Kloster Schwanberg oder Joseph III. auf Kur
Am Fuß der Koralpe, im Tal der Schwarzen Sulm, sitzt auf einem hohen Fels das Kloster Schwanberg über dem gleichnamigen Marktflecken, der sich touristisch der Vermarktung eines Hochmoors verschrieben hat. Der Dozent hatte seinen Freund Groll aber nicht des Moors wegen ins Schilcherland gelotst. Auch das Heilfasten war Herrn Grolls Sache nicht, seine Hoffnungen richteten sich auf die Bekanntschaft mit einem Sulmtaler Paradehuhn, goldgelb paniert, daneben sollte ein frischer Häuptelsalat seine Aufwartung machen, der mit einer Gallone Kernöl abgemischt sein müsste. Was an Öl übrig blieb, würde Herr Groll seinem Gefährten Joseph III. kredenzen, dessen Steckachsen Anzeichen von eklatantem Ölmangel aufwiesen. Eine ausgiebige Kernöl-Anwendung würde sie wieder stärken. Auf diese Weise würde Herr Groll drei Fliegen mit einer Klappe schlagen; Josephs Lauf würde beschleunigt, was wiederum Grolls Arme und Schultern entlasten würde und schließlich würde das Sulmtaler Backhuhn auch Herrn Grolls Gemüt auf Trab bringen.
So dachte Herr Groll, hütete sich aber, diese Überlegungen auch vor dem Dozenten auszubreiten. Der nämlich hatte für lukullische Freuden keinen Kopf, düstere Gedanken, die um die Geschichte der furchterregend hohen Klosterfestung kreisten, hatten sich in seinem Kopf eingenistet. Ursprünglich eine Burg der Saurauer und Liechtensteiner, habe das Land Steiermark im Jahr 1892 das Kloster erworben und dasselbe bis ins Jahr 2015 als Heim für chronisch Kranke betrieben, berichtete er. „Wer da oben einsaß, war von der Welt geschieden, wie Napoleon auf St. Helena, oder, um einen Vergleich in unseren Breiten zu bemühen, wie ein Häftling im gefürchteten Völkergefängnis des Habsburgerreichs, auf der Festung Spielberg zu Brünn, die ebenfalls hoch oben auf einem Berg über Mährens Hauptstadt liegt.“ Während er sprach, quälte Herr Groll seinen altersschwachen Renault Fünf die Bergstraße unter Motorklingeln und mit jeder Menge Fehlzündungen zum Kloster hinauf. Im Wald zweigten sie ab und nahmen eine Stichstraße. Der trutzige Bau war nur über eine steile Brücke zu betreten, die über einen mittelalterlichen Burggraben geschlagen worden war. Der Dozent machte sich zu einem Rundgang um die verschlossene Anstalt auf, Herr Groll blieb in seinem Wagen. Bei der Beschaffenheit des Geländes hatte es keinen Sinn, Joseph zusammenzubauen, bergauf wäre Groll keine drei Meter gekommen und bergab hätte die beiden eine Sturzfahrt erwartet. „Gehbehinderte Personen haben hier keine Chance auf ein Entkommen“, sprach Herr Groll zu seinem Rollstuhl. „Ich habe neulich ein Foto gesehen, das verwahrloste und verstörte behinderte Buben in Netzbetten zeigte, ein Bild himmelschreienden Elends, wie man es von rumänischen Behindertenheimen kennt. Aber das Bild stammte nicht aus Rumänien, lieber Joseph, auch nicht aus Nazideutschland, es stammte aus der Steiermark, und zwar aus einem Behindertenheim in Kainbach bei Graz und es datierte nicht aus den Zeiten des Faschismus, sondern aus dem Jahr 1980!*
Der Dozent kehrte von seinem Rundgang zurück. Er war einsilbig und wirkte bedrückt. Als sie in den Ort zurückfuhren, berichtete der Dozent von einer kürzlich veröffentlichten Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie, die erstmals umfassend Gewalt und Missbrauch in der österreichischen Behindertenhilfe aufarbeite. Seit 2012 würde auch die Volksanwaltschaft tätig. Das öffentliche Echo auf die zu Tage getretenen Verfehlungen sei laut und kurz gewesen, von der Politik habe es mildes Desinteresse gegeben, die Heimbetreiber aber hätten mit rüder Abwiegelung und Klagsdrohungen reagiert.
„Die Sache hat noch eine letzte Spitze: Unter den Anstalten, die für die gröbsten Verstöße gegen die Menschenwürde verantwortlich zeichnen, befinden sich viele, die hochdekoriert mit Anerkennungspreisen von Kirchen und Bundesländern in den heimischen Fluren herumstehen und selbst in jenen Heimen, in denen der schlimmste Missbrauch gegen die Menschenwürde abgestellt wurde, finden sich in den offiziellen Heimchroniken, wie sie auf den Homepages nachzulesen sind, ausnahmslos nur Erfolgslitaneien. Nirgendwo ein Wort der Scham und des Eingeständnisses schwerer Vergehen. Auf diese Weise wird die Wirklichkeit, der die bemitleidenswerten Insassen dieser Heime ausgesetzt waren, geleugnet und die Opfer noch im Tod drangsaliert und ausgelöscht.“
Die beiden fuhren ein paar Minuten schweigend, bis der Dozent kurz vor Deutschlandsberg fragte, ob Herr Groll Hunger verspüre.
* Petra Flieger, Bizeps Newsletter, 20.8.2017
Bereits 1980 hat die Zeitschrift Behinderte Menschen (02/1980) diese Missstände in Kainbach aufgedeckt. Es folgte internationales Medienecho, die Konsequenzen vor Ort waren aber dürftig (Anm. der Redaktion).