Emil, 13 Jahre alt, ist ein cooler Junge mit Trisomie 21: Er trägt Brillen, eine Haube hat die Hände in seiner schwarzen Jacke.

Emil, 13, in der Wiener U-Bahn. Selbstständig leben – so wie alle anderen auch.

Foto: Philipp Horak
aus Heft 2/2019 – Inklusive Gesellschaft
Sebastian Hofer

Leider nein

Österreich lässt junge Menschen mit Behinderung systematisch im Stich. Ein Beispiel unter vielen: Emil, Teenager mit Down-Syndrom.

Emil ist dreizehn Jahre alt und weiß einfach, was sich gehört. Erstes Kennenlernen, kurzes Hallo, schelmisches Grinsen: „Da, schenk ich dir. Alles Gute zum Geburtstag!“ Der Beschenkte hat zwar nicht Geburtstag, aber seither einen neuen Türstopper, der aussieht wie ein nackter Frauenfuß. Das Stück ist von ausgesuchter Hässlichkeit und Emil schon länger ein Dorn im Auge. Die Gelegenheit, es los zu werden, war zu gut, um sie nicht zu nutzen, der Vorwand ein bisschen konstruiert, egal, Hauptsache: weg. Emil versinkt in einem Polstersessel. Füße hoch, Interview kann beginnen. 

Emil hat das Down-Syndrom. Manchmal spricht er undeutlich, manchmal mit ungewöhnlicher Wortstellung. Davon abgesehen kommuniziert er sehr präzise. Wenn ihm ein Interview zu fad wird, verschwindet er kommentarlos auf sein Zimmer und kommt wieder, wann er will, wenn er will. Man kann es auch so sagen: Emil ist ein charmanter Prachtkerl.

Eine Karriere wird er damit wohl machen. Im gar nicht so unwahrscheinlichen Schlimmstfall wird er nie eine weiterführende Schule besuchen, nie am normalen Arbeitsmarkt ankommen, womöglich in einer Beschäftigungstherapie landen. Seine Eltern finden diese Aussicht, gelinde gesagt, unmöglich. Emil entwickelt sich prächtig, sein Wortschatz wächst, er will lernen, Freunde haben, Teenager sein. Emils Vater Mischa Kirisits sagt: „Wir wollen nichts Besonderes. Wir wollen das, was alle haben.“ 

Inklusion bedeutet die gleichberechtigte Teilnahme von Menschen mit Behinderung an Bildung, Arbeitsmarkt, Gesellschaft. Das ist keine weltfremde Illusion. Aber es braucht, je nach Art und Grad der Behinderung, gewisse Rahmenbedingungen. Österreich tut sich bei der Herstellung derselben leider ziemlich schwer. 

„Behinderung ist im österreichischen Alltag nicht selbstverständlich“, sagt die Menschenrechtskonsulentin Marianne Schulze: „Man nimmt Menschen mit Behinderung nicht unter dem Aspekt war, was aus ihnen werden könnte, sondern fokussiert auf ihre Defekte. Der Fokus liegt auf dem, was nicht geht. Stephen Hawking ist in diesem Verständnis die völlige Ausnahme. Deshalb wird Behinderung immer noch unter dem Aspekt der Wohltätigkeit verhandelt. Ein Rollstuhlfahrer hat zu Weihnachten auf der Mariahilferstraße ein hohes Risiko, Geld zugesteckt zu bekommen.“ 

Der jüngste Bericht der Bundesregierung über die Lage der Menschen mit Behinderungen in Österreich vom August 2017 formuliert ein hehres Ziel: „Menschen mit Behinderung werden nicht mehr als Menschen angesehen, die staatlicher, als bevormundend angesehener, Fürsorge bedürfen. Auch das Konzept der Integration, wonach Menschen mit Behinderung ‚eingegliedert‘ werden und sich an die Anforderungen der Gesellschaft anpassen müssen, gilt als überholt. Langfristiges Ziel ist eine inklusive Gesellschaft.“

Bis dahin bleibt die Realität: eine andere.

„Es gibt immer ein Aber. Dieses verdammte Aber“, sagt Mischa Kirisits. In Österreich können Eltern seit 1993 frei wählen, ob sie ihr behindertes Kind auf eine Sonderschule oder in eine Integrationsklasse schicken möchten. Aber: „Du kannst dich für Integration entscheiden. Wenn deine Schule aber keine sonderpädagogische Förderung anbietet, wird dir halt irgendein Standort zugewiesen.“ Seit 1996 ist die Integration von Kindern mit Behinderung auch in der Mittelschule gesetzlich verankert. Aber: „Nach der Volksschule mussten wir erfahren, dass es an unserer NMS keine Nachmittagsbetreuung für Kinder mit Förderbedarf gab. Erst nach intensiver Intervention hat es auch für Emil einen Platz gegeben.“ Emil, aus den Tiefen seines Polstersessels: „Papa, du kannst super erzählen.“ Emil kann nämlich auch super ironisch sein.

Nach Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention „gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen“. Der Vertragsstaat Österreich ist in diesem Punkt, man muss das so deutlich sagen, säumig.

