Inklusion - quo vadis?

 

aus Heft 4/5/2018 – Interview
Ewald Feyerer

Inklusion – quo vadis?

Der Leiter des Institutes für Inklusive Pädagogik und des Bundeszentrums Inklusive Bildung und Sonderpädagogik (BZIB) an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, Ewald Feyerer, im Interview:

In einem Impulsreferat zu den Inklusiven Modellregionen beim 22. Heilpädagogischen Kongress heuer in Vöcklabruck haben Sie sich kritisch mit der Situation der Inklusion an Österreichs Schulen beschäftigt. Was macht Ihnen da derzeit die größten Sorgen?

 

Die größte Sorge macht mir, dass das für alle SchülerInnen sehr gute Konzept der Inklusion aufgrund schlechter Rahmenbedingungen und des Fehlens einer klaren und eindeutigen politischen Willensäußerung pro Inklusion heute Gefahr läuft, als Sparprogramm bei den Schulen anzukommen und damit letztlich vollkommen abgelehnt und negativ rekontextualisiert wird. Georg Feuser sprach diesbezüglich in seiner Rede auf der InklusionsforscherInnentagung in Linz (= IFO 2017) pointiert davon, dass die Inklusion in die Segregation integriert und damit in ihrem Sinnzusammenhang zerstört wird. So gibt es zum Beispiel seit kurzem eine Bewegung, in der Integrationsklassen an Sonderschulen als die inklusiven Modelle beschworen oder in der Sonderschulen zu Inklusionsschulen umgetauft werden und die im gleichen Gebäude befindliche Volksschule weiterhin eine davon getrennte Volksschule bleibt. Es scheint so, als ob die Bildungspolitik und -administration den einstimmigen und damit von allen Parteien getragenen Ratifizierungsbeschluss der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2008 nicht wirklich ernst nimmt. 

 

Was ist bisher gut gelungen?

 

Als wirklich gut gelungen im Sinne der Inklusion kann zuerst einmal die in Mitteleuropa als vorbildhaft zu bezeichnende Neustrukturierung der LehrerInnenbildung genannt werden. Will man Inklusion, dann benötigt man keine besonderen LehrerInnen für besondere Schulen, aber sehr wohl LehrerInnen, die grundsätzlich in der Lage sind, auf die Vielfalt der SchülerInnen didaktisch-methodisch richtig zu reagieren sowie sogenannte „generalisierte SpezialistInnen“, die ausreichend sonderpädagogische Kompetenzen mitbringen, um gemeinsam mit ihren KollegInnen Schule und Unterricht so zu gestalten, dass Barrieren abgebaut und alle SchülerInnen – also „schwerstbehinderte“ genauso wie „schwerstbegabte“, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, aus bildungsnahen oder -fernen Milieus kommend – gemeinsam erfolgreich lernen können.

Zweitens möchte ich auf die in den Inklusiven Modellregionen erzielten Erfolge hinweisen. So hat z. B. Kärnten aufgezeigt, wie Sonderschulen reduziert und die sonderpädagogischen und therapeutischen Fachkräfte so dezentralisiert werden können, dass Kinder mit besonderen Bedarfen möglichst nicht ausgeschlossen werden müssen. Tirol hat ein wirksames Konzept der pädagogischen Beratung aufgebaut, das Regelschulen und LehrerInnen darin unterstützt, inklusive Bildungsangebote umzusetzen und als Modell für die neu aufzubauenden Strukturen im Rahmen der Bildungsdirektionen fungieren können. Die Steiermark hat z. B. ein Netzwerk Inklusion aufgebaut, das Schulleitungen, SQA*-Beauftragte und Inklusionsbeauftragte bei der internen Schulentwicklung mittels des Index für Inklusion unterstützt. Vorarlberg wiederum hat ein effektives System der inklusiven Förderung aller Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten aufgebaut, auch wenn diese keinen sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) aufweisen. Sowohl in Vorarlberg als auch in Tirol und Kärnten finanziert die jeweilige Landesregierung zusätzliche Dienstposten, um eine ausreichende sonderpädagogische Förderung umsetzen zu können.

