Bildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
Die Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (SFgE), so die gängige Bezeichnung in den meisten deutschen Bundesländern, hat es sich zwar – wie aus der Bezeichnung hervorgeht – programmatisch zur Aufgabe gemacht, vor allem die geistige (kognitive) Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit erheblichen und umfassenden Lerneinschränkungen und Beeinträchtigungen zu entwickeln, sie ist aber dennoch eine allgemeinbildende Schule. Und in solchen (wie auch im Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung losgelöst vom Ort der Beschulung) geht es immer und vor allem und um nichts anderes als um Bildung (Fischer 2008).
Rückblick
Dass es auch für Schüler im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung primär darum geht bzw. gehen muss, ist leider nicht selbstverständlich und muss in den aktuellen bildungspolitischen Diskussionen immer wieder betont werden, denn Kindern und Jugendlichen mit einer sogenannten geistigen Behinderung ist schulische Bildung lange Zeit verwehrt, und ein Recht darauf erst Anfang der 1960er Jahre umfassender eingeräumt worden (vgl. hierzu auch Thümmel 2003). Und auch nach den Gründungen von Sonderschulen (für Geistigbehinderte) ging es keineswegs immer nur um eine grundlegende und im Sinne Klafkis kategoriale Bildung (1957; 1959; 2007), sondern vielmehr um Förderung, angesichts von offensichtlichen und damit diagnostizierten Schwächen in den Bereichen Wahrnehmung, Bewegung, Kognition, Kommunikation und Sprache. In erster Linie standen funktionsbezogene Lernfelder (mit Klafkis Worten formale Gegenstandsbereiche) im Vordergrund und das große Feld der lebenspraktischen Erziehung wurde erschlossen (Speck 2016; Schäfer 2017a).
Ausgeschlossen waren auch zunächst Schüler mit schweren und mehrfachen Beeinträchtigungen, die erst mit der Etablierung besonderer heilpädagogischer Ansätze in das Unterrichtsgeschehen einbezogen werden konnten: Basale Stimulation, Pflege, Kommunikation, Aktivierung, heilpädagogische Übungsbehandlung und verschiedene Therapieformen wie Ergo- und Physiotherapie führten zu konkreten Inhalten für diesen Personenkreis (Lamers/Heinen 2006) und ermöglichten ihnen erstmals unterrichtliche Teilhabe.
Bildung
Was aber meint Bildung eigentlich? Und wie können dahingehende Perspektiven, Antworten und methodische Einschätzungen der Erziehungswissenschaft (bspw. Andresen 2009; Oelkers 2009) und der Allgemeinen Didaktik (Zierer 2012) auch in der SFgE bzw. in inklusiv ausgerichteten Lernorten realisiert werden?
Ganz allgemein heißt es im Brockhaus, Bildung sei „… bewusste, planmäßige Entwicklung der natürlich vorhandenen geistigen und körperlichen Anlagen des Menschen. Auch der durch diese Entwicklung erreichte Zustand wird Bildung genannt…“ (www.brockhaus.de). Hilfreicher als solche populärwissenschaftlichen Aussagen erscheinen jedoch Studien und Erkenntnisse ausgewiesener Bildungsexperten. In der Schulpädagogik und Allgemeinen Didaktik setzte sich vor allem Wolfgang Klafki schon in den 1950er Jahren mit Grundfragen des Verständnisses und dem Stellenwert von allgemeiner Bildung auseinander und stellte der bildungstheoretischen Tradition Erich Wenigers folgend in seinem Konzept einer kategorialen Bildung zwei Seiten heraus: eine subjektive, formale Seite und eine objektive, inhaltliche Seite (1959, S. 410ff.).
