Emotionale Entwicklung als Schlüssel zum Verständnis von Verhalten bei Personen mit geistiger Behinderung
Eine geistige Behinderung umfasst nicht nur rein kognitive Kompetenzen, auch die sozio-emotionale Entwicklung kann im Rahmen der veränderten Funktionsweise des Gehirns beeinträchtigt sein. Dieser Artikel stellt den emotionalen Entwicklungsansatz, seine Bedeutung für das beobachtbare Verhalten sowie die praktische Relevanz in der Therapie und Förderplanung dar – vor allem, wenn herausfordernde Verhaltensweisen auftreten.
Der emotionale Entwicklungsansatz
Der emotionale Entwicklungsansatz wird im Sinne des dynamischen Modells von Anton Došen konzeptualisiert (Došen 2005; Greenspan 1979; Izard et al. 2006; Sroufe 2009). Dabei dienen die Meilensteine der emotionalen Entwicklung von Heranwachsenden als Modell für im Entwicklungsverlauf beobachtbare, qualitative Änderungen emotionaler Kompetenzen (Sappok et al. 2014). Der emotionale Entwicklungsansatz bezieht nicht nur rein emotionale, sondern auch sensomotorische, soziale und kognitive Aspekte mit ein, die in ihrer Gesamtheit das emotionale Funktionsniveau einer Person ausmachen. „Objektpermanenz“ hat z. B. einen Bezug zu kognitiven, „Umgang mit Material“ zu sensomotorischen, und „Umgang mit Bezugspersonen“ oder „Umgang mit Gleichrangigen“ zu sozialen Aspekten der Entwicklung. Diese unterschiedlichen Komponenten interagieren und stimulieren sich gegenseitig und führen so zu einer weiteren Reifung der Persönlichkeit und optimalen Anpassung an die Umgebung.
Während Neugeborene schon eine Reihe von einfachen Emotionen zeigen, wahrnehmen und entsprechend reagieren, ist die emotionale Antwort innerhalb des ersten Lebensjahres zunehmend durch den Interaktionspartner modulierbar (Bertin & Striano 2006; Stern 2007). Um das zweite Lebensjahr herum können im Kontext von „geteilter Aufmerksamkeit“ emotionale Zustände mit Anderen geteilt werden (Kasari et al. 1990; Trevarthen 1980). Allmählich wird die emotionale Antwort komplexer. Um das dritte Lebensjahr herum kann die emotionale Befindlichkeit des Gegenübers z. B. durch provokantes oder kooperatives Verhalten bewusst manipuliert werden (Jackson & Tisak 2001). Vorschulkinder können ihre eigenen affektiven Zustände differenzieren und beginnend regulieren und haben basale Einblicke in die Ursachen und Konsequenzen von Gefühlen. Weitere Fortschritte der Empathiefähigkeit, des pro-sozialen Verhaltens und der Gewissensbildung werden im Grundschulalter beobachtet (Rieffe et al. 2005). Diese altersangemessenen Veränderungen der emotionalen Entwicklung bilden die Basis für ein Selbstkonzept und die Ausbildung der Persönlichkeitsstrukturen (Došen 1997).
Der emotionale Reifungsprozess ist das Produkt aus zahlreichen inneren – genetisch und hirnmorphologisch determinierten – und äußeren Umgebungsfaktoren. Neuroanatomisch sind die Funktionen des „emotionalen Gehirns“ im sogenannten limbischen System lokalisiert, das umfassend z. B. im Buch „Wie das Gehirn die Seele macht“ von Gerhard Roth und Nicole Strüber beschrieben wird (2014). In der unteren limbischen Ebene (Hypothalamus, zentrale Amygdala, vegetative Hirnstammzentren, periventrikuläres Höhlengrau) werden vegetative und basale Funktionen für das Überleben (Essen, Reproduktion, Fluchtreaktionen) gesteuert; in der mittleren limbischen Ebene (basolaterale Amygdala, Tegmentum, Nucleus accumbens, Basalganglien) findet die emotionale Konditionierung im Rahmen frühkindlicher Bindungserfahrungen statt. Der Heranwachsende lernt im interaktiven Kontakt mit den nächsten Bezugspersonen eigene, aber auch fremde Gefühle wahrzunehmen, zu differenzieren und zu verstehen (Kernberg 2012). Dieser Bereich ist entscheidend für die nonverbale Kommunikation, das innere Belohnungssystem und damit die Verhaltensmotivation. Die obere limbische Ebene (assoziativer Neokortex, v. a. orbitofrontaler, ventromedialer