Aus dem Bericht der Bundesregierung vom August 2017: „Jugendliche, die eine Sonderschule besucht haben, verbringen oft auch ihr weiteres Leben in Sondereinrichtungen, wie Tagestrukturen oder Wohnheimen.“ 

Aus dem Regierungsprogramm vom Dezember 2017: „Wiedereinführung der sonderpädagogischen Ausbildung“, „Erhalt und Stärkung des Sonderschulwesens“.

Nicht nur der Rechnungshof sieht darin „ein Spannungsfeld“.

Geradezu „idiotisch“ findet es, mit Verlaub, Martin Ladstätter, Obmann von BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben: „Völkerrechtlich haben wir die Verpflichtung zur Inklusion, aber wir erfüllen sie nicht. Das betrifft längst nicht nur den Bildungsbereich. In Österreich klafft eine Lücke zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Wir sehen die sozialstaatlichen Leistungen und übersehen bestehende Barrieren. Wir verwechseln Fürsorge mit Inklusion.“

Ein gutes Gegenbeispiel lässt sich im zwanzigsten Wiener Gemeindebezirk besichtigen. Josef Reichmayr, Leiter der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau (ILB), und seine Kolleginnen führen dort seit 20 Jahren vor, wie man der Verhärtung des Systems beikommen kann: mit persönlichem Engagement und systematischer Ausreizung des Möglichen. Von 400 Schülerinnen haben hier 90 einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Die meisten von ihnen werden im Regelschul-Lehrplan unterrichtet, nur die Schüler mit erhöhtem Förderungsbedarf, meist schwerstmehrfachbehinderte Kinder, folgen einem eigenen Lehrplan. Aber auch das ist, so Reichmayr, im Rahmen einer flexiblen Mehrstufenklasse möglich. „Inklusion scheint nur dann unmöglich, wenn man im Regelsystem verharrt.“ 

Anruf bei Dagmar Zöhrer. Als Landesschulinspektorin für Sonderpädagogik und Begabungsförderung hat sie in Kärnten die inklusive Pädagogik zum Pflichtschul-Standard gemacht. 92 Prozent aller Kinder mit Sonderpädagogischem Förderbedarf gehen in Kärnten in eine Regelschule. Zöhrer: „Inklusion funktioniert nicht, wenn man sie ideologisch verbrämt. Es ist nicht möglich, alle Kinder undifferenziert in einer Klasse von 25 Schülern von acht bis dreizehn Uhr zu unterrichten. Das ist zum Scheitern verurteilt. Stattdessen haben wir für jede Form der Behinderung individuelle Unterstützungsmaßnahmen entwickelt. Wenn man es so aufzieht, hat Inklusion keine Grenze.“ 

Es gibt zwei große, ewige Argumente gegen die inklusive Schule. Erstens: Sie ist zu teuer, weil sie so viele individuelle Unterstützungsmaßnahmen voraussetzt. Rainer Grubich vom Büro für Inklusive Bildung der Pädagogischen Hochschule Wien widerspricht: „Das aktuelle System finanziert Integration und Segregation. Das ist die teuerste Variante. Würde man die Ressourcen aus der Sonderpädagogik auf inklusive Systeme übertragen, wären diese ohne weiteres zu finanzieren.“ Zweites Kontra: Nur in einer Sonderschule sind Kinder mit Behinderung vor dem Mobbing ihrer Mitschüler sicher. Grubich: „Wo es ein inklusives Schulsystem gibt, das schon im Kindergarten beginnt, kommt es nicht zu besonderen Mobbingproblemen. Kinder können Verschiedenheit sehr gut aushalten.“

Emil spielt auf dem Handy herum, das er besitzt, seit er alleine zur Schule geht, knapp zwei Jahre ist das schon her. Seine Lieblingsband heißt Big Time Rush. Liebstes Hobby: Schlafen. Im Kino sah er zuletzt „Drachenzähmen leicht gemacht 3“, außerdem weiß er wesentlich mehr über Superhelden als seine Mutter. Emil weiß, dass er anders ist, sagt sein Vater, aber auch die anderen sind anders, also will er wie alle anderen behandelt werden. „Er hat geheult, als er am Anfang die Schularbeiten nicht mitschreiben durfte. Also hat die Sonderpädagogin eine Leistungsüberprüfung eingeführt, die für ihn passt. Auch sein Zeugnis zipft ihn an, weil er keine Noten kriegt wie alle anderen, sondern eine schriftliche Beurteilung.“ Sein bester Freund Cedi hat keine kognitive Beeinträchtigung. Von Emil kann er trotzdem noch einiges lernen: Lockerheit und wie man Spaß hat. Emil führt durch sein Zimmer: Poster, ein kleiner Schreibtisch, eine Klimmzugstange, zwei Hanteln. Blöde Smalltalk-Frage: Das Sofa unterm Hochbett, ist das neu? Einzig richtige Antwort: „Für dich schon. Für mich nicht.“ 

 

Gekürzte Fassung eines Artikels von Sebastian Hofer, der am 3.4.2019 im profil erschienen ist