Die Schwarz-Weiß-Zeichnung zeigt einen bärtigen Mann. Er ist umgeben von vielen schwarzen Strichen, die wie Stacheln wirken.

Clemens Wild, Ohne Titel, aus der Serie Zirkus, 2015. © Atelier Rohling

aus Heft 6/2018 – Fachthema
Karolina Goschiniak, Sabine Hecklau-Seibert, Viktoria Grundmann, Bernd Traxl

Wenn Undenkbares denkbar wird – Zur Betrachtung von Schuldgefühlen in der Inklusion am Beispiel des Forschungsprojekts „Fachkräfte stärken für Inklusion“

In unserem Beitrag gehen wir der Frage nach, wie das Spannungsfeld zwischen dem Recht auf gleichberechtigten Zugang zur Gemeinschaft und dem Zwang zur Gemeinschaft im Bereich der Kindertageseinrichtungen auf die pädagogischen Fachkräfte wirksam werden kann. Wir gehen davon aus, dass – wenn nur die äußeren Faktoren der Inklusion in Betracht gezogen werden, also lediglich die Rahmenbedingungen verändert werden – die Gefahr besteht, dass Zwänge entstehen, die sich eher kontraproduktiv auf die Entwicklung einer inklusiven sozialen Gemeinschaft auswirken könnten.

Einleitung

Nach wie vor gibt es keine einheitliche Definition des Begriffs Inklusion. Er stellt in gewisser Weise eine Leerstelle für etwas dar, was noch zu entwickeln, noch auszudifferenzieren ist. Ein gemeinsamer Bezugspunkt jedoch ist die UN-Behindertenrechtskonvention sowie die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989, die Kindern mit Behinderung ausdrücklich das Recht auf „aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft“ zusichert. 

Der Ausschluss von Menschen mit Behinderung von der Gemeinschaft wird als menschenrechtswidrige Diskriminierung verurteilt. Barrierefreiheit wird nicht nur auf allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens gefordert, sondern auch in den Köpfen der Menschen (Eichholz 2015). Die äußere und „innere“ Barrierefreiheit setzt hohe normative und moralische Maßstäbe, deren Einhaltung beziehungsweise Umsetzung insbesondere die Institutionen der Bildung und Erziehung vor große Anforderungen zur Veränderung stellt. Eichholz (2015) verweist in seiner Betrachtung anthropologischer Grundlagen der Inklusion zu Recht darauf, dass die Menschenwürde in ihrem substanziellen Kern nicht juristischer Natur sei, sondern auf dem Menschsein als solchem gründe und damit allen staatlichen und juristischen Begründungen vorausgehe. Die darin angelegte wechselseitige Anerkennung von Individualität verbiete es, den Menschen auf seine Eigenschaften, Leistungen oder gar Defizite zu reduzieren.

Die Anerkennung der Individualität und der gleichberechtigte Zugang zur Gemeinschaft machen also gleichermaßen die Menschenwürde aus. Verschränkt sind beide Aspekte durch das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie. Menschenwürde verleihe das Recht auf Gemeinschaft, nicht aber Zwang zur Gemeinschaft. Das bedeute, beides müsse frei zur Wahl stehen; nicht nur einmal, sondern immer wieder als Ausdruck autonomer Lebensgestaltung (ebd.).

So betont auch Kron (2010), dass die Zugangsmöglichkeit aller Kinder zu allgemeinen Einrichtungen der Bildung und Erziehung nicht notwendigerweise das Ende diskriminierender Prozesse bedeute, denn Kinder können auch in Gruppen gemeinsamer Erziehung von der Teilhabe an Aktivitäten ausgeschlossen bleiben oder auch dort Objekte subtiler Zurückweisung und Marginalisierung werden. Um Exklusionsprozessen in Kindergruppen auf die Spur zu kommen, ist es also notwendig, sich mit der „inneren Seite der Inklusion“ (Katzenbach 2012) auseinanderzusetzen. 

Im aktuellen Leitfaden für inklusive Kindertageseinrichtungen, den Heimlich und Ueffing (2018) veröffentlicht haben, befinden sich unter anderem auch Leitfragen, die auf die Beziehungsgestaltungen zwischen den Akteuren in Kindertagesseinrichtungen aufmerksam machen. Forschungsarbeiten, die sich auf die innere Seite der Inklusion beziehen (u. a. Albers 2012; Janson 2013; Kreuzer 2013; Prengel 2016; Ytterhus 2013) kommen ebenfalls übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Fachkräfte bei der Gestaltung inklusiver Prozesse in Kindergruppen eine besondere Bedeutung und Verantwortung innehaben. So wird in den genannten Studien festgestellt, dass Kinder mit Behinderung insbesondere in freien Spielsituationen häufig unbeteiligt bleiben, während in den von Fachkräften angeleiteten Spielen und in von ihnen strukturierten Situationen im Kita-Alltag die Teilhabe aller Kinder besser gelingt, was wiederum auf die besondere Rolle der Fachkraft in inklusiven Prozessen verweist.

