Eine Kissenschlacht: Die Pflegemutter Kerstin Held und ihr Pflegekind Cora haben richtig Spaß.

Spaß muss sein: Cora und Kerstin Held liefern sich eine Kissenschlacht.

Foto: Jacobia Dahm
aus Heft 2/2019 – Leben mit behinderten Pflegekindern
Vivian Pasquet, Jacobia Dahm

Leben mit behinderten Pflegekindern

„Mach was aus deinem Leben!“, sagten Freunde zu ihr. „Ich mach doch was“, antwortete Kerstin Held – und nahm Pflegekinder mit Behinderungen bei sich auf, neun im Lauf der Zeit: Kinder mit Autismus, Kinder mit Behinderungen durch den Alkoholabusus ihrer Mütter, Kinder mit begrenzter Lebenserwartung. Warum tut sie das?

Am 2. November vor fünf Jahren betraten Sanitäter im Norden Deutschlands ein Haus, in dem eine Frau zu verbluten drohte. Sie hatte ein Kind geboren. Es lag in der Badewanne. Sein Körper war von der Fruchtblase umschlossen, und auf den ersten Blick sah es nicht aus wie ein Kind, sondern wie ein milchiges Bündel. Als das Bündel zuckte, begannen die Sanitäter mit der Beatmung.

Sechs Monate später, knapp 200 Kilometer entfernt, klingelte das Telefon bei Kerstin Held. Ein Sozialarbeiter meldete sich. Still hörte sie, was geschehen war. Schließlich bat sie um die Arztbriefe. Darin las sie: Hausgeburt in unklarer Schwangerschaftswoche. Unreifes Kind, 930 Gramm, 33 Zentimeter, 28 Grad Körpertemperatur. Sie las: Sauerstoffmangel im Gehirn, multiples Schädigungsmuster. Schwerbehindert. Schließlich: Mutter vermutlich Prostituierte, kommt nur selten ins Krankenhaus, Kind emotional vollkommen unterversorgt. Betreuungsperson dringend gesucht! Kerstin Held packte eine Tasche mit dem Nötigsten für den ersten Tag, Strampelanzug, Windeln. Dann fuhr sie los. Jonas* würde ihr achtes Pflegekind werden.

Kerstin Held sagt, jeder soll das im Leben tun, was er am besten kann. Und sie könne eben das: mit Kindern wie Jonas zusammenleben. Seit 17 Jahren nimmt sie Pflegekinder mit Behinderung auf, neun insgesamt. Sechs haben die Familie inzwischen verlassen: weil sie erwachsen wurden, auszogen oder sich Kerstin Held eingestand, dass ihre Kraft nicht ausreichte. Andere waren so krank, dass sie gestorben sind. Jonas lebt noch heute bei ihr. Außerdem Cora, 13, Autistin, die sich auf die Handflächen küsst, wenn sie sich freut. Und Erik*, drei Jahre alt, dessen Mutter während ihrer Schwangerschaft so viel Alkohol trank, dass Held ihn manchmal „mein kleiner Goldfisch“ nennt, weil sie gelesen hat, dass auch Goldfische ein kurzes Gedächtnis haben.

Die Wände ihres Hauses hat Kerstin Held mit Disneyfiguren bemalt, Donald Duck, Peter Pan. Im Wohnzimmer steht eine Popcornmaschine neben einem Wasserbett, Bilderbücher und Spielzeugautos liegen herum. Am Esstisch stehen Therapiestühle, Gitter umringen die Betten, Kameras hängen in den Schlafzimmern. Nachts sitzen Mitarbeiter des Pflegedienstes am Wohnzimmertisch, den Blick auf kleine Bildschirme gerichtet, und wachen über die Schlafenden. An einer Tür hängen die Dienstpläne der Krankenschwestern, die auch dabei sind, wenn Kerstin Held und die Kinder einen Zoo besuchen oder an den Strand fahren.