Klafki betont hier, dass es keinesfalls nur um die Ausbildung formaler Funktionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten gehen dürfe, sondern vielmehr immer auch um die inhaltliche Erschließung von Welt, und dies in einem wechselseitigen bzw. doppelseitigen Verhältnis: „Bildung ist Erschlossensein einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für einen Menschen – das ist der objektive oder materiale Aspekt; aber das heißt zugleich Erschlossensein dieses Menschen für diese seine Wirklichkeit – das ist der subjektive oder formale Aspekt zugleich im ‚funktionalen‘ wie im ‚methodischen‘ Sinne. Entsprechendes gilt für Bildung als Vorgang [als Prozess]: Bildung ist der Inbegriff von Vorgängen, in denen sich die Inhalte einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit ‚erschließen‘, und dieser Vorgang ist – von der anderen Seite her gesehen – nichts anderes als das Sich-Erschließen bzw. Erschlossenwerden eines Menschen für jene Inhalte und ihren Zusammenhang als Wirklichkeit“ (Klafki 1959, S. 410).
Abb. 1: Kategoriale Bildung bei Klafki (Abbildung aus Fischer 2008, S. 44; nachgesetzt in Zeitschrift Behinderte Menschen)
Um die grundlegenden Ziele einer Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit zu verwirklichen (Abb. 2), hat Klafki in seinen Studien hin zur kritisch-konstruktiven Didaktik (zuletzt 2007) zudem einen Katalog von sogenannten Schlüsselproblemen aufgestellt. Diese benennen „grundlegende Probleme der Menschheit in einer bestimmten Epoche als konkreten, für den Unterricht verbindlichen Rahmen, innerhalb diesem die Entscheidungen über die Themen, Gegenstände und Verfahren in die Hände der Lehrer und Schüler gelegt“ werden (Klafki 2007, S. 77). Von zentraler Bedeutung sind für ihn acht Schlüsselprobleme, die „epochaltypisch“ aber zwangsläufig einer ständigen Veränderung unterliegen (müssen) und insofern unvollständig und stets ergänzungsbedürftig bleiben werden. Zudem wendet sich Klafki (2007, 141ff.) gegen eine einseitige, ausschließlich auf den Intellekt ausgerichtete Geistesbildung und fordert vielmehr „Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Fähigkeiten“ (ebd.).
Abb. 2: Grundlegende Ziele (Abbildung aus Jank/Meyer 2009, S. 229; nachgesetzt in Zeitschrift Behinderte Menschen)
Auch der Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig (1985; 1999) stellte in seinem „Plädoyer für die Wiederherstellung der Aufklärung“ mit dem Ziel, „Die Menschen [zu] stärken, die Sachen [zu] klären“ (1985, S. 1) heraus, dass es beim Begriff der Bildung um mehr gehen müsse als um bloßes akademisches oder enzyklopädisches Wissen und dass der Schüler mehr sein müsse als ein „wandelndes Lexikon“. Vielmehr gehe es um einen Vorgang, der sich von innen vollziehen muss, um Selbst-Bildung, um die Ausbildung formaler Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auch Werthaltungen, emotionale und soziale Einstellungen wie „Abscheu und Abkehr von Unmenschlichkeit, Wahrnehmung von Glück, die Fähigkeit und der Wille sich zu verständigen, ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz, Wachheit für die letzte Frage oder die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica [also der Republik]“ (von Hentig 1999, S. 73) beinhalten.
Bildungsgerechtigkeit
Kritische Stimmen weisen (zunehmend) auf die „Zweckorientierung und Parzellierung der Bildungsprozesse“ (zuletzt Kron 2001, S. 79) hin, Adorno (1973) fasste seine Kritik mit dem Begriff der „Halbbildung“ zusammen (ebd., S. 168) und der österreichische Philosoph Liessmann (2016) spricht von der „Praxis der Unbildung“ (inklusive dahingehender kritischer Ausführungen zu sogenannten Bildungsexperten im Kontext Inklusion). Mögliche Folgen von Ökonomie und Effizienz nannte außerdem Horkheimer (1981), wenn er auf den Mangel an politischen, künstlerischen und ästhetischen Erfahrungen in Schule (und damit Bildung) hindeutete (S. 107ff.).