 

Welche entscheidenden Fragen werden Ihrer Meinung nach im Zusammenhang mit der Teilnahme aller Kinder am Bildungsprozess derzeit nicht gestellt?

Momentan wird sehr intensiv über die Verringerung der SPF-Quote (Sonderpädagogischer Förderbedarf-Quote) diskutiert. Durch den verstärkten Einsatz medizinisch-psychologischer Testdiagnostik soll die Zahl der SPF-Bescheide zurückgehen und die vorhandenen Ressourcen für 2,7 Prozent aller PflichtschülerInnen auf „wirklich behinderte SchülerInnen“ beschränkt werden. Wer aber ist „wirklich behindert“? Dieses neue Vorgehen entspricht letztlich einem bereits überholten medizinischen Behinderungsbegriff. Inklusion verlangt aber eine menschenrechtlich basierte Herangehensweise. Jede und jeder, die/der Hilfe und Unterstützung benötigt, sollte diese möglichst ohne Stigmatisierung bekommen. Es müsste also gefragt werden: Wo sind Bildungsbarrieren vorhanden? Wie können diese verringert werden? Welche Unterstützung benötigen LehrerInnen und SchülerInnen, um inklusiv lehren und lernen zu können? Wie kann die Ressourcensteuerung umgebaut werden, um bedarfsgerecht und flexibel intervenieren zu können bzw. durch entsprechende Prävention und Individualisierung der Lehrpläne die Notwendigkeit von SPF-Bescheiden zu verringern? Wie kann die Elementarpädagogik aber auch die Sekundarstufe 2 und die tertiäre Bildung stärker in die Entwicklung inklusiver Bildungsangebote einbezogen werden?

Welche Vorschläge für den Aufbau solider Unterstützungsstrukturen für Schulen haben Sie?

 

Soll Inklusion im Bildungsbereich gelingen, dann benötigen die Regelschulen einerseits Unterstützung für den notwendigen internen Schulentwicklungsprozess. Hier sind die Pädagogischen Hochschulen gefordert, bedarfsbezogen Fort- und Weiterbildungsangebote anzubieten: schulinterne Fortbildungen (SCHILFs), schulübergreifende Fortbildungen (SCHÜLFs), Hochschullehrgänge zur Steigerung der pädagogischen Diagnosefähigkeit und der Kompetenzen zur Individualisierung und inneren Differenzierung, aber auch Supervisionen und Fallbesprechungen. Andererseits bedarf es einer Transferierung der vorhandenen sonderpädagogischen und therapeutischen Ressourcen in die Regelschulen. Da es ja seit 1. September 2018 keine Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik (ZIS) mehr gibt, sind hier die im Bildungsreformgesetz von 2017 neu verankerten Pädagogischen Beratungszentren (PBZ) gefordert. Wie bereits gesagt, haben die Inklusiven Modellregionen dazu gute Modelle entwickelt, die in die neu aufzubauenden Bildungsdirektionen übernommen werden könnten.

 

Was braucht es, dass diese Vorschläge auch umgesetzt werden können?

 

Zuerst einmal ein Wollen seitens der Bildungspolitik und -verwaltung sowie eine höhere Verbindlichkeit für die Akteure in den Regionen. Bei unserer Analyse der Entwicklung in Österreich aus der Governance-Perspektive – ebenfalls präsentiert auf der IFO 2017 – schlagen wir vor, dass die Regierung von der bisherigen „Strategie der Freiwilligkeit innerhalb der bestehenden Ressourcen“ abgeht und zu einer „Strategie der Verbindlichkeit mit angemessener Unterstützung der Entwicklung“ wechselt. Dazu muss es ein klares Bekenntnis zur Inklusion auf nationaler Ebene sowie Freiräume und Begleitung zur regionalen Umsetzung geben.

 

Was können das Institut für Inklusive Pädagogik und das BZIB dazu beitragen?