Jonas, der Junge aus der Badewanne, ist heute fünf Jahre alt und einen halben Kopf kleiner als sein dreijähriger Pflegebruder Erik. Das erste Jahr war hart. Da ist er ständig ohnmächtig geworden. Ein Niesen hat gereicht, dass er keine Luft mehr bekam und wir ihn mit dem Beatmungsbeutel zurückholen mussten. Manchmal kam der Notarzt. Aber Jonas musste nie mehr wiederbelebt werden, so wie nach seiner Geburt.Die Frage ist: Weshalb lebt Kerstin Held dieses Leben?

Die Schwester

Kerstin Held ist in einer Kleinstadt bei Dortmund aufgewachsen, schwierige Verhältnisse, wenig Geld. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Silke hatte Muskelschwund und saß im Rollstuhl. Kerstin Held war zehn, als der Vater die Familie verließ. Kaum unterstützt von der Mutter, übernahm sie die Pflege, empfing die Schwester, wenn sie von der Schule heimkam, hielt die Gabel beim Essen, half auf der Toilette. War sie mit ihren Freunden unterwegs, rollte Silke im Elektrorollstuhl nebenher.

Es war wenige Stunden vor Heiligabend: Held, inzwischen 17 Jahre alt, war mit Mutter und Schwester über die Feiertage in die Niederlande gereist. Sie stand am Fenster, als Silke eine Straße vor dem Hotel überquerte. Ein dunkles Auto raste heran. Der Fahrer war betrunken. Bis heute erinnert sich Kerstin Held an das Geräusch. Erst glaubte sie an einen umkippenden Kofferwagen. Eigentlich, sagt sie, sei es das falsche Geräusch gewesen. Für ein Mädchen im Rollstuhl, das von einem Auto totgefahren wird.

Vieles, was Kerstin Held heute fühlt, fühlt sie wegen ihrer Schwester. Die Wut, wenn Betreuer Menschen mit Behinderungen die Haare nicht schneiden, wenn sie ihnen die Spucke am Mund hängen lassen, sie krumm in den Rollstuhl setzen. Das lässt Held daran denken, wie ihre Mutter der Schwester graue Jogginghosen anzog und Hausschuhe in Form von Mäuseköpfen. Sie in diesem Aufzug in der Stadt umherschob, mit 14!

Sascha

Viele Menschen lassen ihr altes Leben hinter sich, wenn sie ein behindertes Kind bekommen. Bei Kerstin Held war es umgekehrt. Sie ging in ein Leben zurück, das sie gut kannte. Ihr erstes Pflegkind lernte sie in ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr kennen. Sie war 16, der Junge, Sascha, fünf. Er saß im Rollstuhl, konnte kaum sprechen und musste künstlich ernährt werden. Ein Jahr lang sah sie ihn jeden Tag. Dann verlor sie ihn aus den Augen, machte eine Ausbildung zur Ergotherapeutin, heiratete. Held war 25, als sie in einer Schule auf ein Kind wartete, um dessen Rollstuhl anzupassen. Der Betreuer schob den Jungen um die Ecke. Sie erkannte Sascha sofort wieder. Kerstin Held glaubt nicht an Zufälle. Sie sagt, wenn einem das Leben jemanden zweimal auf den Teller setze, dann könne man das nicht einfach ignorieren. Sie begann, Sascha zu sich nach Hause einzuladen – gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann. Sie mochten den Jungen. Irgendwann sagte Helds Ehemann: „Kerstin, ich bringe ihn nicht mehr zurück. Wir holen ihn nach Hause.“

 

Sascha war 14 Jahre alt, als er bei Ihnen einzog. Ihre Schwester starb mit 15. Da drängt sich die Frage auf …

 … ob ich meine tote Schwester ersetzen wollte? Ich habe diesen Vorwurf oft gehört. Und es stimmt ja. Für mich ist es das Normalste auf der Welt, mit einem Menschen zusammenzuleben, der auf Hilfe angewiesen ist. Und als meine Schwester starb, fehlte mir dieser Sinn im Leben. Viele Menschen haben eine biografische Motivation für das, was sie tun. 