Bildung vollzieht sich demnach auch immer in politischen Abhängigkeiten und möchte zugleich (und deshalb) auf mögliche Formen von Ungerechtigkeit hinweisen (Andresen 2009, S. 84ff.; Oelkers 2006, S. 238ff.; im Kontext Inklusion auch Speck 2011). Aus den Erfahrungen hinsichtlich Ökonomisierung und Effizienz von Schule und Bildung ist demnach ein kritischer Blick zu richten auf die aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen hinsichtlich des grundsätzlichen und individualpädagogisch ausgerichteten Bildungsrechts und der Qualität von Schule und Unterricht für Schüler im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.
Bildung für Schüler im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
Bildungsprozessen im o.g. (kategorialen) Sinne wurden in der schulischen Geistigbehindertenpädagogik lange Zeit wenig und ungenügend Beachtung geschenkt. Eine Diskussion darüber wurde u. a. durch eine Fachtagung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg im Oktober 2002 entfacht, die in Anlehnung an Comenius unter dem Motto stand, alle Schüler alles umfänglich zu lehren (Klauß/Lamers 2003; Lamers/Klauß 2003). Nicht zuletzt führten solche Impulse in der Geistigbehindertenpädagogik auch dazu, nach einem erweiterten Begriffsverständnis von Bildung zu suchen, das allen Menschen – mit ganz unterschiedlichen Ausgangslagen, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten – gerecht werden kann.
Während heutzutage ein vom humanistischen Bildungsideal geprägtes Bild vom Menschen diesem den Anspruch zuweist, sich nicht mehr instrumentalisieren zu lassen, sondern sich im Sinne Kants von jeglicher Unmündigkeit befreien zu können, scheint dieser Ruf nach „selbst bestimmter Bildung“ vor allem bei Menschen mit schweren Beeinträchtigungen immer wieder an seine Grenzen zu stoßen. Fornefeld (2003) spricht davon, dass es heute zu einer „Überbetonung der Rationalität einerseits und der Verobjektivierung des Körpers andererseits“ komme (ebd., S. 260), die den Menschen als Person allgemein, besonders aber den Menschen mit geistiger Behinderung verschwinden lasse und stattdessen ausschließlich seine kognitiven Leistungen in den Vordergrund stellen würde.
Und Stinkes (1999) macht in ihrem Beitrag „Auf der Suche nach einem veränderten Bildungsbegriff“ deutlich, dass Bildung auch dahingehend nicht so einfach zu initiieren ist, weil sie auf Mitmenschen angewiesen ist, sich vor allem in „gemeinsam geteilten Situationen“ ereignet. Bildung wird dann zu einem „gemeinsam geteilten, intersubjektiven Lebenszusammenhang“ (Stinkes 1999, S. 80), ermöglicht durch die Verantwortung und Nähe für den Anderen (vgl. hierzu auch die Arbeiten zum Leitprinzip der Selbstbestimmung im Kontext Sozialität in Schäfer 2017a). Insofern sich Bildung, phänomenologisch betrachtet, zwischen (mindestens) zwei Menschen vollzieht, ist sie keine reine Selbstbildung, aber auch keine Fremdbildung. „Bildung ist das, was zwischen beiden entsteht. Sie ergibt sich aus der Verbundenheit zwischen Menschen“ (Fornefeld 2003, S. 85).
Auch hier wird deutlich, dass Bildung weit mehr ausmacht als reine Wissensvermittlung – Art und Form des zwischenmenschlichen Umgangs weisen und prägen somit den Weg der Bildung. Für heilpädagogische Fragestellungen und Aufgaben bedeutet dies, dass die Qualität der Beziehung wie auch der Lehre und Art der Unterstützung des einzelnen Schülers für dessen Bildungsprozess sehr wichtig ist, da hier diejenigen Angebote gemacht – oder aber verwehrt – werden, die über Lernen und Konstruktion von Wirklichkeit entscheiden. Vor allem Schüler mit Beeinträchtigungen sind auf lern- und entwicklungsförderliche zwischenmenschliche Beziehungen und Hilfen angewiesen, da ihnen häufig ein selbstständiger Zugang zur Welt und all ihren Bildungsgütern verwehrt wird (Schäfer 2017b).