Dieser als Menschenrecht begründete und politisch intendierte Anspruch erzeugt in pädagogischen Praxisfeldern jedoch einen starken Handlungsdruck. Aufseiten der im pädagogischen Feld Tätigen entsteht nicht selten der Eindruck, diesen Ansprüchen aus verschiedenen Gründen nicht genügen zu können. Dies erzeugt mehr oder minder ausgeprägte Schuldgefühle, Diskriminierungen und Ausgrenzungen nicht ausreichend entgegentreten bzw. diese im alltäglichen pädagogischen Handeln nicht verändern zu können. Damit der durch die Forderung nach inklusiver Praxis erzeugte normative Druck nicht zu Widerständen führt, die die inhaltliche Ausgestaltung des Begriffs Inklusion eher behindern als fördern, ist es notwendig, einen Raum zur Reflexion zur Verfügung zu stellen, der es erlaubt, auch Undenkbares zu denken. Im Projekt „Fachkräfte stärken für Inklusion“, von dem wir weiter unten berichten, ist es unser Anliegen, diesen Rahmen zur Verfügung zu stellen. 

1 Inklusion und die Professionalisierung von Fachkräften 

Auf der Grundlage eines psychodynamischen Verständnisses von Inklusions- und Exklusionsprozessen in Gruppen sind Ab- und Ausgrenzungsprozesse keine isolierten Phänomene in Kitas oder Schulen, sondern grundlegende Merkmale von Entwicklungsprozessen, die über die Lebensspanne hinweg immer wieder identitätsstiftende Wirkung entfalten. Damit es nicht zu destruktiven Grenzziehungen und Verfestigungen kommt, die mittels Vorurteilen und Projektionen aufrechterhalten werden, ist es notwendig, Ein- und Ausgrenzungsprozesse sensibel wahrzunehmen, aufzugreifen und aktiv zu gestalten. 

Eine weitere Herausforderung im inklusiven Setting besteht darin, vertraute Strukturen hin und wieder verlassen zu müssen und sich dem „Anderen“ und dem „Fremden“ zuzuwenden, beispielsweise Kindern mit Migrationshintergrund oder Kindern mit Behinderung (Haubl 2015). Gegenstand inklusiver Pädagogik wäre demnach aus unserer Sicht der Umgang mit Differenzerfahrungen und der Übergang zum Fremdverstehen.

Zur Professionalisierung von Fachkräften möchten wir als Kernkompetenzen im Rahmen von Inklusion (Goschiniak, Hecklau-Seibert & Traxl 2017) eben folgende Punkte herausstellen.

 

(1) Der aktiven Begleitung von Gruppenprozessen durch eine Fachkraft kommt eine hohe Bedeutung zu, vor allem wenn es darum geht, Kinder mit Behinderung in das Gruppengeschehen einzubeziehen (Ytterhus 2013).

(2) Zum Zweiten ist die Förderung von Heterogenität und Differenz prinzipiell im Vorschulalter noch leichter als bei älteren Kindern möglich (Prengel 2014), muss aber pädagogisch eingebettet und reflektiert werden. Ein- und Ausgrenzungsprozesse sensibel wahrzunehmen, aufzugreifen und aktiv zu gestalten und sie nicht dem Zufall zu überlassen, ist unerlässlich. Die Vielfältigkeit der Kinder, ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten, müssen immer wieder mitbedacht und insbesondere mitbenannt werden, um unbewusste und gesellschaftlich latente Vorurteile und Haltungen (z. B. zu Kindern mit Migrationshintergrund, zu Geschlechtervorstellungen, zu Behinderung) sichtbar und damit bearbeitbar zu machen (Traxl, Hecklau-Seibert, Goschiniak & Heck 2016).

(3) Diese Anforderung führt zum dritten Aspekt der Professionalisierung: der Fähigkeit zur Selbstreflexion, Mentalisierung (Fonagy, György, Elliot & Target 2018) und Empathie. In dieser Form über das Erleben der Akteure und die Interaktionen in der Peer-Group nachzudenken, führt dazu, dass sich Spielräume für differenziertes Wahrnehmen erweitern und somit Möglichkeiten des professionellen Verstehens eröffnen (Datler, Hover-Reisner & Steinhardt 2010). Bei der Konfrontation mit schwersten Behinderungen oder bei hohem Handlungsdruck in der pädagogischen Praxis kann die Mentalisierung eingeschränkt sein oder fehlen. Es geht dann darum, Prozesse des Verstehens der emotionalen Bedeutung von Verhalten wieder in Gang zu bringen, Wahrnehmen und Erleben zu aktivieren und damit einen inneren Raum zu schaffen, in dem ein Gewahr-Werden und eine erste Auseinandersetzung möglich werden (Gerspach 2009). Die Fähigkeit des Mentalisierens ist nicht bei allen Menschen gleich entwickelt. Zudem kann sie durch äußere oder innere Umstände eingeschränkt oder blockiert werden (Funder, Fürstaller & Hover-Reisner 2013; Taubner 2015).

(4) Unter Work Discussion ist eine bestimmte Form des Nachdenkens über Arbeitsprozesse im seminaristischen Kleingruppensetting zu verstehen, das sich auf die Verfassung und Besprechung von schriftlichen Praxisprotokollen stützt, die von den Seminarteilnehmern kontinuierlich geschrieben und eingebracht werden. „Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Bedeutung von bewussten und unbewussten innerpsychischen und dabei insbesondere emotionalen Aspekten für das Zustandekommen von manifestem Verhalten und Interagieren unter Berücksichtigung institutioneller Rahmenbedingungen gelegt(Datler & Datler 2014, 5). Entscheidend ist, dass das vorgetragene Protokoll bei den anderen Seminarteilnehmerinnen und Seminarteilnehmern unterschiedliche Phantasien, Stimmungen und Gedanken hervorruft. Diese können als Reaktion auf das Arbeitspapier verstanden werden und können daher als Hinweise auf die „innere Welt“ der im Protokoll vorkommenden Akteure sowie als Hinweise auf latente Beziehungsprozesse begriffen werden (ebd.). Gelingt dies, so kann auf das jeweils einzigartige, intersubjektive Arrangement zwischen Fachkraft und Kind auf Grundlage der episodischen Beschreibungen in der Seminargruppe reflektiert werden (Datler, Hover-Reisner & Steinhardt 2010). 