präfontaler, anteriorer zingulärer und insulärer Kortex) ist verantwortlich für bewusste Gefühle, Sozialisation und soziale Motivation. Hier werden Fähigkeiten wie Impulskontrolle, Belohnungsaufschub, Frustrationstoleranz, Empathie und Abwägen der Konsequenzen des eigenen Handelns gesteuert. Dadurch können Risiken realistisch eingeschätzt und das Handeln bewusst gesteuert werden. Diese Kernkompetenzen bilden sich im Kontakt mit dem weiteren sozialen Umfeld – also Freunden, Schulkameraden, weiteren Familienangehörige etc. – aus. Umgebungsfaktoren und die sensorische Wahrnehmung der Umgebung beeinflussen die emotionale Reaktivität und die zur Verfügung stehenden Emotionsregulationsstrategien (Aldao & Nolen-Hoeksema 2012). Die verschiedenen vegetativen, sensorischen, motorischen und kognitiven Funktionen haben im Zusammenspiel mit Umgebungsfaktoren einen Einfluss auf die Entwicklung des sogenannten emotionalen Gehirns und damit auf instinktive Überlebensreaktionen und Temperament, die Emotionsregulation und -steuerung sowie die soziale Angepasstheit einer Person. Je nach emotionalem Entwicklungsstand unterscheiden sich nicht nur die emotionalen Grundbedürfnisse, sondern auch die Verhaltensmotivation, die Selbstregulationsstrategien und damit die soziale Adaptionsfähigkeit. Personen mit einer geistigen Behinderung durchlaufen grundsätzlich dieselben Meilensteine der emotionalen Entwicklung, das Risiko für eine Entwicklungsverzögerung oder eine unvollständige Entwicklung ist jedoch erhöht (Greenspan 1997; Hodapp & Zigler 1995). Die Kenntnis des emotionalen Entwicklungsstands ist wichtig, da damit Einblicke in das innere Erleben, die Handlungsmotive und die individuell zur Verfügung stehenden Verhaltensstrategien gegeben werden.
Das Missing Link: Die Schwere von Verhaltensstörungen hängt vom emotionalen Entwicklungsstand ab
Menschen mit einer geistigen Behinderung werden häufiger psychisch krank oder zeigen herausfordernde Verhaltensweisen (Cooper et al. 2007), wobei die Schwere der Verhaltensstörung vom Schweregrad der geistigen Behinderung abhängt (Tsakanikos et al. 2007; McCarthy et al. 2010). Trotz der hohen Korrelation von kognitivem und emotionalem Funktionsniveau konnten neuere Studien zeigen, dass nicht der Schweregrad der kognitiven Beeinträchtigung, sondern letztlich der emotionale Entwicklungsstand ausschlaggebend ist für die Schwere der Verhaltensstörung („The missing link“: Sappok et al. 2014). Gegenwärtig ist die funktionale Verhaltensanalyse die Basisdiagnostik, um ein Verständnis für die äußeren Ursachen von Verhaltensstörungen zu gewinnen (Beail 2003). Die Erhebung und Berücksichtigung des emotionalen Entwicklungsstands können dazu beitragen, die personenimmanenten Mechanismen zur Entstehung von Verhaltensstörungen besser zu verstehen (Begeer et al. 2008; Sappok et al. 2014). Die mit einem bestimmten emotionalen Referenzalter verbundenen Grundbedürfnisse wie z. B. nach körperlichem Wohlbefinden im Säuglingsalter, nach Sicherheit in der Fremdelphase oder nach Autonomie in der sogenannten Trotzphase sind entscheidend für die Motivation, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, z. B. Unruhe bei körperlichem Unwohlsein, Weinen bei Trennung von einer engen Bezugsperson, oder Wut bei Nichterfüllung des eigenen Willens (Sappok et al. 2010). Aber auch die Kompetenzen einer Person z. B. in Bezug auf die Affektregulation, die Mentalisierungsfähigkeit (die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen/Perspektivwechsel), oder Objektpermanenz (Wissen, dass etwas da ist, auch wenn man es gerade nicht sieht) variieren in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand (Baillargeon 2004; Wimmer & Perner 1983). Daher resultiert aus dem jeweiligen Stand der emotionalen Entwicklung ein entsprechendes adaptives bzw. maladaptives Verhaltensmuster, das sich im Entwicklungsverlauf ändert und weiterentwickelt.
