Wie der japanische Bestsellerautor Takuji Ichikawa die Welt sieht
Die Journalistin Christine Izeki ist in Deutschland zu Hause und sie liebt Japan. Jahrelang lebte sie in der Nähe von Tokio – so entstand auch ihr Buch „111 Orte in Tokio, die man gesehen haben muss“. Für eine Exklusivreportage in der Zeitschrift Behinderte Menschen traf sie kürzlich Takuji Ichikawa: Schriftsteller, 55 Jahre alt – und Asperger-Autist.
Mehrere seiner Romane wie „Separation“ oder „Be with you“ wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und waren als Kinofilme oder Fernsehserien zu sehen. Von „Be with you“ sollte es sogar eine Hollywood-Version mit Jennifer Garner und Ben Affleck in den Hauptrollen geben – die Produktion wurde jedoch im letzten Moment eingestellt, da die Schauspielerin schwanger wurde. In den Romanen von Ichikawa geht es um bedingungslose Liebe und um Wiedergeburt. Bereits verstorbene Personen, um die Familienmitglieder trauern, tauchen darin immer wieder auf. So gelingt es Ichikawa, Menschen in der ganzen Welt mit seinen anrührenden Geschichten zu erreichen. Wenn man sich die Biographie des Erfolgsautors anschaut, dann grenzt es nahezu an ein Wunder, dass er es geschafft hat, sich als Schriftsteller vor allem in seiner Heimat, den USA, Südamerika und Südeuropa zu etablieren.
Ichikawas Kindheit
In der Grundschule strapazierte Ichikawa die Pauker auf Äußerste. Eine Lehrerin attestierte ihm, in ihrer 30-jährigen Berufslaufbahn niemals einen schlimmeren Schüler erlebt zu haben. Der Junge war ein Sonderling. Er konnte während des Unterrichts nicht ruhig auf seinem Platz sitzen, sondern lief wild in der Klasse umher oder tanzte auf seinem Pult – der Albtraum einer Pädagogin, die eine Klasse mit über 40 Kindern bändigen musste. Das Phänomen „Asperger-Autismus“ war damals in Japan noch weitgehend unbekannt. Ichikawa wurde in der Schule gemäß dem japanischen Sprichwort: „Der hervorstehende Nagel muss eingeschlagen werden“ erzogen.
Zuhause lief es auch nicht besser. Die Mutter war psychisch instabil. Sie hatte ihre erste Tochter bei der Geburt verloren und diesen Verlust niemals überwunden. Drei Tage nach der Geburt des zweiten Kindes sprang sie mit dem Baby auf die Gleise und wurde im letzten Moment von einer Krankenschwester gerettet. Ichikawa überlebte knapp. Die Mutter behandelte ihn wie ein Mädchen. Sie war mit der Erziehung ihres herausfordernden Kindes, das nur sehr wenig schlief, überfordert. Das Kind war weitgehend auf sich allein gestellt. Der Vater war aufgrund seiner Arbeit selten zuhause. Von klein auf war Ichikawa gebrechlich. Bis heute plagen ihn phasenweise chronische Schmerzen.
Begegnung mit Miho
Mit Eintritt in die Oberschule – im Alter von 15 Jahren – lernte Ichikawa seine spätere Ehefrau Miho kennen. Er spürte auf Anhieb Sympathie für sie. Der Grund, warum sie so gut zu ihm passte, sollte ihm erst sehr viel später bewusst werden. Nach Abschluss der Schule verloren sich die beiden erst einmal aus den Augen. Der Anlass für ein Wiedersehen war ungewöhnlich: Ichikawa hatte seinen Stift in ihrem Unterschriftenalbum stecken lassen. Nach etwa einem halben Jahr meldete sich die Schulfreundin und fragte, ob er seinen Stift zurückhaben wolle. Man verabredete sich. Aus den ehemaligen Mitschülern wurde ein Liebes- und einige Jahre später ein Ehepaar. Hätte seine Frau nicht die Initiative ergriffen, wäre Ichikawa ihr wohlmöglich nie wieder begegnet.
Mit Unterstützung seiner Partnerin gelang es Ichikawa schließlich, sein Leben einigermaßen in den Griff zu bekommen und alltägliche Dinge – wie etwa die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln – zu bewältigen. Seine Ehefrau suchte ihm die Verbindungen heraus und schrieb sie so lange auf, bis er endlich eigenständig mit der Bahn fahren konnte. Auch in allen anderen Bereichen erfährt er ihre unendliche Unterstützung und Verständnis. Ohne seine Frau wäre seine Karriere sicherlich nicht möglich gewesen.
Die beiden sind übrigens stolze Eltern eines mittlerweile erwachsenen Sohnes, der ebenfalls vom Asperger-Syndrom betroffen ist. Da dieser aber im Gegensatz zu seinem Vater von Anfang an Unterstützung bekommen hat, ist er gut in seinem Freundeskreis integriert – sein Leben verlief reibungsloser und unproblematischer als das seines Vaters.
Ichikawas Werdegang
Nach Universitätsabschluss nahm Ichikawa eine Stelle in einem Steuerbüro an. Die Kollegen waren nachsichtig mit ihm. Der Arbeitsplatz war ideal für Ichikawa: Die Tätigkeit war sehr strukturiert und er hatte nur mit wenigen und immer den gleichen Kollegen zu tun. In seiner Freizeit begann Ichikawa Romane zu schreiben und sie später in einem Internet-Forum zu veröffentlichen. Sehr schnell entstand eine große begeisterte Fangemeinde. Und dann war es so weit: Ichikawa bekam ein Angebot eines Internetverlags, sein Werk „Separation“ als Buch zu veröffentlichen. Auf Anhieb landete er einen Bestseller. In der Anfangszeit schrieb er nach Feierabend. Nach 15 Jahren im Steuerbüro und ersten Erfolgen als Schriftsteller gab er die Festanstellung auf, um sich ganz auf seine Karriere zu konzentrieren.