„Im Zentrum der Work Discussion steht die Entfaltung von Verstehenskompetenz, die als eine zentrale Voraussetzung für professionelles pädagogisches Arbeiten gesehen werden kann“ (Steinhardt & Sengschmied 2013, 169).

2 Projektbeschreibung

Im Rahmen einer Fortbildungsreihe des Instituts für Lehrerfort- und Weiterbildung (Abteilung Sozialpädagogik/Arbeitsfeld Kita) führten wir einen Fachtag zum Thema „Umsetzung von Inklusion in der Kita-Praxis“ durch. Zwei Vorträge zu den Themen „Theorie von Inklusion und Integration“ und „Zur Psychodynamik von Ein- und Ausgrenzungsprozessen“ bildeten den theoretischen Rahmen. Die Vorstellung der Methode der Work Discussion, die anhand einer Fallvorstellung aus unserem Forschungsprojekt veranschaulicht wurde, und eine erste Erprobung der Methode mit von den TeilnehmerInnen eingebrachten Fällen waren Gegenstand des Fachtags. In der Abschlussreflexion wurde von den teilnehmenden Fachkräften der Wunsch geäußert, diese Methode in einem längerfristigen Zeitrahmen zu vertiefen. Dies konnte dann in einer Veranstaltungsreihe „Fachkräfte stärken für Inklusion – Work Discussion-Gruppe zum vertieften Fallverstehen“ in Kooperation mit dem Institut für Lehrerfort- und Weiterbildung (IfL) realisiert werden.

Die Veranstaltungsreihe umfasste insgesamt sieben Treffen in einem Zeitraum von einem halben Jahr: eine Auftaktveranstaltung, auf der nochmals als theoretische Einstimmung die Aspekte Inklusion, Mentalisierung und die Methode der Work Discussion vorgestellt wurden, fünf Work Discussion-Seminarsitzungen, auf denen jeweils zwei Fallbesprechungen stattfanden, sowie eine Abschlussveranstaltung zur Evaluation. 

Dieser Zeitrahmen ermöglichte es uns und den TeilnehmerInnen, längere Verläufe von pädagogischen Situationen im Blick zu behalten. Alle Work Discussion-Sitzungen wurden von einer MA-Studierenden protokolliert. Die Veranstaltungsreihe fand an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz statt, die TeilnehmerInnen der Work Discussion-Gruppe kamen aus verschiedenen Kitas aus einem größeren Einzugsbereich. 

Wichtig war uns bei diesem Projekt, dass wir nicht als „Externe“ Kitas und ihren Alltag beobachten und bewerten, sondern dass die Fachkräfte ihre Sicht und ihr eigenes Erleben einbringen. Dabei zeigte sich, dass das Anfertigen eines Protokolls anfangs als hohe Anforderung wahrgenommen, in der Abschlussbesprechung aber dann als konstruktiv beurteilt wurde. Auch die Fragen, welche Situation ausgewählt werden soll oder welcher Fall am besten vorgetragen werden könnte, beschäftigte alle TeilnehmerInnen: Betrifft Inklusion denn nicht nur Kinder mit Behinderung? Dürfen hier nur „I-Kinder“ vorgestellt werden? Diese Fragen verweisen auch wiederum auf die Unschärfe des Begriffs in der pädagogischen Praxis.

3 Diskussion ausgewählter Aspekte der Work Discussion-Sitzungen im Rahmen des Projekts „Fachkräfte stärken für Inklusion“

Im Folgenden stellen wir einige Sequenzen aus einem Praxisprotokoll der Fachkräfte sowie einige Ausschnitte aus den Diskussionen in der Work Discussion-Gruppe dar. 

Schuldgefühle & Inklusion 

In den Work Discussion-Sitzungen machten wir die Erfahrung, dass es immer wieder darum zu gehen schien, die TeilnehmerInnen von Schuld zu entlasten. Damit konnten dann wieder Denkräume eröffnet und damit Undenkbares gedacht und ausgesprochen werden. Die zentrale Fragestellung in unserem Beitrag widmet sich deshalb der Dynamik zwischen Forderungen nach Inklusion und dem Aufkommen von Schuldgefühlen und einer möglichen Veränderung durch kontinuierliche Work Discussions.

Grundlegend kann als Schuldgefühl ein affektiver Zustand bezeichnet werden, der auf Handlungen oder auch Gedanken (einer Person) folgt, die von der Person selbst als unangemessen beurteilt werden. Dieser Affekt ist in der Folge durch Selbstanklagen oder Selbstentwertung gekennzeichnet (Laplanche und Pontalis 1974/2002). Nach Freud (1917) sind Schuldgefühle die Folge eines Konflikts zwischen Ich und Über-Ich – vor dem Hintergrund der Entstehung des Gewissens in der sogenannten ödipalen Phase zwischen ca. dem dritten und fünften Lebensjahr (Freud 1917/2010). Entwicklungsgeschichtlich früher verortet Melanie Klein (1962/2011) Schuld dort, wo dichotome Affekte zur gleichen Zeit empfunden werden, wie z. B. Liebe und Hass, und so zu einem Konflikt führen. In ihrem Verständnis kommt es dann zu einer Ich-Integration, wenn die Anfänge einer Anteilnahme für beide Affekte möglich wird. In diesem sogenannten „triangulären Raum“ (Schoenhals 2015) ist es dem Kind also möglich, beide Gefühle für eine Person zu empfinden. Um im späteren Verlauf der Entwicklung Schuldgefühle zu bemerken und näher betrachten zu können, muss es also eine Möglichkeit geben, solche Ambivalenzen auszuhalten (ebd.). 