Die Feststellung des aktuellen emotionalen Funktionsniveaus kann Betreuende unterstützen, die Erwartungen individuell anzupassen und Interventionen entsprechend einzusetzen (vgl. dazu auch die umfassende Darstellung in Sappok & Zepperitz: Das Alter der Gefühle 2016). Der Einsatz von Tokensystemen (Belohnungssystemen) ist z. B. erst dann sinnvoll, wenn die Fähigkeit zum Herstellen von Kausalverknüpfungen und logischem Denken besteht. Die Zeitspanne bis zum Einsatz der Belohnung hängt vom Zeitverständnis und der Fähigkeit zum Belohnungsaufschub ab. Sie ist z. B. nicht in einem frühen Entwicklungsalter gegeben, in dem eine Person „im Hier und Jetzt“ lebt (Säuglingsalter, SEO-1, vgl. unten und Fallbeispiel). Ein anderes Bespiel ist das „Time-out“ zur Selbstberuhigung, das erst eingesetzt werden sollte, wenn Objektpermanenz vorhanden ist, da die Affekte davor extern-interpersonell reguliert werden und ein „Time-out“ unter Umständen sogar traumatisierend (im Sinne von Verlassen-Werden) wirken kann. Die Abstimmung der eigenen Haltung und Erwartungen auf die emotionalen Grundbedürfnisse einer Person kann daher herausfordernde Verhaltensweisen reduzieren und andere Maßnahmen wie z. B. die funktionale Verhaltensanalyse sinnvoll ergänzen. Die Berücksichtigung der Grundbedürfnisse und des emotionalen Funktionsniveaus kann durch eine bessere Passform mit der Umwelt das Wohlbefinden einer Person weiter steigern, eine persönliche Weiterentwicklung stimulieren und die adaptiven Fähigkeiten verbessern.
Feststellung des emotionalen Entwicklungsstands
Ausgangspunkt für die Arbeit mit dem emotionalen Entwicklungsansatz ist die Kenntnis des emotionalen Entwicklungsstands, der separat, unabhängig vom biologischen oder kognitiven Alter z. B. im Rahmen eines semistrukturierten Interviews mit dem Schema der emotionalen Entwicklung (nl.: Ontwikkeling; SEO) von Anton Došen (2005) erhoben werden kann. Entsprechend dem kognitiven Referenzalter einer geistigen Behinderung (leichte Intelligenzminderung: 9–12 Jahre) kann eine von fünf Entwicklungsphasen zwischen 0 und 12 Jahren zugeordnet werden. Im Bewusstsein, dass Entwicklung letztlich ein kontinuierlicher Prozess ist und bestimmte Entwicklungsaspekte wie Bindung über viele Entwicklungsphasen hinweg entstehen, werden die Meilensteine der emotionalen Entwicklung in diesem Modell wie folgt festgelegt:
SEO-1: 0–6 Monate (erste Adaption) – Homöostase; Integration von inneren (sensorischen) Stimuli wie Darmtätigkeit und Körpertemperatur und äußeren (Nah-)Reizen wie Geräusche, Berührungen, etc.
SEO-2: 6–17 Monate (erste Sozialisation) – Bindung; emotionale Sicherheit; Vertrauen.
SEO-3: 18–35 Monate (Individuation) – Selbst-Fremd-Unterscheidung; Autonomie; Objektpermanenz; Trennung von nächsten Bezugspersonen.
SEO-4: 3–7 Jahre (Identifikation) – Ich-Bildung; Ich-zentrierte Weltsicht; Identifikation mit Rollenmodellen; beginnendes abstraktes Denken und Fähigkeit zum Perspektivwechsel („Theory of Mind“); Entwicklung von sozialen Fähigkeiten; Lernen durch Erfahrung.
SEO-5: 8–12 Jahre (beginnendes Realitätsbewusstsein) – Reflektiertes Denken; beginnende Gewissensbildung und moralisches Denken; Selbstbewusstsein; logisches Denken.
