Eine feingliedrige detailreiche Graphitzeichnung zeigt den Innenhof eines mehrstöckigen Hauses mit Graffitis an den Wänden und einer Eisentreppe, d...

Tim ter Wal, "Donkere Steeg" (2015). Tim ter Wal ist ein außergewöhnlicher autistischer Künstler mit fotografischem Gedächtnis. Seit seinem siebenten Lebensjahr interessiert er sich für städtische Landschaften.

aus Heft 2/2018 – Fachthema
Peter Schmidt

Meine Ordnung beherrscht das Chaos

Autisten haben wie andere Menschen auch nicht selten nützliche Talente. Autistische Menschen können sich zum Beispiel im Gegensatz zu Menschen mit einer reinen ADHS, die leicht ablenkbar sind, sehr ausdauernd auf eine Sache fokussieren. Doch nur den wenigsten Autisten gelingt es, ihre Kenntnisse und Stärken sowohl für die Gesellschaft als auch für sich selbst Nutzen bringend zu verwerten.

Wenn Abweichungen von haltgebenden Strukturen völlig unerwartet kommen, droht Chaos. Vor allem dann, wenn diese auf ein für Autisten unverständliches Verhalten anderer Menschen zurückzuführen sind. Da es im Leben „oft anders kommt, als man denkt“, habe ich im Laufe der Zeit, um darauf vorbereitet zu sein, meine „geplante Flexibilität“ entwickelt. Das sind abhängige Pläne A, B, C, D, E, F und ein „Worst-Case-Plan“, die meine gesammelten Lebenserfahrungen nutzen und mir bekannte alternative Entwicklungen einer Situation in einer Wenn-dann-sonst-Beziehung ins Kalkül ziehen.

Fremdbestimmung als Herausforderung

Um ein Versinken im Chaos zu verhindern, ist dafür zu sorgen, dass ich genügend Rückzugsmöglichkeiten zur Regeneration bekomme. Das gilt sowohl für das Privatleben als auch für den Arbeitsalltag. Während ich privat meine Zeit größtenteils selbst einteilen kann und Familienmitglieder auf meine speziellen Bedürfnisse zur Vermeidung von Chaos Rücksicht nehmen können, ist das im fremdbestimmten Berufsleben schon erheblich schwieriger. Hier gelingt mir das am besten, wenn es genug Pausen und Urlaub vom Arbeitsalltag gibt. Leider ist das für Autisten Überlebensnotwendige gleichzeitig etwas, das andere auch gerne hätten.

Dem Rollstuhlfahrer neidet niemand seine extra für ihn installierte Rampe. Aber dem Autisten wird mitunter geneidet, dass er mehr Urlaub, Pausen oder ein Einzelbüro bekommen soll. Autismus ist (leider) eine unsichtbare Behinderung. Diese Unsichtbarkeit manifestiert sich in einer Undeutbarkeit von Abweichungen im Verhalten. Die Unsichtbarkeit der Behinderung hat im Gegensatz zum Rollstuhlfahrer, dem unmittelbar anzusehen ist, was man von ihm nicht verlangen kann, bei Autisten zur Folge, dass man von ihnen Dinge verlangt, die „andere schließlich auch ertragen müssen“. So als würde man vom Rollstuhlfahrer verlangen, die Treppe raufzufahren! 

Pausen

Im Arbeitsalltag benötige ich Pausen, die nicht nur eine Unterbrechung der Arbeit sind, sondern die meinen Bedürfnissen entsprechend erholsam wirken. Das kann zum Beispiel eine Ablenkung am Schreibtisch sein, Sport im Fitness-Studio oder das Sein draußen in der Natur. Zur Hauptessenszeit mit dem Team in die Kantine zu gehen, wäre beispielsweise keine Pause in diesem Sinne. Ganz im Gegenteil, das wäre stressiges Chaos pur. So gehe ich entweder allein oder mit denen, die sich nach mir richten, fast zum Schluss der Mittagszeit zum Essen, weil ich dann weder stresssteigernde Schlangen noch einen deutlich erhöhten Lärmpegel habe. Nur kurz vor dem Ende der Kantinenzeit kann ich den Mittag beim Essen auch als Pause erleben.

