Behinderte Heimopfer – die Geschichte wiederholt sich
Seit 2010 wird in Österreich der sogenannte Heimskandal aufgearbeitet. Tausende Kinder wurden in der Nachkriegszeit in staatlichen, kirchlichen sowie privaten Einrichtungen zu Opfern von Missbrauch und Misshandlungen. Auch Menschen mit Behinderung waren davon betroffen. Doch sie haben es besonders schwer, Ansprüche geltend zu machen, wie ein Fall aus Tirol zeigt.
Im Frühjahr 2012, vor über fünf Jahren, berichtete dieses Magazin über die bekannt gewordenen Übergriffe auf Kinder im Sozialen Zentrum St. Josef in Mils. Diese Tiroler Behinderteneinrichtung des Ordens der Barmherzigen Schwestern stand schon 1980 im Fokus, als sich die damals junge Pflegerin Brigitte Wanker an die Öffentlichkeit wandte. Sie hatte an ihrem Arbeitsplatz beobachten müssen, wie Kinder wiederholt misshandelt und gequält wurden. Die Ordensschwestern erwiesen sich als wenig zimperlich gegenüber ihren Schützlingen: Schläge, Erniedrigungen und körperliche Züchtigung standen an der Tagesordnung. Die 22-jährige Hilfspflegerin war schockiert über die unverhohlene Brutalität und hat begonnen, Tagebuch zu führen. Akribisch notierte sie die Übergriffe der Ordensschwestern. Von Schlägen mit dem „Pragger“ bis Blut fließt, über nächtliches Aussperren auf den Balkon bei klirrender Kälte, über den willkürlichen Einsatz von Zwangsjacken, bis hin zum erzwungenen Aufessen von Erbrochenem reichte die Palette an Grausamkeiten.
In den 1980er-Jahren war die Reaktion auf Wankers Veröffentlichung die, dass die junge Frau ihren Job verlor und man ihr drohte, sie werde auch nie wieder einen im Land Tirol erhalten, sollte sie die Vorwürfe nicht zurücknehmen. 30 Jahre später, im Jahr 2011, befasste sich die Staatsanwaltschaft mit dem Fall. Wie Unterlagen zeigen, die der Zeitschrift Behinderte Menschen vorliegen, sind die Namen der damaligen Opfer und was ihnen konkret angetan wurde, bekannt. Sogar eine der Täterinnen, eine Nonne des Ordens, hat die Übergriffe gegenüber der Staatsanwaltschaft bestätigt. Doch auch 2011 passiert wieder nichts, denn die Taten sind verjährt.
Unzulänglicher Opferschutz
Ein altbekanntes Problem. Die strafrechtliche Aufarbeitung des Heimskandals ist wegen der juristischen Verjährung kaum möglich. Solange Staat und Kirche nicht auf diese Verjährungsfrist verzichten, wird sich das auch nicht ändern. Um das zu kompensieren, hat man sich unter den Verantwortlichen der, in diesem Zusammenhang als solche zu benennenden, Täterorganisationen darauf verständigt, den tausenden ehemaligen Opfern finanzielle Entschädigungen für das erlittene Leid zukommen zu lassen sowie Mittel für Therapien bereitzustellen. Die Zuteilung erfolgt über die diversen Opferschutzkommissionen, die von den Ländern, den Diözesen und teils Kommunen eingerichtet wurden.
Darüber hinaus trat am 1. Juli 2017 das Heimopfergesetz (HOG) in Kraft, das den ehemaligen Betroffenen mit Erreichen des Pensionsantrittsalters eine monatliche Pauschalrente von 300 Euro zusichert. Voraussetzung, um anspruchsberechtigt zu sein, ist die Entschädigung durch eine der genannten Kommissionen. Doch auch Opfer, denen diese nicht zuteilwurde, können um die Rente ansuchen. Dazu wurde eigens bei der Volksanwaltschaft eine neue Kommission eingerichtet, die Fälle prüft, die von anderen Kommissionen abgelehnt wurden oder bislang eben keine Kompensationsleistungen erhalten haben. Der dafür zuständige Volksanwalt Günther Kräuter engagiert sich mit großem Einsatz für die Opfer und will nach eigenem Bekunden dafür sorgen, dass nun auch jene entschädigt werden, die bislang „vergessen“ wurden. Kräuter spricht von bis zu 10.000 Fällen, die noch zu erwarten seien.