 

Was hat Sascha bei Ihnen erfahren, was ihm in einem Heim verwehrt geblieben wäre?

Sascha lernte bei uns das normale Leben kennen. Er ist zum ersten Mal in einem Supermarkt gewesen und hat gesehen, wie eingekauft wird. Oder hat mit uns im Auto gesessen, das kannte er gar nicht! Wir sind mit ihm ins Disneyland gefahren und haben einen Zoo besucht. Wir haben im Kino „Herr der Ringe“ angeschaut. Sascha weiß jetzt, was ein Hobbit ist. 

Das Gesetz

Als Kerstin Held im Jahr 2000 Sascha aufnahm, besaßen Kinder mit Behinderung keinen gesetzlichen Anspruch auf das Leben in einer Pflegefamilie. Nicht behinderte Kinder, hieß es, benötigten Erziehung in Familien, behinderte Kinder dagegen Pflege in Heimen. Kerstin Held spürte das Unrecht. Sie hatte sich niemals politisch engagiert, nun schrieb sie an Politiker und Journalisten, erklärte, weshalb jedes Kind die Chance auf eine Familie haben müsse. Sie zog vor Gericht, klagte auf Saschas Recht, das Heim verlassen zu dürfen – und gewann.

Die Gesetzeslage bleibt aber bis heute ein Kompromiss. Zwar haben Kinder mit Behinderung inzwischen einen gesetzlichen Anspruch auf die Unterbringung in Familien. Doch die Rechte behinderter und nicht behinderter Kinder werden in unterschiedlichen Teilen des Sozialgesetzbuches geregelt. Die einen fallen in die Zuständigkeit der Sozialämter, die traditionell in Heimen unterbringen. Die anderen werden von Jugendämtern betreut, die über ein gut organisiertes Netz von Pflegeeltern verfügen. Behindertenverbände beklagen, dass viele behinderte Kinder so in Heimen leben, obwohl es Pflegefamilien gibt.

Die Entscheidung

Den Wunsch nach eigenen Kindern, natürlich habe es den gegeben, sagt Kerstin Held. Doch die Muskelkrankheit, die ihre Schwester hatte, ist erblich. Ein Jahr, nachdem ihr erstes Pflegekind eingezogen war, ließ sie sich testen. Sie trägt das defekte Gen in sich, ohne selbst erkrankt zu sein. 25 Prozent, so sagte man den Helds, sei die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind behindert sein würde. Da beschloss Kerstin Held, niemals selbst ein Kind in die Welt zu setzen.

 

Sind Sie gegen Abtreibung?

Ja. Aber das gilt nur für mich, ganz persönlich. Ich verurteile niemanden, der sich dafür entscheidet. Besser finde ich es aber, ehrlich darüber zu sprechen, welche Behinderungen vermeidbar sind. Jonas, Erik und Cora sind alle behindert, weil die Mütter während der Schwangerschaft Drogen genommen oder Alkohol getrunken haben. Teilweise waren die Mütter schwere Junkies. Die Kinder haben Geschwister, die ebenfalls behindert sind. Man kann von niemandem erwarten, in Keuschheit zu leben, aber vielleicht kostenlose Verhütungsmittel anbieten.

 

Was ist mit Behinderungen, die nicht durch Drogen entstehen? Sollen Frauen, die während der Schwangerschaft erfahren, dass ihr Kind behindert sein wird, auch nicht abtreiben?

Erwarten Sie von mir wirklich eine Antwort auf diese Frage? Das ist doch eine total persönliche Entscheidung!

 

Was würden Sie Eltern sagen, die sich dennoch mit dieser Frage an Sie wenden?

Dass am Anfang alle Kinder gleich sind. Sie müssen gewindelt und gefüttert werden. Meist macht es nicht bum! – und plötzlich leben Sie mit einem behinderten Kind zusammen. Man wächst langsam hinein. Die Schere zwischen nicht behindert und behindert geht oft erst im Kleinkindalter auseinander. Wer vorher abtreibt, nimmt sich die Chance, so ein Kind lieben zu lernen.