Im Arbeitsalltag schützt mich die erworbene Fähigkeit, auch „Nein“ sagen zu können. So kann ich alle Aufgaben abwehren, die nicht den gesteckten Zielen dienen. Ich vermeide Chaos, indem ich den Weg zum Ziel selbst bestimme. Ich fokussiere mich auf das meiner Ansicht nach Relevante. In der ersten Kaffeepause eines Arbeitstages strukturiere ich den Tag in dringend und wichtige zu erledigende Aufgaben. Ein wenig Puffer für ungeplante Dinge schützt mich vor der drohenden chaotischen Überlastung. Denn bei aller fachlicher Kompetenz ist es mir nicht möglich, mehrere Dinge gleichzeitig zu bearbeiten: einem Skype-Meeting am Telefon zu folgen, einem Menschen eine kurze Frage zu beantworten, der kurz ins Büro eintritt, nebenbei noch einige Mails zu beantworten und am besten noch an einer Präsentation basteln oder einen Text zu verfassen.

Äußere Reize minimieren

Dazu gehört für mich zuallererst das Einzelbüro. Ein besonders störender Reiz ist für mich stets unerwarteter Kontaktalarm. Ich hasse es, mitten in einer konzentrationsintensiven Arbeit angerufen oder per Chat kontaktiert zu werden. Um das zu verhindern, gehe ich selten ans Handy und habe die Kollegen praktisch dazu gebracht, mir E-Mails zu schreiben. 

Grundsätzlich erleben Autisten eine andere Form von Chaos als Menschen mit einer ADHS. Während das Chaos eines ADHSlers eher darauf zurückzuführen ist, dass er sich in der Flut der zu erledigenden Aufgaben verzettelt, weil er zu unstrukturiert vorgeht und von allem ein wenig, aber nichts wirklich tiefgründig leichtfertig machen kann, entsteht das Chaos bei einem Autisten zum einen dann, wenn er mit der Kommunikation überfordert ist, und zum anderen, wenn von ihm erwartet wird, sich um mehrere Dinge innerhalb kürzester Zeit gleichzeitig zu kümmern. Ein Autist ist in der Regel nicht multitaskingfähig. Eine zu große Aufgabenflut stellt selbst gesteckte Strukturen in Frage, was bei einem Autisten für existenziellen Stress sorgt, der sich in Chaos manifestiert.

Für Autisten mündet eine unkontrollierbare Überlastung in Overloads, Meltdowns oder Shutdowns, um sich vor einem eskalierenden Chaos zu schützen. Eine ganz andere Form von Chaos droht, wenn Eltern zum Beispiel von mir verlangt hätten: „Bevor du draußen spielen gehst, hast du erst die Hausaufgaben zu machen!“ Denn sie hätten mir den nach der Schule so dringend benötigten Rückzug nicht erlaubt und mir obendrein noch gezeigt, dass sie mich nicht akzeptieren können und wollen, so wie ich bin.

Konkurrierende Sehnsüchte bestimmen mein Leben. Nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in der Partnerschaft und Familie sowie beim Reisen. Das Chaos lauert immer und überall auf Reisen. Ich bin gerne auf den Straßen der Welt unterwegs. Ein Handicap muss kein Hindernis sein, seinen Sehnsüchten zu folgen.

 

Peter Schmidt, Dr. 

Dr. Peter Schmidt ist Diplom-Geophysiker, SAP-Experte, Autor und Referent. Im Alter von 41 Jahren fand er – ohne danach zu suchen – heraus, dass er Autist ist. Auf die Frage an Fachärzte, ob das denn stimme, hieß es, bei ihm sei Autismus in Form des Asperger-Syndroms geradezu klassisch ausgeprägt, völlig untypisch dagegen sei das, was er damit aus seinem Leben gemacht habe. Trotz seiner Hochbegabung in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften ist ihm menschliche Kommunikation oft ein Rätsel. 