Der Volksanwalt weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass vor allem Menschen mit Behinderung schlechter gestellt sind. Denn im neuen Heimopfergesetz werden sie klar benachteiligt. Kräuter sieht dringenden Reformbedarf gegeben, um hier allen Betroffenen zu ihrem Recht verhelfen zu können. Konkret geht es um die Altersschranke, wie er erklärt. So müssten behinderte Menschen davon ausgenommen werden, erst mit Erreichen des gesetzlichen Pensionsalters anspruchsberechtigt zu sein. Denn viele werden aufgrund ihrer Erkrankung nicht so alt. Kräuter will diese Reformvorschläge der neuen Bundesregierung vorlegen, sobald sich diese konstituiert hat.
Reformen für Entschädigung
Im Fall der Opfer von Mils zeigt sich, wie dringend es diese Reformen braucht, um Entschädigungsansprüche geltend machen zu können. Denn eine Recherche zu den seit 2011 namentlich bekannten Opfern hat ergeben, dass bis heute nur ein einziger Fall aus dem Heim der Barmherzigen Schwestern vor der kirchlichen Klasnic Kommission landete. Er sei jedoch als „minder schwer“ beurteilt worden, es wurde keine Entschädigung zuerkannt, aber Therapieleistungen übernommen. Nachfragen bei den Kommissionen des Landes Tirol und der Diözese Innsbruck haben gezeigt, dass keine weiteren Fälle aus Mils gemeldet wurden. Die Betroffenen müssten selbst tätig werden und sich bei den Kommissionen melden, was den meisten aber nicht möglich ist, da sie aufgrund ihres Zustandes nicht dazu in der Lage sind. Der Großteil steht unter Sachwalterschaft. Die heutige Heimleitung und der Orden sprechen nur ungern über das Thema. Die Anfrage, ob und wie viele ehemalige Kinder der Einrichtung entschädigt wurden, wird mit einem lapidaren „Ansprüche der Opfer wurden von der Opferschutzkommission behandelt und die Opfer entsprechend entschädigt“ beantwortet. Nachfragen, wie viele Opfer und von welcher Kommission, blieben unbeantwortet. Man mauert und schweigt. Selbst Brigitte Wanker, die junge Pflegerin, die die Vorwürfe 1980 erstmals aufgebracht hat, wird bis heute als Verräterin angesehen. Sie bemühte sich 2012 um ein Aussöhnungsgespräch mit der Kirche. Der damalige Tiroler Bischof Manfred Scheuer und Generalvikar Jakob Bürgler erklärten sich dazu gerne bereit. Nur ein Stuhl blieb bei diesem Treffen leer, erinnert sich Wanker: „Die Generaloberin der Barmherzigen Schwestern verweigerte die Teilnahme.“ Bischof Scheuer habe sich darüber sichtlich entsetzt und berührt gezeigt, sagt Wanker. „Der Bischof musste mir von der Generaloberin ausrichten, dass sie sich weigere, mit mir an einem Tisch Platz zu nehmen.“ Scheuer und Bürgler bedauerten dies glaubhaft, hätten aber keinerlei Handhabe gegen dieses Verhalten, wurde Wanker erklärt.
Diese strikte Dialogverweigerung ist ein spezifisches Problem von Frauenorden, wie auch Historiker Horst Schreiber, der den Heimskandal als erster wissenschaftlich aufgearbeitet hat, sagt. Aus unerfindlichen Gründen lehnen diese Orden jedes Gespräch über die einstigen Untaten in ihren Einrichtungen ab. Anstatt eine Systemkritik zu akzeptieren, um sich mit den strukturellen Missständen zu befassen, die solchen Übergriffen erst den Boden bereitet haben, versuche man, die Schuld zu individualisieren, wie Schreiber erklärt. Das zeigt auch das Beispiel in Mils. 2011 schickte der Orden eine einzelne Schwester vor, um sich den Vorwürfen bei der Staatsanwaltschaft zu stellen. Eine Frau, die zu den Tatzeitpunkten selbst noch eine junge Nonne war.