Aus dieser Betonung eines Primats von Bildung im Sinne eines gegenseitigen Erschließens inhaltsbezogener (materialer) und funktionsbezogener (formaler) Gegenstandsbereiche kann nicht gefolgert werden, dass es in der Schule und im Unterricht nicht auch um Erziehung geht (Speck 2016, S. 177ff.), wie auch um Förderung und auch in begründeten Situationen um therapeutische Angebote und Maßnahmen (Fischer 2016, S. 97ff.). Förderangebote und therapeutische Maßnahmen dienen in diesem Zusammenhang der Überwindung und Kompensation von funktionellen Einschränkungen und sollen günstige Voraussetzungen für Bildungsprozesse schaffen. Sie sind damit zeitlich begrenzt und obliegen interdisziplinärer Reflexion (zur umfassenden Bestimmung und Abgrenzung vgl. Kobi 1978 und 1990). Einen engen Zusammenhang gibt es sicherlich zur Aufgabe und zum Prozess der Erziehung, verstanden nach Kobi (1993) als „ein wertbestimmtes und wertvermittelndes Geschehen innerhalb menschlicher Lebensverhältnisse, vollzogen in interpersonal gestalteten Beziehungs-, Lebens- und Daseinsformen“ (ebd., S. 71ff.).
Ziele von Bildung
Grundlegende Ziele von Bildung und Erziehung für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung unterscheiden sich zunächst nicht von denen anderer Schulen. Zumindest die übergreifenden (Leit-)Ziele sind identisch, nämlich das einer personal-sozialen Integration (vgl. Speck 2016, S. 193ff.). Der Begriff Integration bezieht sich auf die im vorhergehenden Kapitel thematisierte Notwendigkeit, dass Wissen und zu vermittelnde Kompetenzen nicht isoliert, sondern sinnvoll miteinander in Verbindung stehen sollten, in Zusammenhang gebracht und in das physische und psychische System der Persönlichkeit eingebunden werden müssen.
Das Personale bezieht sich dabei eher auf Kompetenzen, die es dem Menschen ermöglichen, sich selbst zu verwirklichen, das eigene Selbst und die eigene Identität zu entwickeln und für sich Sinn, Wirklichkeit und Lebenszutrauen zu erschließen. Soziale Integration als Ergänzung zur personalen Integration ergibt sich für Speck (2016) aus der Eingebundenheit des Menschen in eine Umwelt, die nicht nur aus Dingen und Sachverhalten, sondern vor allem auch aus anderen Menschen und Beziehungen besteht und aus dem Erfordernis, sich mit diesen über Sprache oder andere Kommunikationsmittel zu verständigen und aktiv auseinanderzusetzen (ebd., S. 199). Aus einer anderen Perspektive heraus macht Klauß (2010, S. 103) das Dialogische in diesem Kontext deutlich, wenn er hinsichtlich des disziplinären Leitziels der Selbstbestimmung die zugleich im Bildungs- und Erziehungsprozess notwendige Fremdbestimmung im Spannungsverhältnis Educans und Educandus erkennt (vgl. ausführlich Schäfer 2017a, S. 306f.).
Dieses Verhältnis von zugleich personalen und sozialen Momenten wurde für den schulischen Bereich der Geistigbehindertenpädagogik bereits vor vielen Jahren thematisiert. So auch in den „Empfehlungen für den Unterricht in der Schule für Geistigbehinderte (KMK 1979), wenn dort von „Selbstverwirklichung in sozialer Integration“ die Rede ist. Dabei wurden die folgenden „Lebensbereiche“ unterschieden:
Erfahren der eigenen Person und Aufbau eines Lebenszutrauens
Selbstversorgen und Beitragen zur eigenen Existenzsicherung
Zurechtfinden und angemessenes Erleben in der Umwelt
Orientieren in sozialen Bezügen und Mitwirken bei ihrer Gestaltung
Erkennen und Gestalten der Sachumwelt (ebd., S. 7).