Die Skala zeigt eine gute Interrater Reliability (kappa = .75), interne Konsistenz (Cronbach’s alpha = .96) und konvergente Validität mit der Vineland Adaptive Behavior Scales (r = .51, p < .002; La Malfa et al. 2009). Aufgrund von Einschränkungen in der testpsychometrischen Überprüfbarkeit wurde das Schema in einem multizentrischen, internationalen Projekt, der NEED-Gruppe (Network of Europeans on Emotional Development) zur Skala der emotionalen Entwicklung – Diagnostik (SEED; engl: Scale of Emotional Development – Short: SED-S; Sappok et al. 2016; Sappok et al. im Druck) weiterentwickelt. Diese Skala besteht aus 200 binären (Ja-Nein) Items, die den emotionalen Entwicklungsstand entsprechend dem o. g. Phasenmodell (Referenzalter: 0–12 Jahre) in nunmehr acht Entwicklungsdomänen beschreiben: Umgang mit dem eigenen Körper; Umgang mit Bezugspersonen; Umgang mit Umgebungsveränderung – Objektpermanenz; Emotionsdifferenzierung; Umgang mit Peers (Gleichrangigen); Umgang mit der materiellen Welt; Kommunikation; Affektregulation. In einer Stichprobe aus 160 typisch entwickelten Kindern zeigte die SEED eine exakte Übereinstimmung mit dem chronologischen Alter der Kinder von 77 % und eine relative Übereinstimmung (quadratic weighted kappa) von κ = 92 % (Sappok et al. in Vorbereitung). Weitere testpsychometrische Untersuchungen der SEED finden ggw. in den verschiedenen Studienzentren der NEED Gruppe statt. Der SEED befindet sich ggw. im Druck und wird voraussichtlich im Frühjahr 2018 im Hogrefe Verlag erscheinen.
Praktische Umsetzung im pädagogischen Alltag
Die Erhebung des emotionalen Entwicklungsstandes mit dem Schema der Emotionalen Entwicklung (SEO; Došen 2015) bzw. der Skala der emotionalen Entwicklung-Diagnostik (SEED; Sappok et al. 2016; Sappok et al. im Druck) ist ein Prozess der Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen des Menschen, der eine Diskussion um die daraus folgenden pädagogischen Interventionen einschließt. Nutzt man die Instrumente in einem multiprofessionellen Team mit Menschen, die ihn oder sie im Alltag begleiten, steht nicht allein die Diagnostik im Vordergrund, wie es im rein klinischen Setting der Fall ist. Sollte der entwicklungspsychologische Ansatz im Alltag als Grundlage für die Erstellung pädagogischer Konzepte in der Einrichtung eingesetzt werden, hat es sich bewährt, den Mitarbeitenden in einer Einführungsveranstaltung das Konzept des Ansatzes vorab zu vermitteln.
Wir empfehlen, den Interviewleitfaden im Rahmen einer strukturierten Fallbesprechung anzuwenden. Hierzu werden zunächst Ort und Zeit festgelegt, in dem die Erhebung stattfinden soll. Nach unseren Erfahrungen ist ein Zeitfenster von 1,5 bis 2 Stunden erforderlich, um zu einem Ergebnis zu kommen und Schlussfolgerungen für den Alltag zu erarbeiten. Die Teilnehmer einer solchen Runde sollten den betreffenden Menschen aus dem Alltag gut kennen. Für eine lebhafte Diskussion ist auch die Teilnahme von Therapeuten oder Mitarbeitenden aus tagesstrukturierenden Angeboten sinnvoll, die aus ihrem jeweiligen Kontext die Sicht auf den Menschen ergänzen. Jedem Teilnehmenden sollte ein Interviewleitfaden vorliegen, um gemeinsam eine Einordnung der Items diskutieren zu können. Die beschriebenen Items pro Entwicklungsphase und -bereich sind Beispiele typischen Verhaltens, die sich an den Entwicklungsmeilensteinen von Kindern orientieren, im Erwachsenenbereich bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung jedoch ebenfalls beobachtet werden können. Während der Erhebung mit den vertrauten Bezugspersonen des Klienten wird das beschriebene Verhaltens durch einen Experten für Entwicklungspsychologie eingeordnet, in der Regel eine psychologische, pädagogische oder medizinische Fachkraft, die sich vertiefend mit dem Ansatz beschäftigt hat. Es ist von