Die Weigerung, sich mit den strukturellen Ursachen auseinanderzusetzen ist jedoch gefährlich. Denn gerade im Bereich der Heimunterbringung von Menschen mit Behinderung liegt noch vieles im Argen. Das zeigen die jährlichen Berichte der Volksanwaltschaft, die seit 2012 mit dem Mandat betraut ist, stichprobenartige Überprüfungen von Heimen in ganz Österreich durchzuführen. Dabei treten regelmäßig schwere Missstände zutage, wie etwa der aktuelle Fall des Konradinums in Salzburg zeigt. Dort wurden 2016 untragbare Zustände aufgedeckt, die offenbar bis heute anhalten, wie jüngste Presseberichte darlegen.
Ehrliche Aufarbeitung notwendig
Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Volker Schönwiese fordert daher ein neues Prozedere bei der Entschädigung von Heimopfern mit Behinderung: „Man müsste einen Weg finden, dass diese Personen automatisch anspruchsberechtigt sind, wenn nachweisbar ist, dass ihnen etwas zugestoßen ist.“ In Mils wäre genau das der Fall. Die Namen der Opfer und die Taten wurden von der Staatsanwaltschaft dokumentiert. Doch das derzeitige Vorgehen, bei dem sich die Betroffenen selbst an die Kommissionen wenden müssen, beschneide die Rechte jener, die dazu nicht selbst in der Lage sind, sagt Schönwiese. Hier wären auch die ehemaligen Heimträger gefragt, die Zugang zu den Daten hätten. Denn seitens des Vertretungsnetzes der Sachwalter heißt es zu dieser Thematik, dass man gerne bereit sei, den Klienten zu ihrem Recht zu verhelfen. Allerdings scheitere man meist am Datenschutz oder eben mangelnden Informationen.
Derzeit sind rund 13.000 Menschen mit Behinderung in Österreich stationär untergebracht. „Das ist eine große Gruppe von Personen, die leicht vergessen wird“, sagt Schönwiese. Wie die jährlichen Kontrollen der Volksanwaltschaft zeigen, bestehen in diesen Heimen nach wie vor viele strukturelle Missstände. Dieselben Missstände haben schon vor Jahrzehnten dazu geführt, dass Übergriffe, wie sie in Mils passiert sind, überhaupt stattfinden konnten. Da ist zum Beispiel die Gewinnorientierung. Denn die Heimpflege ist für die Träger seit jeher ein lukratives Geschäft. Das war auch mit ein Grund für die Übergriffe in der Vergangenheit, wie Historiker Schreiber erklärt: „Das Land hat die Aufgabe kostensparend an die Orden ausgelagert. Die haben damit ein Geschäft gemacht, indem beim Personal gespart wurde.“ Man setzte junge Nonnen ein, ohne Erfahrung und kaum ausgebildet. In einem Tiroler Heim wurden gar Zöglinge damit beauftragt, behinderte Kinder zu beaufsichtigen, was zu schrecklichen Übergriffen geführt hat. Dasselbe Problem herrscht noch heute vor: Man spart vor allem beim Personal, während die Infrastruktur meist tadellos ist, wie es seitens der Sachwalter heißt. Um für die Zukunft zu verhindern, dass sich diese Geschichte wiederholt, müsse eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit passieren, fordert Historiker Schreiber. Der erste Schritt dazu wäre, die Opfer endlich als solche anzuerkennen und sich aktiv mit Wiedergutmachung und den Gründen, die zu den Übergriffen geführt haben, auseinanderzusetzen. Das würde auch bedeuten, Schuld einzugestehen und auf die Betroffenen zuzugehen, anstatt sie aufzufordern, von sich aus tätig zu werden.