Im Zusammenhang mit Inklusion stellt sich die Frage, inwiefern das von außen auferlegte oder zumindest subjektiv so empfundene „Gesetz“ der Inklusion bei den Fachkräften nicht auch zu Schuldgefühlen führen kann, insbesondere dann, wenn z. B. negative Affekte gegenüber einem Kind abgewehrt werden müssen, um dem Ich-Ideal im Sinne des eigenen Bildes als „gute“ Fachkraft zu entsprechen. Auf der anderen Seite können auch latente Identifizierungsprozesse zur Übernahme von Affekten führen, sodass Schuldgefühle z. B. in der Übertragung zu einem Kind empfunden werden können. Fühlt sich beispielsweise eine Mutter aufgrund von Loslösungs- und Individuationsprozessen ihrem Kind gegenüber schuldig, können jene Gefühle in der Übertragungsbeziehung zwischen Fachkraft und Kind aktualisiert werden. Im folgenden Abschnitt soll nun unterschiedliches Auftreten von Schuldgefühlen in der pädagogischen Praxis verdeutlicht werden. 

Ausschnitt aus der Praxis

Eine Fachkraft stellt im Rahmen der Work Discussion ein Kind vor, das sie öfter sehr beschäftigt, das aber nicht in ihrer eigentlichen Gruppe ist. Die Szene ereignet sich, als Frau Schmidt in das Werkzimmer der Kita geht, um ein Projekt vorzubereiten. An der Werkbank stehen bereits drei Kinder und eine Erzieherin (Frau Müller) und sie arbeiten gemeinsam. Mehdi steht – etwas abseits des Tisches – im Raum und schaut den Kindern zu. Ansonsten ist der Raum leer. Als er Frau Schmidt erblickt, geht er zu ihr. Sie fragt ihn, ob er mitmachen möchte, versteht jedoch seine Antwort nicht. Frau Schmidt ermutigt ihn, an den Tisch zu gehen und mitzumachen. Mehdi geht an den Tisch und nimmt sich ein Stück Holz, das ihm ein anderes Kind abnimmt und es als seines in Beschlag nimmt. Dann holt sich Mehdi ein anderes Stück Holz und einen Hammer, der ihm wiederum von einem anderen Kind abgenommen wird. Das Stück Holz ergreift die ebenfalls anwesende Erzieherin, legt es in die Mitte des Tisches und sagt, dass Mehdi sich einen anderen Platz suchen müsse.

(K-)ein Blick auf Mehdi vs. Schuldgefühle

Nach dem Hören der Szene erscheint es zunächst schwer, sich auf das Gesagte einzulassen. Die TeilnehmerInnen beginnen sogleich Lösungsansätze für die geschilderte Szene zu suchen, so, als müsse es sogleich „wiedergutgemacht“ werden. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und der eigenen Praxis scheint zu bedrohlich. Es entsteht kein „innerer Raum“ des vertieften Nachdenkens, die Ausführungen bleiben auf der konkreten Handlungsebene. 

Meist kommt es in solchen Fallbetrachtungen rasch zu einseitigen Identifizierungen mit der einen oder anderen Position. Eine Identifizierung mit dem „Opfer“ (Hirsch 2017) – in unserem Fall das Kind – wie auch mit dem „Angreifer“ (Freud 1936/2012) – in unserem Fall die Erzieherin – verhindert das Wahrnehmen von eigenen Schuldgefühlen mithilfe projektiver Verschiebungen: Ganz konkret müssen diese Gefühle dann eben auf das Kind oder die handelnden ErzieherInnen projiziert werden. Es kommt dann allzu rasch zur Frage: „Wer hat was in dieser Situation falsch gemacht?“. Diese Schuldzuweisungen bilden schließlich die Grundlage für einfache Handlungsempfehlungen und pädagogische Rezepte: Eine Identifikation mit dem Kind führt so zur Handlungsempfehlung, die Fachkraft zu maßregeln oder ihr die pädagogische Eignung insgesamt abzusprechen; eine Identifikation mit der Fachkraft hingegen führt dazu, das Kind so rasch wie möglich in eine sonderpädagogische Einrichtung zu geben. Bleibt dies unreflektiert, wird eine tiefergehende Auseinandersetzung verhindert und das Fallgeschehen bleibt unverstanden.

Es wird deutlich, wie schwer es zu sein scheint, überhaupt einen inneren Raum aufzubauen, um zu einem gemeinsamen Nachdenken über die Psychen der Anderen zu gelangen. Jene „Handlungsimpulse“ weisen auf den großen Druck hin, der dem Arbeitsalltag von ErzieherInnen immanent ist. Sich auf die „inneren“ Beweggründe für das eigene Handeln einzulassen, scheint zunächst mit großen Schuldgefühlen überladen zu sein, was sich mitunter darin äußert, möglichst schnell Lösungsansätze zu finden oder jegliche Verantwortung von sich weisen zu wollen. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das Schuldgefühl auf mehrere Ebenen bezieht – sowohl auf die Situation zwischen der Erzieherin und dem Kind, als auch auf die Beziehung zwischen den Fachkräften in der Kindertagesstätte. Die Schwierigkeit scheint vor allem darin zu bestehen, einen Weg zu finden, eben nicht in Schuldzuweisungen zu verfallen und damit nicht der Frage nachzugehen „Wer hat was falsch gemacht?“, sondern „Wer hat was wie erlebt?“. 

