Schulinklusion in Südtirol – Die schwierige Praxis gemeinsamen Unterrichts
In Italien wurden 1977 die Sonderschulen abgeschafft. Ist das Land nun ein Musterbeispiel für Schulinklusion? Ja, sagt eine betroffene Mutter und Lehrerin. Nein, entgegnet ein ehemaliger Schüler mit Sehbehinderung.
Anfang September hat für die Schüler in Südtirol wieder der Ernst des Lebens begonnen. „Mein Sohn hatte heute seinen ersten Schultag in der neuen Klasse“, erzählt Johanna Lercher. Sie konnte nicht dabei sein, da die 51-Jährige selbst Lehrerin in der Mittelschule Fintl ist und somit ebenfalls den ersten Schultag bestreiten musste. Lerchers Sohn hat Trisomie 21. Trotzdem stellte sich die Frage, ob er beim Kennenlernen der neuen Mitschüler ihre Begleitung braucht, nicht. „Nach vier Jahren Kindergarten und fünf Jahren Grundschule ist das nicht mehr nötig“, erklärt die Pädagogin. Es habe für ihn noch nie Probleme damit gegeben, in einer neuen Klasse oder Bildungseinrichtung aufgenommen zu werden. Die Inklusion von Menschen mit Behinderung ist in Südtirol mittlerweile so normal, dass es vielmehr die Fragen Außenstehender nach Schwierigkeiten für Verwunderung sorgen. Ihr Sohn sei eben nach Hause gekommen, sagt Lercher, die sich auch im Arbeitskreis Eltern Behinderter (AEB) engagiert. Und auch heute lief der erste Schultag gut.
Sonderschulen abgeschafft
Im Jahr 1977 wurden in Italien praktisch über Nacht die Sonderklassen – Sonderschulen, wie bei uns, gab es ohnehin nie – abgeschafft. Kinder mit Behinderung wurden bis dahin oft gar nicht zur Schule geschickt oder sie blieben während ihrer gesamten Schulzeit im Kindergarten oder in der Grundschule. Durch die historisch enge Verbundenheit mit Nordtirol schickten manch skeptische Eltern ihre Kinder daraufhin in sonderpädagogische Einrichtungen ins Nachbarland Österreich. Heute ist die Schulinklusion in Italien ein Faktum, das nicht mehr in Frage gestellt wird. Ausnahmslos alle Kinder werden gemeinsam unterrichtet. Diese Hauruck-Aktion der italienischen Regierung war zugleich aber auch der Erfolgsgarant für die Schulinklusion in Südtirol, glaubt Lercher: „Es gab keine großen Diskussionen im Vorfeld, man hat das einfach beschlossen und alle mussten es umsetzen.“ In Österreich, so die Pädagogin, werde das Thema seit Jahrzehnten diskutiert und von Lobbying-Gruppen dominiert. „Das chaotische Politsystem Italiens war hier wahrscheinlich der Sache dienlich“, glaubt Lercher, „denn Kinder mit Behinderung haben keine Lobby, sie sind niemandem wichtig“. Nach 40 Jahren Praxiserfahrung sei das inklusive Schulsystem in Südtirol zwar längst nicht fehlerfrei, aber es funktioniere großteils gut. „Der gesetzliche Rahmen passt, da bin ich überzeugt“, sagt Lercher. Woran es bisweilen noch mangle, seien die Ressourcen.
Weniger begeistert vom italienischen Modell ist Dino Capovilla, seines Zeichens Professor für Blindenpädagogik an der Humboldt-Universität in Berlin. Der gebürtige Stuttgarter mit Südtiroler Mutter ist selbst hochgradig sehbehindert. 1985 zog seine Mutter deshalb mit ihm und seiner Schwester zurück nach Italien, um dem Buben die Sonderschule im deutschen Schulsystem zu ersparen. Capovilla besuchte fortan in Bozen den Unterricht in einer inklusiven Schule. Bis zur sechsten Klasse funktionierte dies auch ganz gut, erinnert er sich. Doch dann haben die Probleme begonnen: „Die Zeit vom 10. bis zum 16. Lebensjahr war sehr schwierig und zum Teil von extremen Hänseleien der Mitschüler geprägt.“ Die Lehrkräfte seien zwar oft bemüht gewesen zu helfen, waren aber meist hoffnungslos überfordert. „Sie haben es gut gemeint“, erinnert er sich. Aber Sätze wie „Nehmt euch ein Beispiel an Dino, der schafft das trotz seiner Behinderung!“ seien in seiner Situation kontraproduktiv gewesen.
Mangelnde Ausbildung?
Capovilla nennt mangelnde Ausbildung der Pädagogen als Grundproblem des italienischen Modells. Denn es gibt drei Arten von zusätzlichen Personalressourcen für Inklusion an italienischen Schulen: Integrationslehrpersonen, Mitarbeiter für Integration und Sozialpädagogen. Die beiden letzteren haben sozialpädagogische Ausbildungen und sind in erster Linie für die Unterstützung bei der Verrichtung von Alltagshandlungen zuständig. Integrationslehrpersonen, die für die Hilfe in schulischen Belangen zuständig sind, müssen eine abgeschlossene Hochschulausbildung als Grundschul- oder Sekundarstufenlehrer sowie eine 1500 Stunden dauernde berufsbegleitende Spezialisierung vorweisen können. Doch diese Zusatzausbildung kratze nur an der Oberfläche, kritisiert Capovilla: „Es ist kaum möglich, in dieser kurzen Zeit eine fundierte sonderpädagogische Ausbildung zu erhalten. Es fehlt die Spezialisierung.“ Es gebe in Südtirol etwa derzeit faktisch niemanden im Schulsystem, der die Brailleschrift unterrichten könnte.
