprüfen lässt sich die Entwicklung anhand einer geeigneten Bildgeschichte, in der Kinder ein Abenteuer erleben, mit folgenden Fragen:

 

1. Was tun die Kinder auf den Bildern? Was ist ihnen passiert? Was haben sie nicht bemerkt? 

Einfache Perspektivübernahme

2. Was denkt Kind A (z.B. Mia), wie es Kind B (z.B. Max) geht? Was denkt Max, wie es Mia geht? Welche Sorgen haben die Kinder?

Subjektive Perspektivübernahme

3. Was werden die Kinder denken, wie es ihren Eltern geht, wenn sie von der Geschichte erfahren? Glauben die Kinder, dass ihre Eltern verstehen werden, warum ihnen das passiert ist? Wieso glauben sie das?

Selbstreflexive Perspektivübernahme

4. Was glauben die Kinder, täten die meisten Menschen in ihrer Situation? Wenn die Kinder ihre gemeinsame Situation besprechen, zu welchem Entschluss kommen sie? Nach welchen Regeln sollte man sich in einer solchen Situation verhalten?

Verallgemeinerte Perspektivübernahme

 

Meinen eigenen Untersuchungen zufolge fällt es etwa 10 Prozent der sechsjährigen Kinder schwer, verschiedene Standpunkte in Bildgeschichten zu verstehen (einfache Perspektivübernahme). Bis nahezu 90 Prozent der Kinder realisieren in diesem Alter noch nicht, dass sich handelnde Personen gegenseitig als Subjekte wahrnehmen (wechselseitige Perspektivübernahme). Bei Achtjährigen sind es immer noch circa 40 Prozent, denen dieser wechselseitige Perspektivwechsel schwerfällt. Die Hälfte der von mir untersuchten achtjährigen Kinder konnte schon die gegenseitige Wahrnehmung von Personen von einem Standpunkt unbeteiligter Dritter aus beurteilen (selbstreflexive Perspektivübernahme). Zu einer verallgemeinerten Perspektivübernahme ist jedoch nur etwa ein Zehntel der Achtjährigen fähig, aber schon 60 Prozent der Zehnjährigen.

 

Mehr Zeit für freies Spiel

In unserer Leistungsgesellschaft gibt es eine wachsende Tendenz, das Spiel zu unterschätzen: Laut einer Umfrage des Spielzeugherstellers Lego spielt ein Drittel aller Familien in Deutschland weniger als fünf Stunden pro Woche mit ihren Kindern. Knapp 64 Prozent der deutschen Familien spielen mehr als fünf Stunden pro Woche. Unterstützung für die Thesen der Lego-Umfrage gibt von der American Academy of Pediatrics (AAP). Auch hier stellten die Forscher fest, dass sich die Möglichkeiten für Kinder, frei zu spielen, verringert haben. Gründe dafür könnten der Verlust an sicheren Spielflächen und mehr digitale Ablenkung sein. 

Spielen ist ein menschliches Grundbedürfnis und wichtig für die kindliche Entwicklung, weil es die Reifung des Stirnhirns beeinflusst und außerdem eine angenehme Form von Turbolernen darstellt. Tatsächlich verbringen Kinder, wenn man sie lässt, die meiste Zeit des Tages mit Spielen und machen dabei immense Fortschritte in ihrer Entwicklung. 

Schon neurotypische Babys entdecken beim Spielen sich, ihre Umwelt und ganz neue Fähigkeiten – Greifen, Schmecken, Fühlen, Hören. Im Laufe des zweiten Lebensjahrs entwickelt sich die Objektpermanenz. Sie verstehen jetzt, dass sich Mama und Papa nicht wie Seifenblasen auflösen, wenn sie den Raum verlassen, dass Objekte sich nicht von selbst wegbewegen, wenn man sie in eine Kiste legt und dass Sprache vor allem von nicht unmittelbar wahrnehmbaren Symbolen handelt. Darauf baut das „Als-ob-Spiel“ auf: Der Bauklotz kann zum Telefon werden und der Teddy zum Freund. 

Mit drei bis vier Jahren wird das Spiel sozialer. Die Kinder spielen häufiger mit Gleichaltrigen. Dabei sind Rollenspiele besonders beliebt: Mutter, Vater, Kind oder Polizist und Räuber, Fee und Ritter – kurz alles, was die kindliche Phantasie schon erfassen kann. Am Ende des Vorschulalters werden Gesellschaftsspiele und Regeln interessant. 

Im Spiel sammeln Kinder wichtige Erfahrungen mit Impulskontrolle in Bewegungsspielen, lernen Emotionen wie Freude, Wut, Stolz und Enttäuschung zu inszenieren und zu kontrollieren. Sie begreifen ihre Welt als gestaltbar, loten Grenzen aus und werden selbstständiger und selbstbewusster. Damit stellen sie die Weichen für ihr ganzes spätere Leben. 

Erwachsene sind einerseits Vorbilder und andererseits im Laufe des Kleinkindalters immer mehr Randfiguren oder Assistenten des kindlichen Spiels. Als wichtige Gefährten, die die nötige Sicherheit für Entdeckungen geben und Vorbilder zum Nachahmen sind, können Erwachsene auch viel falsch machen. 

Kinder brauchen keine fußballspielenden, bauklotzstapelnden, puppenteetrinkenden Dauer-Entertainer. Viel wichtiger sind aus ihrer Sicht Aufmerksamkeit und Präsenz ohne Blick auf das Smartphone oder den Fernseher. Kinder signalisieren von allein, wann Mama oder Papa ins Tor gehen oder in der Notaufnahme im Teddy-Krankenhaus aushelfen sollen. Solange ist vornehme Zurückhaltung angesagt.