Daniel

Bevor Held ein neues Pflegekind das erste Mal besucht, lässt sie sich die Arztbriefe schicken, wie damals bei Jonas. Der Name des Kindes ist geschwärzt, es gibt keine Fotos. Held entscheidet nur anhand der Krankengeschichte, vollkommen anonym. Denn wenn sie erst das Gesicht des Kindes sieht, es gar sprechen hört, wird ihr Urteil getrübt von Emotionen. Gefährlich sei das, sagt sie. Weil sie dadurch einen klaren Blick für die Realität verliert. Dafür, dass manches Kind Grausamkeiten erlebt hat oder so schwer behindert ist, dass Held die Folgen nicht stemmen kann. So wie vor 16 Jahren, bei ihrem zweiten Pflegekind.

Die Mitarbeiterin einer diakonischen Einrichtung hatte sie angesprochen. Ein Junge im Krankenhaus, fünf Jahre alt, geistig behindert und schwer misshandelt. Ob Held ihn besuchen könne? Als sie in sein Zimmer trat, stand Daniel* auf dem Wickeltisch. Er schaute sie an und fragte: „Bist du meine neue Mama?“ Held fühlte sich verzaubert. Sie wusste, dass der Junge ein Fetales Alkoholsyndrom (FASD) hatte. Bis heute hält sie sich an den guten Momenten fest. Daran, wie der Junge, wenn sie ihm über den Kopf streichelte, ganz still hielt und kaum atmete, damit sie bloß nicht damit aufhöre. Doch sie erinnert sich auch, wie er sich auf den Boden schmiss und mit den Händen auf seine Brust schlug, wann immer er etwas piepen hörte – Folgen einer schweren Traumatisierung. Hinzu kam Daniels Angst vor Katzen. Einmal, während eines Ausflugs seiner Kindergartengruppe, schlug er in Panik zwei Katzenbabys tot.

 

Daniel lebte zwölf Jahre bei Ihnen, bevor er in ein Wohnheim zog. Weshalb haben Sie ihn so lange bei sich behalten?

Wir sind hier doch nicht bei „Wünsch dir was“! Eine leibliche Mutter gibt ihr Kind ja auch nicht zurück, wenn es schwierig wird. Ich habe fest daran geglaubt, dass wir mit Liebe und Aushalten ganz viel erreichen können.

 

Aber am Ende hat es nicht gereicht.

Nein. Als Daniel älter wurde, war ich ihm körperlich unterlegen. Er hat sich die Arme aufgeritzt, das Blut im Zimmer verteilt und sich kaputtgelacht.

 

Sie sind gescheitert?

Ja. Ich habe mir das viele Jahre nicht verziehen. Bis heute quält mich ein schlechtes Gewissen. Aber ich habe auch verstanden, dass manche Kinder in einer Wohngruppe besser aufgehoben sind. Dort wechselt das Personal ständig, die Kinder bekommen alle paar Stunden eine neue Chance.

Über das Aufgeben

Manches Mal, wenn die Kinder Mittagsschlaf halten und die Krankenschwestern auf sie aufpassen, steigt Kerstin Held in ihr Auto und macht sich auf zum Meer, 45 Minuten Fahrt. Sie steckt die Kopfhörer in die Ohren und hört Musik. Sie denkt an ihre Kindheit, an Daniel, an all die Anträge, die sie Tag für Tag schreiben muss; an eine Autismus-Therapie für Cora, an einen neuen Stuhl für ihren „Goldfisch“ Erik, an Fahrtkostenerstattung für die Arztbesuche von Jonas. Ganz klein fühlt sie sich in solchen Momenten. Wenn man dann neben ihr am Strand entlangläuft, sieht man, wie sie, die Hände in den Taschen vergraben, Tränen in den Augen hat.