Aktuelle Zahlen
Capovilla untermauert seine Kritik am Mangel qualifizierter Pädagogen mit einem Verweis auf aktuelle Zahlen. So blieben in Südtirol zuletzt von 152 unbefristeten offenen Stellen für Integrationslehrer 144 unbesetzt. Insgesamt sind im Land von 6600 Lehrerstellen 530 für Integrationslehrpersonen vorgesehen. Es mangelt an Bewerbern. Bildungslandesrat Philipp Achammer nennt zudem das Image des Berufes, das schlechter als jenes einer Regellehrperson sei, als Grund. An der Qualität der Ausbildung mangle es jedoch nicht, betont der Landesrat und verweist auf die stete Entwicklung in diesem Bereich. Aktuell arbeite man seitens des Landes nun an einer neuen, zweijährigen Ausbildung, die sich auch an Lehrpersonen richtet, die noch keine Lehrbefähigung, aber Unterrichtserfahrung haben. Und an der Universität Innsbruck, wo viele Südtiroler Lehrer studieren, wurde eine Spezialisierung auf „Inklusive Pädagogik“ geschaffen, die Wahlmodule mit südtirolspezifischen Inhalten bietet. Achammer betont zudem, dass viele Regellehrpersonen eine Ausbildung als Sonderpädagogen hätten und ihre Expertise so in den täglichen Unterricht einfließe.
Jedes Kind inklusiv unterrichtet
Im Südtiroler Schulalltag funktioniert die Inklusion nach einem strengen gesetzlichen Rahmen. Jedes Kind, egal wie stark die Beeinträchtigung ist, wird inklusiv unterrichtet. Von 31.500 Kindern im Pflichtschulalter wiesen im vergangenen Schuljahr 460 eine so genannte Funktionsdiagnose auf, sprich „eine Behinderung mit weitreichenden Auswirkungen“. Weitere 2750 Schüler hatten einen klinischen Befund – darunter versteht man verschiedene Lern- und Entwicklungsstörungen, die nicht in den Bereich Behinderung fallen. Form und Ausmaß der Unterstützung, die ein Kind im Unterricht erhält, werden zu Beginn jedes Schuljahres im Individuellen Erziehungsplan (IEP) festgelegt. An der Erstellung dieses Plans wirken – je nach Alter und Möglichkeit – die Betroffenen selbst, die Eltern oder Erziehungsberechtigten, die Klassenlehrer, Bezugspersonen der Kinder und involvierte Fachkräfte diverser Dienste mit. Im Fall von Lerchers Sohn wurde ihm für den Besuch der Regelschule eine Integrationslehrperson im Ausmaß von 16 Stunden wöchentlich zugeteilt: „Das bedeutet in der Praxis rund 13 Stunden, drei Stunden werden für Planungs- und Vorbereitungszeit verwendet.“ Die Eltern haben ein echtes Mitspracherecht bei der Planerstellung, erzählt die Pädagogin von ihren Erfahrungen: „Mir war es zum Beispiel von Anfang an wichtig, dass mein Sohn so viel wie möglich zusammen mit den anderen Kindern unterrichtet wird.“
Bereicherung
Was den Unterricht betrifft, vertritt die Lehrerin eine ganz ähnliche Position. Ihr sei durchaus klar, dass das Südtiroler Modell nicht perfekt sei und es vorkomme, dass die Kinder womöglich kognitive Defizite aufweisen. Doch diese seien ungleich einfacher auszugleichen und aufzuholen als soziale Defizite, die mit der Segregation behinderter Schüler einhergehen. Und Lercher weiß, dass auch in Südtirol unzufriedene Eltern die Inklusion kritisieren: „Die gibt es in jeder Schulform. Ich kenne aber niemanden, weder als betroffene Mutter noch als Lehrerin, der sich eine Sonderschule wünschen würde.“ Ihr Sohn könnte vielleicht besser rechnen, wenn er in einer eigenen Einrichtung unterrichtet würde. Aber nur das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Schülern bringe die Kinder in ihrer sozialen Entwicklung wirklich weiter. „Es sind gerade schwer und mehrfach behinderte Schüler, die in einer Klasse eine Bereicherung darstellen“, erzählt die Lehrerin aus ihrem Berufsalltag.
Sonderbeschulung in eigenen Klassen
Blindenpädagoge Dino Capovilla war einer der ersten Schüler mit Behinderung, der es in Südtirol bis zum Abitur geschafft hat. Er befürwortet auf Basis seiner eigenen Erfahrungen im inklusiven Schulsystem eine Abkehr von der Integration um jeden Preis: „Man sollte den Kindern die situativ beste Förderung angedeihen lassen.“ Dazu bedürfe es individueller, auf jedes Kind abgestimmter Lehrpläne, die stetig beobachtet und angepasst werden müssen. Das alles ist eigentlich geltendes Recht in Italien. Doch Capovilla plädiert dafür, auch eine Form der Sonderbeschulung in eigenen Klassen rechtlich zu ermöglichen, um mehr Bandbreite ins Bildungsangebot zu bringen. Johanna Lercher sieht diese Notwendigkeit nicht gegeben. Zwar gesteht auch sie Systemfehler ein, aber die negativen Folgen einer getrennten Beschulung für die soziale Entwicklung überwiegen für sie. Bildungslandesrat Achammer hat die inklusive Schule selbst als Schüler erlebt und ist vom Modell überzeugt: „Ich habe auf jeden Fall davon profitiert. Der Umgang mit Vielfalt sollte kennzeichnend für eine moderne Gesellschaft sein. Das eigene Erleben, dass das Andere auch ‚normal‘ ist, diese unmittelbaren Berührungspunkte in der eigenen Biografie, erlauben es, offener, vorurteilsfreier und empathischer auf andere zuzugehen.“