Lotta mit Sonnenbrille sitzt auf einer Parkbank und schaut staunend, mit leicht geöffnetem Mund in den Himmel.

Lotta – oder wie ihr Bruder sagen würde: „Das schönste Mädchen der Welt“.

Foto: Sigrid Reinichs
aus Heft 6/2018 – Inklusion
Sandra Roth

Eine Schule für Lotta

Wann gelingt Inklusion? Die Autorin Sandra Roth erzählt, wie sie für ihre behinderte Tochter ein Klassenzimmer sucht.

„Ich werde gleich erzählen, was du alles nicht kannst, Lotta*“, sage ich. „Aber du weißt, dass ich stolz auf dich bin, ja“. Wir warten im Gesundheitsamt darauf, dass wir aufgerufen werden. Lotta ist sechs Jahre alt und wird nächsten Sommer in die Schule kommen. Ihr großer Bruder Ben saß vor zwei Jahren hier, er musste bei der Schuleingangsuntersuchung Bilder malen und die Fragen der Ärztin beantworten. Lotta wird das nicht können. Für Ben haben wir damals die nächstgelegene städtische Grundschule gewählt. Als ich mit meiner Tochter im Gesundheitsamt sitze, weiß ich schon, dass es bei ihr nicht so einfach wird. Wie schwer es wird, ahne ich nicht. 

Seit 2009, dem Jahr, in dem Lotta geboren wurde, gilt hierzulande die UN-Behindertenrechtskonvention. Seitdem hat sich Deutschland verpflichtet, ein Schulsystem aufzubauen, das Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam besuchen können. Ziel ist die inklusive Gesellschaft, an der alle teilhaben können, sei es in der Schule, im Beruf, bei Wahlen oder Konzerten. Was braucht es dafür? Diese Frage wird häufig abstrakt diskutiert, oft ideologisch und aufgepeitscht – uns hält sie so manche Nacht wach, während wir eine Schule für Lotta suchen. Lotta hat so sehr kämpfen müssen, auf dieser Welt zu bleiben – welchen Platz wird ihr unsere Gesellschaft zugestehen? 

„Du kannst eine ganze Menge“, sage ich zu Lotta, und sie grinst. Als wir aufgerufen werden, schiebe ich ihren Rollstuhl in einen kleinen Raum. „Hallo, Lotta“, sagt die Ärztin und nimmt Lottas Hand, die auf ihrem Schoß liegt. „Wie geht es dir?“ – „Äh“, sagt Lotta und schenkt ihr ein Grübchen. „Ich habe Ihnen die letzten Arztbriefe kopiert“, sage ich, doch die Ärztin wendet den Blick nicht von Lotta. Ich weiß, was sie hören will, ich kenne solche Gespräche. „100 Prozent schwer mehrfach behindert. Spastische infantile Cerebralparese, höchste Stufe, aufgrund einer angeborenen Vena Galeni-Malformation. Epilepsie. Schluckstörung. Keine aktive Sprache, aber sie versteht alles. Jedenfalls gehen wir davon aus.“ Außerdem ist Lotta blind. Ich rattere Fachbegriffe herunter, damit meine lächelnde Tochter nicht hören muss, wie ich sage: Sie kann nicht laufen, nicht krabbeln oder sich die Haare aus den Augen wischen. Aufgrund einer angeborenen Gefäßfehlbildung im Gehirn kann sie nicht sprechen wie wir, nicht sehen, nicht kauen. Nicht aus einem Becher trinken, nicht zur Toilette gehen, nicht allein sein, weil sie epileptische Anfälle hat. So viele Sätze mit „nicht“ – und sie sagen nichts darüber aus, wer Lotta ist. Es ist, als würde jemand über mich sagen: Sandra kann laufen, kauen und sehen. Unsere Fähigkeiten definieren nicht, wer wir sind – doch die meisten Menschen sehen das nicht so, zumindest nicht, wenn sie Lotta anschauen. 

Wenige fragen sie, wie es ihr geht, sie fragen mich, was sie hat. Als wären ihre Behinderungen das einzig Interessante an ihr. Viele sehen sie und schauen schnell weg, so wie ich es früher getan hätte. Andere starren. Neulich ist einer gegen eine Laterne gelaufen, weil er die Augen nicht von ihr wenden konnte. Wir haben gelacht, und Lottas Bruder Ben hat gesagt, das sei passiert, weil sie so schön sei. Und es stimmt, Lotta ist schön, auch wenn die Welt ihre Schönheit nicht sieht. 