Genau dies war auch das Anliegen der Work Discussion: also einen Raum zu eröffnen, in dem versucht wird, sich empathisch in alle handelnden Personen einzufühlen und dem potentiellen Erleben der betroffenen Personen nachzuspüren. Angeregt durch die weiteren Beschreibungen von Frau Schmidt über Mehdi tauchte in der Gruppe zunehmend der Gedanke auf, dass er anscheinend nirgendwo einen Platz habe und gesehen werde. Selbst innerhalb der Work Discussion-Gruppe wurde er kaum sichtbar und es wollte kein „stimmiges“ Bild von Mehdi entstehen; weder von seinem Verhalten in der Kindergruppe, seiner momentanen Entwicklung oder seiner biografischen Einbettung. Es fiel auf, dass nur wenige Phantasien zu dem Kind auftauchten und es nicht einmal klar war, wie alt es ist oder warum es nicht spricht. Im Vordergrund stand zunächst nur ein bedrückendes Gefühl in der Gruppe. Diese affektiven Stimmungen, die in solchen Besprechungen innerhalb der Gruppe entstehen, werden als Resonanzphänomene bezeichnet, da sie Hinweise auf die Beschaffenheit der inneren Welt der besprochenen Personen (via Identifizierungen) geben können. 

Um sich dem Erleben des jeweiligen Kindes anzunähern, war es in diesem Fall wichtig, auch die individuellen biografischen Hintergründe zu betrachten. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass die Familie schon länger in Deutschland lebt. Während der Eingewöhnungszeit von Mehdi habe aufgrund einer starken sprachlichen Barriere jedoch kaum Kontakt zu den Eltern stattgefunden. Es blieb bei einem freundlichen Nicken. Es wurde auch deutlich, dass seine Eltern kein Teil der Elterngemeinschaft im Kindergarten sind. So kam die Frage auf, ob Mehdi denn grundsätzlich nicht ankommen kann, weil es keine Brücke zu geben schien zwischen der erlebten familiären Welt und der erlebten Welt des Kindergartens. Diese Gedanken wirkten anregend für eine mentalisierende Haltung in der Gruppe – also der Frage nachzugehen, wie denn Mehdi diesen Widerspruch wahrnehme, verarbeite und letztendlich damit umgehe. Nun war es plötzlich möglich, jenseits von Schuldgefühlen über die individuelle Situation Mehdis nachzudenken und sich einzufühlen. Durch die Betrachtung von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen im Zusammenhang mit der biografischen Geschichte des Kindes konnte die Fachkraft sich mit etwas „Abstand“ an die Situation wagen und letztlich verstehen, dass es sich bei jener Szene um eine unbewusste Reinszenierung von Beziehungserfahrungen handeln könnte, in die die Fachkraft hineingezogen wurde (Gerspach 2009). „Die unbewusste Beteiligung der PädagogInnen stellt sich deshalb ein, weil die Übertragung nicht ein bloßes innerpsychisches Geschehen bleibt, das das Übertragungsobjekt unberührt lässt, im Gegenteil: Die unbewusste Übertragungsreaktion äußert sich in konkreten, wenn auch verschlüsselten Interaktionsformen und Beziehungsangeboten“ (Trescher 1992, 67). An diesem Beispiel lässt sich also hinterfragen, inwiefern Mehdi der Fachkraft nicht in einer unbewussten Inszenierung seinen Zwiespalt aufzeigen konnte, indem er zwar immer von der Mutter in die Kita, mit all ihren eigenen Regeln, ihrer eigenen Sprache und Kultur, geschickt wird, andererseits aber erlebt, dass die Eltern selbst nicht in dieser Kultur ankommen können. Dieser Widerspruch und damit die Reinszenierung zeigt sich deutlich in der anfangs berichteten Szene, in der Mehdi zwar offiziell Teil der Kindergruppe ist, aber gleichzeitig nicht anzukommen scheint (zur Erinnerung: An der Werkbank stehen bereits drei Kinder und eine Erzieherin und arbeiten gemeinsam. Mehdi steht, etwas abseits des Tisches, im Raum und schaut den Kindern zu. [
] Mehdi geht an den Tisch und nimmt sich ein Stück Holz, das ihm ein anderes Kind abnimmt und es als seines in Beschlag nimmt. Dann holt sich Mehdi ein anderes Stück Holz und einen Hammer, der ihm wiederum von einem anderen Kind abgenommen wird. Das Stück Holz nimmt die ebenfalls anwesende Erzieherin an sich, legt es in die Mitte des Tisches und sagt, dass Mehdi sich einen anderen Platz suchen müsse). In der Betrachtung dieser Szene lassen sich mit der Veränderung des Fokus (also nicht die Frage „Wer hat was falsch gemacht?“, sondern „Wie haben die Akteure die jeweilige Situation möglicherweise erlebt?“) und durch den nun hergestellten Abstand in der Reflexion auch die Schuldgefühle mindern, da von den Fachkräften festgestellt wurde, dass es u.U. in jener Situation zunächst keinen anderen Ausgang hätte geben können. Weiter konnte anhand dieser Szene auch das komplexe Zusammenspiel zwischen dem aktuellen Erleben des Kindes, seinem bisherigen biografischen Hintergrund und einer potentiellen transgenerationalen Thematik (zum Thema Ankommen) zueinander in Beziehung gesetzt werden: Welche Bedeutung bekommt die neue Sprache und Kultur für Mehdi? Wie (über welche Mechanismen) reinszeniert sich der innerliche Konflikt im pädagogischen Alltag? Inwiefern können diese Reinszenierungen durchbrochen werden, um neue Beziehungserfahrungen zu ermöglichen?