 

Sie leben heute ohne Partner. Hat Ihr Mann aufgegeben?

Er wünschte sich leibliche Kinder, die konnte ich ihm nicht geben. Ich war danach ein paar Jahre mit einem anderen Mann zusammen. Er war bis zum dritten Pflegekind dabei. Aber immer häufiger machte er lange Fahrradtouren, verreiste. Das passte nicht zu einem Leben mit behinderten Kindern. Ich musste mich entscheiden. Ich habe lange mit der Trennung gehadert.

 

Ein nicht behindertes Kind zu adoptieren, kam nicht infrage?

Das haben wir einmal versucht, aber wir wurden als Adoptiveltern abgelehnt. Es hieß, dass man einem gesunden Kind nicht so viele behinderte Geschwister zumuten kann.

 

Unter welchen Umständen wäre es so weit, dass Sie aufhören?

Wenn ich nicht mehr weinen kann.

 

Das klingt traurig.

Ist es aber nicht. Für mich bedeuten die Stunden am Strand, dass ich meine Gefühle noch abrufen kann, auch die traurigen. Wenn das irgendwann nicht mehr klappt, ist es Zeit aufzuhören. Aber noch spüre ich Zuversicht.

Lotta

Sie war ihr fünftes Pflegekind. Das einzige mit zwei sorgenden Müttern. Ihre Geschichte erzählt nicht nur Kerstin Held, sondern auch die leibliche Mutter. Bis heute sind die Frauen befreundet. Lotta war drei Monate zu früh auf die Welt gekommen, in der siebten Lebenswoche zerstörte ein multiresistenter Keim Teile ihres Gehirns. Sie hatte einen Wasserkopf, war blind und gehörlos. Wenn die Mutter von ihrer Tochter erzählt, spricht sie davon, wie sie Lotta das erste Mal zu sich nach Hause nehmen durfte, nach monatelangem Krankenhausaufenthalt. Sie erzählt von dem Monitor, den Schläuchen, dem ständigen Piepen der medizinischen Geräte. Davon, wie kalt Lottas Körper war, weil sie ihre Körpertemperatur nicht regulieren konnte; von hilflosen Versuchen, das Kind durch Kuscheln warm zu halten. Wenige Monate zuvor hatte sie ihren Bruder bei einem Autounfall verloren, sie sagt: „Ich war in meiner Leidensfähigkeit gebrochen, ich konnte nicht mehr.“ Durch eine Bekannte hatte sie von Kerstin Held erfahren. 

 

Wie war das Leben mit einem sterbenden Kind?

Friedlich. Lotta war so still und doch so unglaublich laut. Standen die anderen Kinder in ihrem Zimmer, wurden sie ganz ruhig. Wir wurden vom Pflegedienst unterstützt, und die Mutter kam regelmäßig zu Besuch. Wir machten Spaziergänge, ich habe Lotta viel herumgetragen, um sie spüren zu lassen: Du bist nicht allein. Neun Monate nach Lottas Ankunft weigerte sich Cora, die Autistin, das Zimmer der Pflegeschwester zu verlassen, stand den ganzen Morgen stumm an Lottas Bett. Da begriff Kerstin Held, dass es zu Ende ging. „Unser Baby schläft für immer“, sagte sie der Mutter, als es vorbei war. Wenn die heute vom Tod ihrer Tochter spricht, sagt sie: „Zu wissen, dass meine Tochter in Kerstins Armen starb, schenkt mir Frieden.“ Wenige Wochen später standen zwei Frauen auf einem Schiff und sahen zu, wie die Asche ihrer Tochter ins Meer gelassen wurde. Lottas Urne war blau bemalt und mit Sternen bedruckt.