Als wir Wochen später Post vom Gesundheitsamt kriegen, lese ich im „entwicklungsneurologischen Gutachten“ alle Schlagwörter, die ich erwartet habe. In den Spalten über Lottas Sozialverhalten aber steht „Kontaktaufnahme: charmant“. Lotta kann niemandem die Hand geben, doch andere um den Finger wickeln – das kann sie. Sie ist charmant, das haben wir jetzt sogar schriftlich vom Amt. Schade eigentlich, dass es dafür keinen Ausweis gibt. 

Es gibt eine Sprache jenseits aller Worte, und Lotta spricht sie fließend. Ein Augenaufschlag, ein Seufzen, ein Lächeln, damit sagt sie mehr als andere mit vielen Sätzen. Mit einem Schalter hinter ihrem Ellenbogen kann sie von einem Gerät kleine Nachrichten abspielen, die wir ihr draufgesprochen haben. Morgens in der Kita sagt sie mit meiner Stimme: „Ich war mit meiner Familie Pizza essen.“ Abends am Esstisch erzählt sie mit der Stimme ihrer Freundin: „Wir Vorschulkinder waren heute in der Turnhalle.“ Wann immer jemand Lotta ein Vorschulkind nennt, grinst sie stolz. Bei der Physiotherapie jammert sie nicht, wenn es anstrengend wird. Sie mag alles Neue und liebt lange Geschichten. Sie ist kein Engel, ich kann ihr keine größere Freude machen, als einen Kaffeebecher fallen zu lassen. Ein Kind mit so viel Ehrgeiz und Neugier, das sich sehr auf die Schule freut – jeder Lehrer sollte sich freuen, sie im Klassenzimmer zu haben. Doch wer wird das so sehen wie wir? 

Sieben integrative Kindergärten haben uns abgelehnt. Begründungen gab es viele. Nur die Leiterin eines Regelkindergartens sagte: „Natürlich kann Lotta kommen. Beim Regenbogen frage ich auch nicht, ob Gelb noch sein muss, Gelb gehört einfach dazu.“ Lotta geht seit drei Jahren mit 14 anderen Kindern in die Spatzen-Gruppe. Sie wird von einer Integrationshelferin begleitet, einer Fachkraft, die Lotta fördert und ihr hilft. Wenn ich Lotta abhole, hat sie Sand zwischen den Zehen und Farbe an den Fingern. Sie rutscht beim Besuch bei der Feuerwehr wie die anderen die Stange runter, gehalten von einem Feuerwehrmann. Ihre Freundin Nelly weiß, was man bei einem epileptischen Anfall macht: „Nix, am Ende trösten.“ Wenn Lotta kurz das Bewusstsein verliert, ist das für Nelly nicht so interessant wie Lottas neues Hörspiel. Die Kita hat mir gezeigt, wie wunderbar die gemeinsame Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung funktionieren kann. 

Vielleicht mache ich mir unnötig Sorgen. Wenn die Welt Lottas Charme sehen kann, dann kann sie vielleicht auch ihre Neugier sehen und ihren Ehrgeiz. Vielleicht kann sie sehen, dass Lotta eine wunderbare Erstklässlerin werden wird. 

„Willst du etwa eine Regelschule für Lotta?“ Merle, eine Freundin aus Studientagen, zufällig habe ich sie nach Jahren wieder getroffen. Sie ist Lehrerin an einer Grundschule, die seit Kurzem inklusiv arbeitet. „Stehst du nicht hinter dem, was du tust?“, frage ich. „Wollen wir uns mal treffen?“, gibt sie zurück. „Das lässt sich nicht so schnell erzählen.“ Wir tauschen Nummern. Merles Schule hat sich früh der Inklusion geöffnet, erzählt sie noch. „Unser Rektor dachte: Wer zuerst loslegt, kann sich aussuchen, wer kommt.“ Blinde hätte er gern gehabt, Hörgeschädigte auch. Seine Sorge: sogenannte emotionalsozial Beeinträchtigte mit „herausforderndem Verhalten“. Sollte Inklusion nicht für alle sein? „Was wünschst du dir von einer Schule für Lotta?“, fragt Merle. 