Einblick in Schmidts Leben mit Autismus geben seine drei autobiografischen Bücher: Den Weg zu seiner eigenen Familie, wie er als Autist die Liebe erlebt, das stellt Peter in seinem ersten Buch, „Ein Kaktus zum Valentinstag – Ein Autist und die Liebe“ dar. Es ist die Geschichte einer nicht alltäglichen Liebesbeziehung, in der das Leben und Lieben in einer Asperger-Partnerschaft und die Facetten von Autismus im Erwachsenenalter mehr als deutlich werden. Den Weg von der Geburt bis zum Abitur, wie er als Autist seine frühe Kindheit, seine Jugend- und Schulzeit erlebt, das ist der Inhalt seines zweiten Buchs „Der Junge vom Saturn – Wie ein autistisches Kind die Welt sieht“. Sein Berufsleben und wie er als Autist die Arbeitswelt erlebt, das zeigt sein drittes Buch: „Kein Anschluss unter diesem Kollegen – Ein Autist im Job“. 

Peter Schmidt fühlt sich seit frühester Kindheit unter Menschen nicht richtig heimisch. Denn sie verständigten sich jenseits der nackten Worte auf eine Weise, die er nie wirklich verstand. Erst mit der Diagnose hatte sein bizarres Verhalten und die geheimnisvolle Mauer, die ihn umgibt, tatsächlich ein und denselben Namen: Autismus.

Einblicke in seine Welt mit Autismus gibt Schmidt auf seiner Homepage: „Zeitlebens habe ich versucht, eine gesunde Balance zwischen dem Ausleben eigener Kultur und Persönlichkeit einerseits und der erfolgreichen Teilhabe an der Gesellschaft andererseits zu halten. … Niemand ahnte, was in mir vorging. Ich bin hochbegabt und habe hochfunktionalen Autismus mit einem ausgeprägten Asperger-Syndrom. Mimik und non-verbale Signale sind intuitiv für mich nicht lesbar, den darauf fußenden sozialen Umgang muss ich allein rational steuern, was nicht immer einfach war und ist. Insofern stehen meine Kenntnisse und Begabungen immer wieder im Schatten des Autismus, der natürlich den zwischenmenschlichen Umgang prägt. … Es besteht offenbar noch großer Aufklärungsbedarf in der Gesellschaft, damit Menschen wie ich auch ihrem Potenzial entsprechende Entwicklungschancen bekommen. Leider werden andersartige Menschen eher als Störung wahrgenommen, weil sie nicht ohne Weiteres austauschbar und führbar sind. Daher wünsche ich mir, dass meine Art der Wahrnehmung wieder als Bereicherung und Chance in der Gesellschaft erkannt wird, denn das würde die Gesellschaft und mich noch weiterbringen! Darüber würde ich mich mehr denn je sehr freuen.“

Als Autor von Büchern, durch Beiträge im Fernsehen sowie durch viele Vorträge zum Thema Autismus wurde Schmidt inzwischen auch über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt.

 

Bücher von Peter Schmidt:

• Ein Kaktus zum Valentinstag – Ein Autist und die Liebe. Ostfildern: Patmos, 2012.

• Der Junge vom Saturn – Wie ein autistisches Kind die Welt sieht. Ostfildern: Patmos, 2013.

• Kein Anschluss unter diesem Kollegen – Ein Autist im Job. Ostfildern: Patmos, 2014.

• Der Straßensammler – Die unglaublichen Erlebnisse eines autistischen Weltreisenden. Ostfildern: Patmos. 2016.

 (Rezension Seite 80)

 

Das Buch „Ein Kaktus zum Valentinstag“ erreichte Platz 19 auf der Spiegel-Bestsellerliste.

 

Website: www.dr-peter-schmidt.de

E-Mail: dr.peter.schmidt@t-online.de