In dieser Situation erscheint es bedeutsam, die Fachkraft in ihrer Position als „Dritte“ zu stärken und ihre Bedeutung und auch die der Institution in einem solchen Loslösungs- und Transitionsprozess zu verstehen. Es sind gerade solche Situationen, die sehr häufig im Kindergartenalltag Eingang finden.

Kritische Bemerkung zur „gezwungenen“ Inklusion und einer damit einhergehenden Selbstzensur

Wenngleich Mehdi auch nicht Teil der Kindergartengruppe von Frau Schmidt war, „sieht“ sie den Jungen, da er etwas in ihr auslöst (auch wenn ihr in diesem Moment noch gar nicht ganz klar ist, was das ist) – ein wichtiger Anhaltspunkt für die pädagogische Arbeit mit Kindern, die von Ausgrenzung bedroht sind. Frau Schmidt thematisiert nach ihrem Einstieg in die Diskussion schließlich das Gefühl der Schuld, welches sie seit der geschilderten Situation mit sich trägt. Sie scheint erleichtert, weil sie in der Gruppe den Fall einbringen kann und das Gefühl mit den anderen TeilnehmerInnen teilen kann. Diese nehmen es auf und die Besprechung in der Gruppe scheint für Frau Schmidt entlastend zu wirken.

Einerseits ist bedeutsam, dass das Schuldgefühl von Frau Schmidt benannt wird, andererseits wird es von der Gruppe aufgenommen und „contained“ (Bion 1992/1962)1. Der Blick auf das Kind und die Betrachtung des Zusammenhangs des dabei entstandenen Gefühls wirken mildernd auf die Schuldgefühle; gleichzeitig entsteht ein innerer Raum, indem über jene Szene nachgedacht werden kann.

In diesem Zusammenhang lässt sich auch die „Erziehungspartnerschaft“ zwischen Fachkräften und Eltern thematisieren, in der es durchaus auch zu Schuldgefühlen auf beiden Seiten kommen kann. Beispielsweise können Schuldgefühle bei den Eltern entstehen, wenn Fachkräfte auf sie zukommen, um über das Kind zu sprechen. In der Folge muss die Angst abgewehrt werden, z. B. etwas falsch gemacht zu haben. Gleichwohl können aber auch Fachkräfte die Position der Eltern in der Übertragung übernehmen, wie im Falle des hier beschriebenen Beispiels. Ein Blick von außen durch Dritte (z. B. die Work Discussion-Gruppe) kann dann ebenfalls jene Ängste auslösen, etwas falsch gemacht zu haben und so ein bereits vorhandenes Schuldgefühl weiter verstärken. Bleiben diese Gefühle unbenannt, kommt es zu einem Teufelskreis, indem die Fachkraft in ihrer „zugewiesenen“ bzw. übertragenen Rolle „stecken bleibt“ und beispielsweise das Kind ablehnt, um nicht mit diesen Gefühlen konfrontiert zu werden. 

Durch die Work Discussion rückte nun auch die Mutter (bzw. die Elternebene) verstärkt in den Blick der Gruppe. Jenes sich zirkulär-wiederholende Einfühlen und Verstehen in der Gruppe führte dazu, dass sich schließlich auch die Handlungsebene bei Frau Schmidt veränderte, indem diese nun zunehmend die Kommunikation zur Mutter suchte und initiierte.

Die Besprechung der Situation hat außerdem zu einer Sensibilisierung bei Frau Schmidt für die Bedürfnisse von Mehdi geführt. Die Unsicherheit im Umgang mit Mehdi und seiner Mutter wurden geringer. Das Unbehagen von Frau Schmidt, nicht zu wissen, was Mehdi von ihr wolle, ist gewichen und es entstand zunehmend eine spielerische Kommunikation mit dem Jungen.

Auf der anderen Seite fällt auf, dass Frau Schmidt als Fall eine Situation mit einem Kind einbringt, das ihr quasi „zugeflogen“ ist, für das sie eigentlich nicht zuständig ist. Es könnte sein, dass es ihr dadurch leichter möglich war, über die Ausgrenzung eines Kindes zu sprechen und nachzudenken. Dies verdeutlich noch einmal, wie schwer es ist, negative bzw. „unaussprechliche“ Gedanken und Gefühle zu thematisieren und wie sehr Schuldgefühle verhindern, über Ausgrenzung in der eigenen Gruppe zu sprechen. Durch die „distanzierte“ Betrachtung eines Kindes, das nicht zur eigenen Gruppe gehört, war es eher möglich, sich mit der Methode vertraut zu machen. In diesem Zusammenhang konnte gezeigt werden, dass es einen gewissen äußeren sowie inneren sicheren Rahmen braucht, um Ambivalenzen auszuhalten und sich selbst gehalten zu fühlen – einen Rahmen, den wir in unserem Projekt gemeinsam mit den TeilnehmerInnen herzustellen versuchen.

Heimlich (2017) führt aus, dass die UN-Behindertenrechtskonvention von den frühpädagogischen Fachkräften einen Perspektivwechsel in mehrfacher Hinsicht fordert. Zum einen sei es unumgänglich, die eigene Wahrnehmung von Barrieren und Situationen zu thematisieren und zu reflektieren, damit Barrieren und Hindernisse für die umfassende Teilhabe aller Kinder identifiziert, abgebaut bzw. überwunden werden können. Darüber hinaus wird an die Fachkräfte auch der Anspruch gestellt, an ihrem eigenen Wertesystem zu arbeiten, da die Haltung der Fachkräfte gegenüber Inklusion als eine der wichtigsten Ressourcen für das Gelingen inklusiver Bildung angesehen werden muss. 