Es ergeben sich nun unterschiedliche Möglichkeiten, das Richtziel personale und soziale Integration (Selbstverwirklichung in sozialer Integration) näher zu untergliedern. Zum einen inhaltlich bezüglich zu beschreibender Funktionsbereiche, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie im Hinblick auf Lern- und Lebensfelder und zum anderen im Hinblick auf unterschiedliche Differenzierungsebenen, da Ziele auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus bestimmt werden können. Sie reichen (hier bsph. bezogen auf die Zielstellung „Gesellschaftsspiele als Freizeitmöglichkeit kennen und spielen lernen“) von
langfristigen, allgemeinen Zielen (bspw. Einfühlungsvermögen entwickeln), über
mittelfristige, sogenannte Grobziele innerhalb einer Unterrichtsreihe (bspw. auf Interessen von Mitspielern Rücksicht nehmen) bis hin zu
kurzfristigen, spezifischen und konkretisierten Teilzielen innerhalb einer Unterrichtssequenz (bspw. Reihenfolgen abwarten).
Inhalte von Bildung
Inhalte von Bildung und Erziehung folgen den ihnen übergeordneten Lernzielsetzungen und orientieren sich u. a. an den für ein Bundesland gültigen Lehrplänen. Diese unterscheiden sich von Plänen anderer allgemeinbildender Schulen nicht in den wesentlichen Zielstellungen, wohl aber in der Differenzierung der Inhalte und im Umfang und in der Qualität der diesen zugeordneten methodischen Hinweisen und Zugangsweisen. Zudem gibt es Schwerpunktsetzungen vor allem für Schüler mit schweren Beeinträchtigungen (vgl. ISB 2010, S. 64ff.; Schäfer 2017b) und Verhaltensstörungen (vgl. ISB 2014, S. 142ff.).
Bei der Bestimmung von Bildungsinhalten geht es um die Frage, was Schüler im Unterricht lernen sollen, was sie erleben und über die Welt erfahren sollten, sodass die oben beschriebenen Ziele von Bildung wie Selbstverwirklichung, Mitbestimmung und personale und soziale Teilhabe schrittweise verwirklicht werden und so eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zunehmend gelingen kann. Prinzipiell hat es sich als günstig erwiesen, Inhalte vor allem an solchen Lebensfeldern auszurichten, die für die Schüler bedeutsam und die für ihre gegenwärtige und zukünftige Partizipation am gesellschaftlichen Leben relevant sind.
In seinen aktuellen Untersuchungen der Lehrpläne der Bundesländer in Deutschland konnte Schäfer (2017a) in Anlehnung an die theoretischen und operativen Grundlagen Klafkis (2007) außerdem die Bedeutsamkeit einer schuleigenen Curriculumentwicklung herausarbeiten. Die damit verbundenen Kompetenzen vor Ort ermöglichen es der Einzelschule, regionale, strukturelle, konfessionelle, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte konkret zu berücksichtigen und im Sinne einer bildungstheoretisch ausgerichteten Didaktik curriculare Vorgaben im Kontext der Bildungspläne zu entwerfen. Eine (grafische) Übersicht bietet die nachstehende Abb. 3 sowie der Beitrag von Schäfer in diesem Heft auf S. 18.
Abb. 3: Faktorenmodell zur schuleigenen Curriculumentwicklung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (Schäfer 2017a, S. 90)
Disziplinäre Verantwortung
Mitunter bedingt durch den (nicht originär pädagogischen) Terminus der Förderung (Straßmeier 2008), den bereits der Deutsche Bildungsrat 1973 mit seinen Empfehlungen „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ etablierte (Riegert/Musenberg 2010, S. 28), bezogen sich alle weiteren Ausführungen und Entwicklungen (KMK 1994; 1998) verbunden mit der Gefahr der intentionalen Vernachlässigung von Bildung und Erziehung bei gleichzeitiger Bewahrung defizit- und kompensationsorientierten Denkens auf diesen Terminus (Förderschwerpunkt, Förderbedarf, Förderung, Förderschule, u. a.) (vgl. hierzu Dreher et al. 2000, S. 293, zitiert in Bernasconi/Böing 2015, S. 130), statt den Fokus auf die Bildung zu richten.