Angekommen

Wer waren sie? Wer sind sie? Was bleibt? Bilder helfen, sich zu erinnern, sagt Kerstin Held. Fast jedes Gespräch über ihre Kinder beginnt mit den Fotos. Man findet sie in ihrem Haus überall, gedruckt auf Leinen, eingeklebt in Alben, gespeichert auf dem Handy: Sascha auf Mallorca, Daniel mit schokoverschmiertem Mund. Lotta, eine kürbisgroße Mütze auf dem Kopf. Bilder der anderen drei, die nicht mehr bei ihr leben. Und von denen, die noch hier sind, Jonas, Cora, Erik, herumalbernd auf der Couch.

Gemeinsam mit anderen Eltern behinderter Pflegekinder kämpft Kerstin Held darum, dass die Kinder gesetzlich gleichgestellt werden. Seit vier Jahren arbeitet Kerstin Held nebenbei als Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder, bei dem etwa Jugend und Sozialämter Kinder zur Vermittlung melden können. Am schnellsten, sagt Kerstin Held, fänden sich Familien für Kinder mit Trisomie 21. Platz zwei: Säuglinge. Schwierig seien die Älteren. Ein Junge, zwölf Jahre, steht seit einem Jahr auf der Liste.

 

Was wünschen Sie sich?

Selbstverständlichkeit. Ich möchte mich nicht mehr rechtfertigen müssen für das, was ich tue. Ich möchte nicht in den Himmel gehoben werden, weil ich behinderten Kindern eine Familie biete, denn ich mach das gern! Wenn ich während der Sternschnuppennacht mit Cora in der Nestschaukel liege, denke ich, dass ich mir diese auch ohne sie gekauft hätte. Außerdem wünsche ich mir eine andere Erwartungshaltung. Eltern erwarten von ihren Kindern gewisse Fortschritte. Bleiben sie aus, werden sie ungeduldig. Sascha, mein Erster, hätte nie Abitur gemacht, aber er hat alltägliche Dinge hervorragend entschieden. Wer legt fest, was Erfolg bedeutet? Oder Glück?

 

Wann sind Sie glücklich, Frau Held?

Ich packe alle zwei Jahre einen 45-Liter-Sauerstofftank und über 40 Gepäckstücke ins Auto und fahre mit meinen Kindern ins Disneyland. Mit dabei sind zwei Krankenschwestern, dieses Jahr kommt auch unsere Haushaltshilfe Viola mit, die seit neun Jahren bei uns arbeitet. Wir bleiben fünf Tage, frühstücken mit Micky Maus und Goofy und schauen uns immer die gleichen Shows an. Was ich mir wünsche? Dass es einfach so weitergeht.

 

Haben Sie Pläne für die Zukunft?

Ja. Gemeinsam mit den Pflegekräften habe ich entschieden, noch ein Kind aufzunehmen. Es soll eines mit begrenzter Lebenserwartung sein, so wie Lotta damals. Seitdem habe ich mich für drei Kinder um eine Aufnahme beworben. Eines wurde vom Sozialamt ins Heim geschickt, das andere in ein Hospiz. Beim dritten blieben etliche Fragen unbeantwortet, sodass ich es nicht aufnehmen konnte. Verstehen Sie? Palliativ versorgte Kinder sterben ohne eine Familie, weil die Rechtslage so schwammig ist. Ich habe mich entschieden, das auszuhalten. Ich will nicht aufgeben. Ich habe schon ein Beistellbett in mein Schlafzimmer gestellt. Wenn es so weit ist und ein Kind in unsere Familie kommen darf, sind wir bereit.

 

 

* Name geändert

1 GEO-Redakteurin Vivian Pasquet lernte zwischen den langen Gesprächen fürs Leben: Kerstin Held zeigte ihr, wie man Stockbrot grillt und Bingo mit behinderten Kindern spielt. Fotografin Jacobia Dahm versuchte, die Persönlichkeit eines jeden Pflegekindes im Bild festzuhalten. Sie glaubt, dass es ein Gewinn für jeden wäre, ab und zu einen Tag mit Menschen mit Behinderung zu verbringen.

2 Gekürzter und leicht veränderter Beitrag, der im GEO Magazin 1/2018 erschienen ist.