Freiheit ist ein ganz wichtiger Faktor für das Spielen. Ohne klare Vorgaben von außen, ohne Zeitdruck hat das Kind die Chance, eigene Regeln und Welten zu erfinden, kreativ zu sein, sich mit Erlebtem im Spiel auseinanderzusetzen. Zwischen Spielgruppen, Musikunterricht und Fußballverein bleibt heute kaum noch Platz zum freien Spiel. Freiheit fördert die Kreativität. Spielen ist ein zentraler Bestandteil einer gesunden kindlichen Entwicklung und wichtig für die Ausbildung unseres Nervensystems und die Hirnreifung. 

Bei Kindern im Neurodiversitätsspektrum (ADHS, Autismus-Spektrum, Trisomie 21, Epilepsie usw.) kommen oft noch viele Therapien dazu: Logopädie, Feldenkrais, Psychomotorik, Reittherapie, Sozialtraining usw. Doch auch für diese Kinder können wir nachweisen: Im Spielen lernen Kinder viel schneller und leichter. Das freie Spielen ist für Kinder im jungen Alter besonders wichtig. Denn es bedeutet, dass sie die Steuerung einer Aktivität übernehmen. Eltern können ihre Kinder entweder in Ruhe spielen oder sich aber im gemeinsamen Spiel von der Begeisterung des Kindes lotsen lassen. Freies Spielen fördert die Impulskontrolle, die Kooperationsfähigkeit, die Einbildungskraft, die Fähigkeit zu planen, die Fähigkeit, sich in Positionen anderer Personen hineinzuversetzen, sich an Regeln zu halten und die Selbsteinschätzung. Kurz: Freies Spiel macht intelligent.

Erwachsene sollten daher vorsichtig mit verschiedenen Förderungsangeboten sein. Wer z. B. möchte, dass seine Kinder im Vorschulalter bereits eine Fremdsprache lernen, sollte sie mit Kindern spielen lassen, die diese Sprache sprechen. Sobald etwas mit Spiel und Spaß verbunden ist, erinnern sich Kinder lieber daran und es bleibt dadurch länger im Gedächtnis.

Spätestens seit Freud und Piaget scheint die Richtung klar zu sein, in die sich ein Kind entwickelt: Das biologische Individuum wächst stufenweise in die Kultur hinein, indem es die sozialen Regeln seiner Umwelt immer besser zu verstehen und einzuhalten lernt. So wird es allmählich zu einem sozialen Wesen. Entwicklung geht also den Weg vom Individuellen zum Sozialen. Das nennen wir kurz: Sozialisation. 

Dies gilt jedoch nur, wenn man die Entwicklung eines Kindes ausschließlich von außen betrachtet. Aktuelle Befunde der Hirnforschung, Anthropologie und Verhaltensökonomie wecken Zweifel an einem Alleingültigkeitsanspruch dieser Außensicht und werfen neue Fragen auf: Ist ein Kind nicht schon von Geburt an ein durch und durch soziales Wesen? Müsste dann die Entwicklung nicht genau andersherum laufen? Wenn die Entwicklung vom Sozialen zum Individuellen läuft, sollten wir dann nicht bei der Sozialisation auch die Individuation stärker berücksichtigen?

Individuation bezeichnet den Prozess, in dem sich ein Mensch zunehmend seiner selbst bewusst wird. Einen Schlüssel zum Verständnis der Individuation ist die Neurobiologie menschlichen Spielverhaltens. Das spielende Gehirn des Menschen unterscheidet sich in viel größerer Weise sowohl von tierischen Gehirnen als auch von künstlichen Elektronengehirnen. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt,“ ist im 15. Brief „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von Schiller zu lesen. Der Sinn dieser Aussage gewann an Tiefe, als die Hirnforschung in den 90er Jahren entdeckte, dass Kleinkinder über viel mehr neuronale Verschaltungen im Gehirn verfügen als Erwachsene. 

Kein Gehirn gleicht einem anderen. Deshalb gleicht auch keine Sicht auf die Welt eines Menschen der eines anderen. Das Sein erfährt so eine unüberschaubare Vielfalt an Interpretationen. In diesem Spiegelkabinett subjektiver Weltbilder grenzt es an ein Wunder, dass es Menschen unter günstigen Umständen immer wieder gelingt, sich untereinander zu verstehen, sich auf Tatsachen zu einigen und unterschiedliche Sichtweisen als Bereicherung zu erleben. 

Der Schlüssel für dieses Wunder liegt in der langen Kindheit des Menschen. Sie formt unsere Gehirne nachhaltig, sodass Gehirne, die so verschieden sind wie Schneeflocken, am Ende unserer Kindheit in der Lage sind, verschiedene Positionen einzunehmen. Auch Erwachsene brauchen, wenn sie andere und sich selbst besser verstehen wollen, Zeit zum freien Spiel. Volkskrankheiten, wie das Überforderungs- (Bourn-out-) und das Unterforderungs- (Bore-out-)-Syndrom, zeigen, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist.

 

André Frank Zimpel, Univ.-Prof. Dr. habil. 

André Frank Zimpel ist Fachbuchautor, Diplom-Psychologe, Psychotherapeut (HPG), Sonder- und Diplompädagoge mit den Fächern Mathematik und Kunst. Er arbeitet als Professor mit dem Schwerpunkt „Lernen und Entwicklung“ an der Universität Hamburg und leitet das Zentrum für Neurodiversitätsforschung (ZNDF) Hamburg/Eppendorf.

Andre.Zimpel@uni-hamburg.de www.lern-schwierigkeiten.de