Erst langsam fanden eine bildungstheoretische Annäherung und eine Offenheit auch gegenüber den Fachdidaktiken statt (Ackermann 1990; Klauß/Lamers 2003; Fischer 2008; Musenberg/Riegert 2010; Ratz 2011), was es aus einer sozusagen disziplinären Verantwortung heraus fortzuführen und zu intensivieren gilt. Lenzen nannte dies 1990 die „Heilpädagogische Anwaltschaft für sogenannte Geistigbehinderte“ (ebd., S. 346) und sprach bereits hier vom „Recht auf Bildung“ und „Recht auf Arbeit“ (ebd.).
Gerade im Zusammenhang mit inklusiven Entwicklungen sind sowohl Chancen als auch Herausforderungen gleichermaßen mit folgenden Thesen zu nennen:
Die Geistigbehindertenpädagogik versteht sich im Kontext Bildung voraussetzungslos als eine Pädagogik für alle Schüler im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.
Curriculare und konzeptionelle Entwicklungen mit dem Bemühen um Standardisierung, Qualitätssicherung und Evaluation beziehen sich auf den Input und den Prozess. In Anlehnung an Musenberg et al. (2008) und Fischer (2011) wird eine Orientierung am Output ausgeschlossen.
Die Annäherung an die Didaktiken der Fächer (bspw. Mathematik, Deutsch, u. a.) führt zu einem fachlichen Anschluss bei gleichzeitiger Berücksichtigung der beeinträchtigungsbedingten Herausforderungen und Grenzen auf der Basis differenzierter Diagnostik und Förderplanung.
Dahingehende Planungen nehmen grundsätzliche Aspekte der Berufsorientierung und Lebensplanung in den Blick und bieten damit für alle Schüler im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (auch zur Vorbeugung offensichtlicher Exklusionsrisiken) nachschulische Anschlussmöglichkeiten (1) bei entsprechender Eignung auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt, (2) in einer Werkstatt für beeinträchtigte Menschen (WfbM) oder (3) bei Bedarf von Pflege und tagesstrukturierenden Angeboten die Eingliederung in einer Tagesförderstätte (TAF).
Gleichermaßen ist dringend ein Augenmerk zu richten auf bewahrenswerte und für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung bedeutsame (zumeist funktionsbezogene) Handlungsfelder wie der Bereich der lebenspraktischen Bildung, basale Angebote, Therapie und Pflege, Mobilität, u. a. m.
Damit erfordert Bildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung für Schule (konzeptionell) und Unterricht (individualpädagogisch) das dialogische Entwickeln eines konkreten, entwicklungsgemäßen und altersgerechten Lernplans, „der innerhalb der Balance von (Nah)Welt erschließenden, inhaltsbezogenen (materialen), und an Kompetenzen orientierten funktionsbezogenen (formalen) Gegenstandsbereichen im ganzheitlich auf Sozialität fokussierenden Unterricht kategoriale Wirkung entfaltet“ (Schäfer 2017b) (Abb. 3).
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Erhard Fischer, Prof. Dr. phil. habil.
Lehrstuhl für Sonderpädagogik IV, Pädagogik bei geistiger Behinderung. Prof. Fischer lehrt seit 2001 an der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität Würzburg und forscht zu folgenden Schwerpunkten: Bildung, Erziehung und Unterricht bei geistiger, mehrfacher und schwerer Behinderung; Autismus-Spektrum-Störungen, berufliche Bildung und Arbeit; Inklusion und Schulentwicklung.
erhard.fischer@uni-wuerzburg.de
Holger Schäfer, Dr. phil.
Förderschulrektor und Schulleiter der Rosenberg-Schule in Bernkastel-Kues (SFgE und Stammschule für Beratung), Beiratsmitglied und Mitherausgeber der Fachzeitschrift Lernen konkret im Westermann-Verlag Braunschweig, langjährige Lehrbeauftragung in der Fachrichtung Geistigbehindertenpädagogik am Studienseminar Neuwied.