Lottas Schule sollte ein Kind unterrichten wollen, das, wie Ben sagen würde, „so richtig behindert“ ist. Ich wünsche ihr eine Schule, wo das Trinken aus einem Becher ein genauso ernst zu nehmendes Lernziel sein kann wie Bruchrechnen, wo Physiotherapie und Sport sich ergänzen, wo eine mühsam geöffnete Hand genauso gelobt wird wie ein sauber geschriebener Text. Ich weiß nicht, ob Lotta mal das Abc können wird, aber ich wünsche mir, dass sie es hört. Sie soll große Pausen haben und ein bisschen Langeweile in Unterrichtsstunden. Ich wünsche ihr Klassenkameraden, die mit ihr lernen und spielen, ich wünsche ihr Lehrer, die sehen, was sie schon alles kann, statt nur, was sie nicht kann. 

Bei seiner Einschulung wollte ich Ben dorthin bringen, wo die Erstklässler saßen, und ging voran. Als ich mich umdrehte, lief er schon in die andere Richtung. Bevor ich ihn einholen konnte, stoppte ihn eine Lehrerin, wir kannten sie vom Schnuppertag. „Bist du nicht einer von meinen? Ben? Komm, ich bring dich zu deinem Platz.“ An ihrer Hand ging er nach vorn. Ab da war Ben ein Schulkind. Er mag über die Schule motzen, aber morgens hüpft er lachend die Treppe hinunter. In seinen Heften sind Kritzeleien von kämpfenden Jedis, aber unter seinen Hausaufgaben gibt es Stempelbilder. Auch wenn Lotta Stempel nicht sehen kann, ich wünsche sie ihr. Ich wünsche ihr Erfolgserlebnisse und Lehrer, die sagen: „Du bist doch eine von meinen.“ 

Beim Tag der offenen Tür an einer Schule, die damit wirbt, schon lange inklusiv zu arbeiten, verschränkt der Rektor die Arme und sagt: „Gewickelt wird hier nicht.“ Sie haben einen Fahrstuhl und schon einen Schüler im Rollstuhl. Irgendwann ist auch mal Schluss. Der Wickeltisch ist die Grenze. Endet ein Menschenrecht an der Frage, was man unter der Hose trägt? Gilt es nur für bestimmte Menschen – für die Kinder, die behindert genug sind für Fördermittel, aber nicht so behindert, dass es anstrengend wird? 

Ich hadere nicht damit, dass Lotta nicht sieht, spricht oder kaut, ich hadere mit der Welt, in die ich sie gebracht habe. Es bricht mir das Herz, wie oft unsere Gesellschaft Lotta zeigt, dass sie anders sein sollte. Sei weniger behindert, sagt die inklusive Schule, die das nicht leisten kann, sagen die Treppen hoch zur Praxis ihrer Kinderärztin, die wie zwei Drittel aller Arztpraxen nicht barrierefrei ist, sagt der Mensch, der auf dem Behindertenparkplatz parkt. Sei weniger behindert, denn so wie du bist, ist hier kein Platz für dich. 

Wenn ein Wickeltisch die Grenze ist, dann ist Inklusion, bei der eigentlich jeder dazugehören soll, unabhängig von seinen Fähigkeiten, seiner Herkunft oder genetischen Disposition, weiterhin nur Integration: Du darfst mitmachen, aber nur, wenn du nach meinen Regeln spielst. Nicht die Welt passt sich an, du musst dich anpassen. Du kannst das nicht? Und raus bist du. 

„Ich verstehe ja, dass du wütend bist“, sagt Merle, die Grundschullehrerin, als wir uns treffen. „Aber den Rektor verstehe ich auch.“ „Denen geht es nicht ums Wickeln“, sagt Merle. „Die wollten dich abschrecken. Sei froh.“ Ich stutze, sie sagt: „Willst du erst später merken, dass sie mit deinem Kind überfordert sind?“ – „Aber wer sagt, dass sie das wären?“, widerspreche ich. „Lotta hat eine Fachkraft als Integrationshelferin, ich habe eine Anwältin, einen Pflegeraum zum Wickeln kann man beantragen.“ – „Diese Kämpfe dauern. Und bis dahin … Ich würde dein Kind auch nicht in meinem Klassenzimmer wollen.“

Sie blickt zu Lotta und senkt die Stimme. „Du hast keine Ahnung, was bei uns abgeht.“ Merle fürchtet, dass Mirco sich wieder ausziehen könnte. Sechs Jahre alt und splitternackt bis auf die Socken, mitten im Unterricht. Ich frage: „Hat er keine Schulbegleitung?“ – „Der hat offiziell nicht mal Förderbedarf. Ich will jetzt einen Antrag stellen.“ Pro Schüler mit Förderbedarf hat eine Schule Anspruch auf Sonderpädagogen und andere Mittel. Erst wenn ein Schüler offiziell Förderbedarf hat, kann er eine Begleitung bekommen, wie Lotta in der Kita. 