Vorteil, wenn der Interviewende den Aufbau des Interviewleitfadens und die entwicklungspsychologischen Grundlagen kennt. Darüber hinaus gelingt eine Einschätzung natürlich besser, wenn der Interviewende den Menschen selbst gut kennt oder zumindest ein Video von ihm gesehen hat, in dem das Verhalten in verschiedenen Kontexten zu beobachten ist. Der Experte hat die Aufgabe, das Verhaltens vor dem entwicklungspsychologischen Hintergrund korrekt einzuordnen und die Diskussion immer wieder auf den jeweiligen Entwicklungsbereich zu fokussieren. Dabei wird das Verhalten des zu Untersuchenden in verschiedenen alltäglichen Situationen, z. B. beim Essen, Waschen oder Anziehen, in der Interaktion mit wichtigen Bezugspersonen, in der Interaktion mit Gleichrangigen und im Umgang mit Gegenständen/Materialien beurteilt. Bei der Einordnung des Verhaltens in eine Entwicklungsphase ist darauf zu achten, nicht die rein funktionale Fähigkeit, sondern die emotionale Komponente zu berücksichtigen. Malt jemand z. B. nur auf Aufforderung und ohne Freude und eigenes Interesse ihm angebotene Bilder aus (Bereich „Umgang mit Material“), sitzt ansonsten jedoch eher passiv am Tisch, dann ist diese Fähigkeit zwar kognitiv antrainiert, wird aber nicht emotional eigenmotiviert durchgeführt. Es wird z. B. keine Freude oder Stolz bei der Tätigkeit gezeigt. Auf Grund der fehlenden emotionalen Komponente sollte dieses Verhalten daher nicht in Phase 4, sondern ggf. sogar in Phase 1 (kein Interesse an Materialien) gewertet werden. Dies ist z. B. häufig bei Menschen mit Autismus zu beobachten. Sollte anhand der Items keine Einigung erzielt werden können, kann ggf. anhand der im Manual des SEED mit ausgegebenen „Meilensteine der emotionalen Entwicklung“ das gezeigte Verhalten in eine Entwicklungsphase eingeordnet werden. Im Ergebnis erhält man einen Gesamtwert sowie ein individuelles Profil in den 8 (SEED) bzw. 10 (SEO) Entwicklungsbereichen. Die gemeinsame Einordnung des Verhaltens und das resultierende Ergebnis bieten dann die Basis, pädagogische Interventionen im Alltag zu erarbeiten. Hierfür ist es sinnvoll, im Vorfeld pädagogische Fragestellungen zu formulieren, die im Fokus stehen sollten. Im folgenden Fallbeispiel wurde z. B. die Frage formuliert: Wie gehen wir im Alltag mit dem lauten Schreien der Klientin um?
Fallbeispiel zu Phase 1, erste Adaption, emotionales Referenzalter: 0–6 Monate
Frau Kaiser (Anmerkung: Name geändert) ist eine 35-jährige Frau mit einer schwersten intellektuellen Beeinträchtigung und frühkindlichem Autismus. Sie schreit laut, häufig schon nach dem Aufwachen, aber auch zu anderen Tageszeiten. Frau Kaiser sitzt meist im Aufenthaltsraum und beobachtet das Geschehen, nimmt jedoch keinerlei Kontakt zu Patienten oder Begleitern auf. Oft liegt sie mit dem Kopf auf dem Tisch und schlummert vor sich hin. Aus eigenem Antrieb und mit sichtlichem Wohlgefühl beschäftigt sie sich mit dem Blättern von Katalogen und Zeitschriften.
Die Fragestellungen der Begleiter bezogen sich darauf, welche Gründe das Schreien hat und wie man im Alltag damit umgehen kann, da sich das Verhalten negativ auf das Leben in der Wohngruppe auswirkte. Aufgrund der massiven Lautstärke des Schreiens fühlten sich andere Bewohner derart gestört, dass für Frau Kaiser die Gefahr drohte, den Wohnheimplatz zu verlieren. In der gemeinsamen Diskussion wurde das Verhalten und die Bedürfnisse, die Frau Kaiser zeigt, entsprechend der Entwicklungsphase 1 (Adaption, Referenzalter 0–6 Monate) eingeschätzt. Vorbereitend für die Fallbesprechung wurden von den Begleitern im Alltag ein Verhaltensbeobachtungsbogen geführt. Hier wurde sichtbar, dass das Schreien von Frau Kaiser nach dem Essen nicht auftrat. Auch wurde deutlich, dass sie unruhiger wurde und vermehrt schrie, wenn viele Menschen im Raum waren.