Das angestrebte Wertesystem ist unter anderem in den inklusiven Qualitätsstandards verankert, denen – so postuliert Heimlich (2017) – ein gemeinsames Bild vom Kind zugrunde liegen sollte. Er räumt ein, dass diese anthropologischen und philosophischen Grundlagen der inklusiven Frühpädagogik zugleich offen für unterschiedliche Schwerpunktsetzungen sein sollten. Zunächst einmal sei es bedeutsam wahrzunehmen, dass es unterschiedliche Vorstellungen von Kindern und Kindheit gäbe und dass es wichtig sei, sich dieser unterschiedlichen Vorstellungen bewusst zu sein bzw. zu werden. Dies stellt gewissermaßen ein Paradox dar. Einerseits erzeugt die inklusive Leitidee bezüglich ihrer Grundwerte Konformitätsdruck und stellt die Forderung nach Bereitschaft zur Transformation, andererseits soll Raum für Selbstreflexion, Selbstbestimmung und autonome Lebensgestaltung gewährt werden. Eine Transformation von Einstellungen und Haltungen, die im Kern mit den jeweiligen individuellen und beruflichen Biografien eng verknüpft ist, stellt eine hohe Anforderung dar und ist vor allem nicht unter Zwang zu realisieren. Die Ambivalenz, die aus diesem Paradox resultiert, kann Schuldgefühle bei den pädagogischen Fachkräften erzeugen.

Instrumente wie der Index für Inklusion (Boban & Hinz 2015), der mit umfangreichen Indikatoren und Fragen die Inklusionsentwicklung auf verschiedenen Ebenen leiten soll, ist einerseits ein wertvolles Raster, kann aber von Einrichtungsteams allein schon aufgrund des Umfangs als Überforderung wahrgenommen werden. Zudem wird der Index auch als externe Evaluation der Inklusionsentwicklung und so als ein Instrument der Kontrolle missverstanden, welche standortbezogene Entwicklungen und Profilbildungen zu wenig berücksichtigt (Heimlich & Ueffing 2018). 

Äußere Barrieren lassen sich aus dem Weg räumen, was sich anhand von Leitlinien oder dem Index für Inklusion mehr oder weniger genau überprüfen lässt. Die Gestaltung persönlicher Beziehungen, bei denen Einstellungen und innere Haltungen eine wichtige Rolle spielen, lassen sich hingegen nur begrenzt kontrollieren (Ahrbeck 2014). In der Abschlussveranstaltung unserer Fortbildungsreihe „Fachkräfte stärken für Inklusion“ fragten wir unter anderem die teilnehmenden Fachkräfte danach, ob sich ihre Haltung hinsichtlich des Themas Inklusion durch die Fallbesprechungen im Work Discussion-Seminar verändert habe. 

Eine Fachkraft äußerte, „dass man als Erzieherin darauf gepolt werde, dass man alle Kinder gleich mögen müsse und die Eltern ebenso“. Zu sagen, dass es Schwierigkeiten gibt, sei schwierig, weil der Gedanke aufkommt: „Dann stimmt was nicht mit mir“. Man beziehe viel auf sich und frage sich: „Lag es an mir? An der Vorbereitung?“. „Man neigt dazu, im Erfolgsdenken verhaftet zu sein und Ergebnisse vorzuzeigen, die Kinder müssten etwas lernen.“ Durch die Work Discussion-Seminare sei eine Last von ihr abgefallen.

Die Forderung nach einer unterschiedslos begrüßten Vielfalt, die jeder als bereichernd erlebt und in der jeder gleichermaßen anerkannt wird, entspricht hohen moralischen Standards. Sie repräsentiert einen wünschenswerten Zustand, ein Ideal, das in der außerfamiliären Realität unerreichbar ist, denn das frühe Liebesprinzip widerspricht den die Gesellschaft konstituierenden Leistungsanforderungen (Ahrbeck 2014, 57).

Wenn Schuld, Scham, Irritationen und Ungewissheiten nicht (mehr) zum Thema gemacht werden dürfen, weder in den beteiligten Personen selbst noch in ihrer Beziehung zueinander, werden damit zugleich die Bedingungen aufgehoben, die für eine Anerkennung des Anderen als unerlässlich erachtet werden (ebd.).

Die Äußerungen der Fachkraft verdeutlichen, wie einschränkend die Selbstzensur auf das pädagogische Handeln und Reflektieren wirken kann. Durch die Work Discussion-Gruppe entstand für die Fachkraft ein Raum, in dem sie sich mit ihren Idealvorstellungen, alle Kinder und deren Eltern „mögen zu müssen“, kritisch auseinandersetzen konnte. Schuld, Ungewissheit und Unsicherheit bezüglich der Einstellungen und Haltungen zu inklusiver Pädagogik konnte im Rahmen der Work Discussion-Gruppe gemeinsam betrachtet und veränderte Sichtweisen dazu entwickelt werden.