„Jetzt werden eben auch die U-Boote diagnostiziert“, sagt Merle, „die Kinder, die man früher durchgeschleift hätte, um sie nicht auf die Sonderschule abzuschieben. Was meinst du, warum die Inklusionsquoten steigen?“ Bildungswissenschaftler nennen diesen Mechanismus das „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“: Durch die Verteilung der Mittel pro Kind mit Förderbedarf entsteht ein Anreiz. Vor allem Schüler mit auffälligem Verhalten wie Mirco werden nun eher diagnostiziert. 

Aber die Inklusionsquoten steigen auch aus anderen Gründen. In Merles Klasse sitzen Kinder, die früher wohl auf eine Förderschule gegangen wären, ein Junge mit Hörbeeinträchtigung, ein Mädchen mit Down-Syndrom. Außerdem Alima aus Syrien, die unter den Tisch flüchtet, wenn irgendwo ein Presslufthammer loslegt, und ihre Schwester Basima, die kein Wort sagt. „Und in so eine Klasse willst du Lotta setzen?“ An Lottas Kita funktioniert die Inklusion – was brauchen Lehrer, damit es im Unterricht ebenso gut gelingt? 

Die Tür fliegt auf, und Ben stürmt rein. „Psst!“, sage ich. „Lotta schläft.“ – „Quatsch“, sagt er und zeigt zu ihrem Sitzsack. Da liegt sie und grinst, als Ben sie umarmt. „Du kannst so leise zuhören“, sagt er. „Du wirst super in der Schule sein.“ Ben hat bestimmt recht, nur wo wird das sein? 

Am Ende wird uns die Suche nach einer Schule für Lotta an einen Ort führen, den ich mir anfangs nicht vorstellen konnte: die Förderschule. 

 

Gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels, der am 4. Oktober 2018 in der ZEIT (41) erschienen ist.

 

 

Roth, S. (2018)

Lotta Schultüte: Mit dem Rollstuhl ins Klassenzimmer

Gebunden, 336 Seiten

20 Euro

Köln: Kiepenheuer & Witsch

ISBN 978-3-462-05072-1

 

Nach ihrem Bestseller „Lotta Wundertüte“ hat Sandra Roth die vielen begeisterten LeserInnen fünf Jahre lang auf die Folter gespannt, aber jetzt ist es so weit: „Lotta Schultüte“ ist erschienen – erneut ein ehrliches und zutiefst berührendes Buch, das die schwierige Suche nach der richtigen Schule für ihre behinderte Tochter Lotta zum Inhalt hat. Kein leichtes Thema also, weil es dabei viele Hürden zu nehmen gibt (siehe auch nebenstehenden Bericht). Und trotzdem: weder Larmoyanz noch Pessimismus, Anklagen oder gar Aggression – und dafür hätte Roth wahrlich ihre Gründe! Ja, Roth wirft einen sezierenden Blick auf die oft zermürbende Realität – dies aber mit unvergleichlichem Humor und Optimismus.

Es wird dem Buch nicht gerecht, es nur als einen Beitrag zu der aufgeheizten Diskussion um Inklusion zu sehen. Und es ist auch viel mehr als ein Buch für Eltern behinderter Kinder. Es ist ein Plädoyer für die lohnende Suche nach den oft nicht sofort erkennbaren Schätzen in jedem Menschen: „Ohne Lotta hätte ich nie hören gelernt, was ich heute hören kann“, so Roth. Und folglich ist „Lotta Schultüte“ vor allem ein Buch über Menschen und für Menschen – egal, ob Eltern oder nicht und egal, ob behindert oder nicht.

„Wie müsste eine Welt aussehen, die Lotta mehr sein lässt als nur behindert? Die sie sehen könnte, wie sie ist – schön, unbekümmert, behindert, fröhlich und charmant?“, fragt Roth. Eine kluge Frage, die einen vielleicht zunächst ratlos macht, aber zum Nachdenken anregt – und ein Ansporn und Auftrag an uns alle sein kann, dafür einen Beitrag zu leisten. 

eins