Auf dem Entwicklungsstand der Phase 1 steht zunächst das Bedürfnis nach körperlichem und seelischem Wohlbefinden im Vordergrund. Nehmen wir dieses Bedürfnis ernst und verstehen, dass in diesem Entwicklungsalter darüber hinaus die Verarbeitung von Reizen eine Leistung an sich darstellt, muss der Ablauf des Alltags für Frau Kaiser verändert werden. Dabei ist das fehlende Zeitkonzept und die Notwendigkeit der externen Affektregulation zu berücksichtigen: Wenn Frau Kaiser schreit, muss möglichst zeitnah überprüft werden, welche Grundbedürfnisse nicht versorgt sind. Hat sie Hunger und beruhigt sie sich, wenn sie eine Kleinigkeit zu Essen bekommt? Dann erhält sie dies – unabhängig von Essenzeiten. Braucht sie neues Inkontinenzmaterial? Dann wird dieses umgehend, möglichst ohne Wartezeit, gewechselt. Wird es zu laut im Aufenthaltsraum, weil andere Patienten fernsehen, wird sie in ihr Zimmer und ggf. auf ihr Bett geleitet. Beruhigt sie sich durch Streicheln des Rückens oder durch Baden, erhält sie Körperkontakt und andere Angebote der basalen Stimulation.
Vielleicht werden Sie als Lesender denken, dass das doch sehr einfach erscheint. Unsere Erfahrungen aus solchen Fallbesprechungen zeigen aber, dass gerade diese einfach erscheinenden Veränderungen im Umgang viele Diskussionen nach sich ziehen: „Wird sie übergewichtig, wenn sie so oft etwas zu essen bekommt?“ „Sie muss lernen, sich an Regeln und Zeiten zu halten, wir essen in der Gruppe und Mittag ist um 12.00 Uhr!“ „Der Körperkontakt ist mir zu nah, sie ist doch erwachsen und kein Kind mehr!“ Mit dem Erkennen und Ernstnehmen der Bedürfnisse dieser Frau, mit dem Überdenken institutioneller Regeln und Abläufe und dem Angebot professionell gestalteter körperlicher Nähe konnte in diesem Fall sogenanntes auffälliges Verhalten reduziert und subjektives Wohlbefinden gesteigert werden. Die „Verhaltensauffälligkeit“ des lauten Schreiens ist somit vor dem entwicklungspsychologischen Hintergrund gar keine Verhaltensauffälligkeit im eigentlichen Sinne, sondern ein angemessener Ausdruck ihrer Bedürfnisse.
Zusammenfassung
Mit dem Ansatz der emotionalen Entwicklung in der Begleitung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung können Verhaltensauffälligkeiten erklärt und durch abgestimmte Betreuungskonzepte reduziert werden. Der Ansatz ist integrativ anwendbar und kann andere Konzepte (z. B. traumaspezifische Begleitung, basale Stimulation, personenzentrierter Ansatz) ergänzen. Grundvoraussetzung bei der Anwendung im Erwachsenenbereich ist die Akzeptanz der Annahme, dass auch Erwachsene kindliche Bedürfnisse haben dürfen. Die Gefahr der „Infantilisierung“ erwachsener Menschen ist eine ernstzunehmende Kritik (Theunissen 2005) und sollte stets durch die offene Diskussion um größtmögliche Autonomie und Selbstbestimmung begleitet werden. So ist im beschriebenen Fallbeispiel einem Betreuungssetting Vorrang zu geben, das flexibel und zeitnah auf die individuellen Bedürfnisse eingehen kann, ohne institutionelle Regeln (z. B. Essen in der Gruppe zu vorgegebener Uhrzeit) oder gesellschaftliche Zuschreibungen (z. B. Körperkontakt im Erwachsenenbereich ist unangemessen) in den Vordergrund zu stellen.
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Tanja Sappok, Priv.-Doz. Dr.
FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie, FÄ für Neurologie, FÄ für Nervenheilkunde – Zusatzbezeichnung Psychotherapie. Leitende Ärztin des Berliner Behandlungszentrums für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung und der psychiatrischen Institutsambulanz, Bereich: Geistige Behinderung, Abteilung Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. President Elect der European Association for Mental Health in Intellectual Disability (EAMHID)
Sabine Zepperitz
Dipl. Pädagogin, Systemische Therapeutin, Traumafachberaterin. S. Zepperitz ist als pädagogische Fachanleitung am Berliner Behandlungszentrum für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen am Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge tätig. Sie arbeitet hier vorrangig mit Menschen mit mittelgradiger bis schwerster Intelligenzminderung. S. Zepperitz bietet darüber hinaus für Menschen mit leichter Intelligenzminderung pädagogisch-therapeutische Hilfe mit systemischem Ansatz in eigener Praxis an. Beratungsschwerpunkte sind Konfliktlösung, Krisenintervention und Traumaberatung. Sie ist seit vielen Jahren in Fortbildungen und Teamberatungen in der Behindertenhilfe tätig.