Schlussbetrachtung

Die Spaltung in Gut und Böse, in Richtig und Falsch, in Inklusionsbefürworter und Inklusionsgegner führt nicht zur Entwicklung einer inklusiven Kultur in Kindertageseinrichtungen. Zur Gestaltung der Interaktionen und Beziehungen in inklusiven Kitas ist es unverzichtbar, an der Integration von Gut und Böse, Richtig und Falsch – das heißt an der Überwindung von Spaltungsprozessen – zu arbeiten. Die hohe moralische Anforderung, die mit der Forderung nach uneingeschränkter Teilhabe aller Kinder verbunden ist, erzeugt auf der Beziehungs- und Interaktionsebene einen Konformitätsdruck, der, wie wir in unserer Veranstaltungsreihe mit Fachkräften vielfach gesehen haben, zu Schuldgefühlen und in der Folge unter anderem auch zu einer Simulation von Inklusion führen kann (Dederich 2006). Damit der Inklusionsgedanke auch tatsächlich eine Veränderungsdynamik im pädagogischen Alltag der Kitas entfalten kann, ist es unumgänglich, in der Praxis von Kindertagesstätten die erforderlichen Ressourcen und die notwendige Qualifizierung zu entwickeln, wie auch Heimlich in seinem aktuellen Leitfaden zu Inklusion in Kitas fordert (Heimlich & Ueffing 2018). Um innere Denkräume zu schaffen, die es ermöglichen, den Prozess der Inklusion auf eine reflexive Art umzusetzen, braucht es vor allem auch äußere Räume, in denen sich die Fachkräfte verstanden und „gehalten“2 fühlen können.

 

Literatur

Ahrbeck, B. (2014): Inklusion. Eine Kritik. Stuttgart: Kohlhammer.

Albers, T. (2012): Mittendrin statt nur dabei: Inklusion in Krippe und Kindergarten. München: Reinhardt.

Bion, W. R. (1992/1962): Lernen durch Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Boban, I. & Hinz, A. (2015): Der Index für Inklusion – eine Einführung. In: dies. (Hrsg.): Erfahrungen mit dem Index für Inklusion: Kindertageseinrichtungen und Grundschulen auf dem Weg. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 11–42. 

Datler, W. & Datler, M. (2014): Was ist „Work Discussion“? Über die Arbeit mit Praxisprotokollen nach dem Tavistock-Konzept. Zugriff am 16. Oktober 2018. https://fedora.phaidra.univie.ac.at/fedora/get/o:368997/bdef:Content/get.

Datler, W.; Hover-Reisner, N. & Steinhardt, K. (2010): Akademische Bildung und professionelles Verstehen. Work Discussion im Vorschulbereich. In: Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung 10, Heft 1, 17–22.

Datler, W.; Steinhardt, K.; Wininger, M. & Datler, M. (2008): Die aktuelle unbewusste Dynamik in der Interviewsituation und die psychoanalytische Frage nach dem Biographischen: Grenzen und Möglichkeiten der Arbeit mit einer Modifikation der Methode der „work discussion“. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung, 9(1-2), 87–98.

Dederich, M. (2006): Exklusion. In: Dederich, M.; Greving, H.; Mürner, C. & Rödler, P. (Hrsg.): Inklusion statt Integration? Heilpädagogik als Kulturtechnik. Gießen: Psychosozial-Verlag, 11–27.

Eichholz, R. (2015): Anthropologische Grundlagen der Inklusion. http://bidok.uibk.ac.at/library/inkl-01-15-eichholz-grundlagen.html#content.

Fonagy, P.; György, G.; Elliot, L. J. & Target, M. (2018): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. 6. Auflage. Stuttgart: Klett Cotta.

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Fußnoten

1 Das Container-Contained-Modell nach Bion beschreibt die Fähigkeit eines Menschen (z.B. der Mutter), noch rohe, nicht symbolisierte Gefühle in sich aufzunehmen, diese zu verstehen und zu benennen und sie dem Gegenüber (z.B. dem Säugling) in einer transformierten, „verdaulichen“ Form zur Verfügung zu stellen (Lüders 2015). 

2 Die haltende Funktion bzw. holding function geht auf das Konzept von Winnicott zurück und beschreibt die Notwendigkeit einer physisch und auch psychisch haltenden Umwelt für die Entwicklung eines Kindes (Winnicott 1974/2006).

 

Karolina Goschiniak, M.A.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, AG Sonderpädagogik. In Ausbildung zur Psychoanalytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Anna-Freud-Institut Frankfurt am Main; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Inklusion, Psychoanalytische Pädagogik, Psychoanalytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.

kagoschi@uni-mainz.de

 

Viktoria Grundmann

Zwei-Fächer-Studium Erziehungswissenschaft und Publizistik an der Johannes Gutenberg- Universität Mainz, Abschluss 2016. Studiert derzeit im Masterstudiengang Erziehungswissenschaft, Studienschwerpunkt Sonderpädagogik der Johannes Gutenberg- Universität Mainz und war bei der Durchführung des Projekts „Fachkräfte stärken für Inklusion“ mitbeteiligt. Neben dem Studium war sie in der ambulanten Betreuung von Menschen mit Behinderung als Sprachförderkraft im Elementarbereich und als Tutorin an der Universität tätig.

vgrundma@students.uni-mainz.de

 

Sabine Hecklau-Seibert, Dr. phil.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft in der AG Sonderpädagogik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Schwerpunkte: Frühförderung, Psychomotorik und Inklusion.

hecklaus@uni-mainz.de

 

Bernd Traxl, Prof. Dr. phil.

Bernd Traxl ist Sonder- und Heilpädagoge, Psychoanalytiker und Professor an der KH Freiburg.

Schwerpunkte: Inklusion, Verhaltensauffälligkeiten sowie

psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen.

bernd.traxl@kh-freiburg.de