 

Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht die LehrerInnenbildung. Wir haben dazu beigetragen, dass die Inklusive Pädagogik in allen Curricula verankert ist – und zwar einerseits im Sinne von Basiskompetenzen für alle LehrerInnen und andererseits mit vertieften Kompetenzen im Bereich des Schwerpunktes bzw. der Spezialisierung Inklusive Pädagogik. In weiterer Folge heißt es, die Umsetzung der neuen LehrerInnenbildung österreichweit zu koordinieren, zu evaluieren und weiterzuentwickeln. Als BZIB haben wir auch die Entwicklung der Inklusiven Modellregionen begleitet, Publikationen zur qualitätsvollen Umsetzung inklusiven Unterrichts herausgegeben, Modelle für eine flexible und bedarfsgerechte Ressourcenvergabe entwickelt und das Standardisierte Abklärungsverfahren aus der Schweiz für Österreich adaptiert. Nun heißt es, die gewonnenen Erkenntnisse zu disseminieren, denn laut Nationalem Aktionsplan Behinderung (NAP) sollen ja bis 2020 flächendeckend in ganz Österreich Inklusive Modellregionen auf Basis der gewonnenen Erfahrungen eingerichtet sein. Dazu wollen wir unsere Publikationsreihe „Inklusion konkret“ fortführen, eLectures über die Virtuelle Pädagogische Hochschule Burgenland anbieten, ein Online-Tool für die kompetenzorientierte Lernprozessdokumentation entwickeln, „Bilder der Vielfalt“ aufnehmen, Tagungen und Symposien gestalten, Newsletter versenden und aktuelle Neuigkeiten über Facebook verbreiten. Alle vom BZIB erstellten Produkte sind selbstverständlich kostenlos auf unserer Homepage www.bzib.at downloadbar. 

 

„Inklusion – quo vadis“, so hat der Titel Ihres anfangs erwähnten Impulsreferates geheißen. Wohin geht Österreich zurzeit auf dem laut UN-Behindertenrechtskonvention vorgeschriebenen Weg der Inklusion?

 

Die UNO hat in ihrem Prüfbericht 2013 festgehalten: „Das Komitee ist besorgt, dass die Fortschritte in Richtung inklusiver Bildung in Österreich stagnieren. Das Komitee nimmt mit Besorgnis Berichte zur Kenntnis, die darauf hinweisen, dass die Anzahl von Kindern in Sonderschulen ansteigt und dass unzureichende Anstrengungen unternommen wurden, um inklusive Bildung von Kindern mit Behinderungen zu unterstützen. Es stellt ferner fest, dass einige Verwirrung über inklusive Bildung und integrative Bildung besteht. Das Komitee lobt jedoch die Einrichtung von Inklusiven Bildungsmodellen in mehreren Ländern.“ Im Regierungsübereinkommen 2018–2023 steht, dass das differenzierte Schulsystem erhalten und ausgebaut, die sonderpädagogische Ausbildung wiedereingeführt und das Sonderschulwesen erhalten und gestärkt werden soll. Diese Ziele stehen dem Anliegen der Inklusion diametral gegenüber. Bildungsminister Heinz Faßmann hat ein Consulting Board eingerichtet, das ihn dabei unterstützt, die Anliegen des Regierungsprogramms und der UN-Konvention zusammenzuführen (siehe Meldung S. 14). Ich hoffe, dass diesem die Quadratur des Kreises gelingt und der nächste Prüfbericht der UNO weitere Fortschritte – und keine Rückschritte – festhalten kann.

Interview: Peter Rudlof

 

* „SQA –Schulqualität Allgemeinbildung“: Initiative des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Sie will durch pädagogische Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung zu bestmöglichen Lernbedingungen für SchülerInnen an allgemein bildenden Schulen beitragen. Das eigenständige Lernen von SchülerInnen – unterstützt durch wertschätzende, sachlich fundierte Begleitung von LehrerInnen – soll zur weiteren Anhebung des Bildungsniveaus führen.

 

Prof. Dr. Ewald Feyerer, seit 2007 Leiter des Instituts Inklusive Pädagogik und seit 2013 auch Leiter des BZIB an der PH Oberösterreich, Linz.

Arbeitsschwerpunkte: LehrerInnenbildung, Curriculumsentwicklung, Schulentwicklung und Evaluationsforschung, Assessment

 

PH Oberösterreich

Institut Inklusive Pädagogik

Kaplanhofstraße 40

4020 Linz, Österreich