Späte Diagnose
Erst nachdem ein Journalist ihn darauf hingewiesen hatte, dass er für Asperger-Autisten typische Wörter benutzen würde, ließ Ichikawa sich mit Anfang 40 untersuchen und bekam auf Anhieb die Diagnose. Endlich erfuhr er den Grund für seine Andersartigkeit und fühlte sich darüber sehr erleichtert.
Und das Ungewöhnliche: Die Frau des Autors ist ebenfalls vom Autismus betroffen. Ihr Vater selbst liegt weit im Spektrum. Da sie in ihrer Kindheit nicht wusste, dass er mit einer Störung lebt, empfand sie sein Verhalten nicht als abnormal. Dies war offensichtlich auch der Grund, dass sie bei ihrem Schulfreund Parallelen zu ihrem Vater entdeckte. Anders als ihre Mitschüler nahm sie ihn nicht als „Außerirdischen“ wahr, sondern lag mit ihm sofort auf einer Frequenz.
Seine Hippeligkeit, mit der er bereits seine Lehrer zur Weißglut brachte, hat Ichikawa bis heute nicht abgelegt – auch als Erwachsener verspürt er noch immer einen nicht zu bändigenden Bewegungsdrang. In seiner Jugend begann er deshalb mit dem Laufen. Oft übertrieb er es und brachte sich an seine physischen Grenzen. Bei einer Größe von 1,76 Metern schwankt sein Gewicht bei etwas mehr als 40 Kilo. Auch wenn er viel essen würde, würde er nicht zunehmen. Da er Allergiker ist, wird sein Wohlbefinden stark von seiner Ernährung beeinflusst. Es geht ihm besser, wenn er auf glutenhaltige Lebensmittel verzichtet – bewusste Ernährung ist Ichikawa deswegen sehr wichtig. Sein Schlafbedarf ist immer noch sehr gering. Manchmal ist er bis zu 30 Stunden wach.
Intention des Autors
Ichikawa spürt in sich ein unendliches Gefühl von Liebe, das er mit seinen Romanen nach außen tragen möchte, um die Welt ein Stück zu verbessern. Bei Gesprächen mit seinem Verleger Teruya Makino entstand die Idee, auch einmal über seine eigene Geschichte zu berichten: 2016 erschien im Asahi Shimbun Verlag das Buch „Die Entwicklungsstörung ist der Grund dafür, dass ich erfolgreich bin“. Das 260-seitige Werk hat der Autor in einem Guss – in nur zwei Wochen – niedergeschrieben. In seiner Biographie veranschaulicht er das Phänomen nicht nur auf verständliche Weise, sondern plaudert auch intime Details aus seinem Beziehungsleben aus. Darauf angesprochen, antwortet Ichikawa: „Wenn ich etwas anpacke, dann richtig. Ich will keine Informationen zurückhalten oder verfälschen. Das würde meinem Naturell als Autist widerstreben.“ Im März 2018 erschien eine Art Fortsetzung zu seiner Erstbiographie.
Bewusstes Outing
Der Schriftsteller möchte durch sein Outing mehr Bewusstsein für das Thema Autismus und mehr Akzeptanz für die Betroffenen in der Gesellschaft erreichen. Er selbst habe aufgrund seiner späten Diagnose einen langen Leidensweg zurückgelegt. Man sollte Autisten nicht als behinderte Menschen betrachten, sondern die Unterstützung darauf ausrichten, dass sie sich besser entfalten und ihr Potenzial voll nutzen können. Er selbst habe diese Hilfe von seiner Frau erhalten.
Und Ichikawa weiß aus eigener Erfahrung: Bei vielen Betroffenen erkannt man den Autismus gar nicht. Sie werden wegen ihres auffälligen Verhaltens oft von Mitmenschen ausgegrenzt. Diagnostiziert man Autisten, verpasst man ihnen den Stempel „behindert“. In der Tat verbergen sich oft Menschen unter ihnen, die zu Außergewöhnlichem fähig sind. Oft aber bleiben diese Talente unentdeckt, weil es an der nötigen Förderung mangelt. Diesen Missstand möchte Ichikawa aufdecken. Deshalb wünscht er sich, dass nicht nur seine Romane, sondern auch seine biographischen Bücher ins Englische und in andere Sprachen übersetzt würden. Sein Verlag zögert noch, weil die Verkaufszahlen der Biographien hinter denen seiner Romane liegen. Da der Autor bereits einen internationalen Bekanntheitsgrad genießt, könnte jedoch gerade er als Sprachrohr einen Beitrag dazu leisten, dass international mehr Verständnis für die Bedürfnisse von Menschen mit Autismus-Spektrum aufgebracht wird.
Auch Christine Izekis 13 Jahre alter Sohn ist vom Asperger-Autismus betroffen. Ihr ist es deswegen eine „Herzensangelegenheit, den Umgang mit Asperger-Autismus in Deutschland und in Japan miteinander zu vergleichen und so betroffenen Eltern zu helfen, offener damit umzugehen“.