Partizipation und Zugehörigkeit - die Achsen des Menschseins
Menschen sind (auch) soziale Wesen. Dieser Satz ist so wahr, wie er – zumindest auf den ersten Blick – trivial erscheint. Ohne Bindungen zu nahen Menschen, gleich nach der Geburt beispielsweise zu Mutter und Vater sowie zu anderen nahen Bezugspersonen, können Menschen gar nicht überleben. Mit dieser Angewiesenheit auf Fürsorge ist der Mensch zwar nicht allein, aber: Was für viele höher entwickelte Säugetiere gilt, ist für den Menschen im besonderen Maße zutreffend. Der Mensch ist nämlich, im Unterschied zu anderen Tieren, zum Überleben sehr lange von der Hilfe und Zuwendung anderer, ihm nahestehender Menschen abhängig. Soziale Beziehungen, Zugehörigkeit, Hilfe und Unterstützung durch andere Menschen sind dar-über hinaus nicht nur für das nackte Überleben wichtig, sondern stellen auch eine wichtige Quelle von Sicherheit und Geborgenheit dar. Damit sind sie zentral für ein nach Möglichkeit gutes menschliches Leben. Sicherheit und Geborgenheit wiederum sind als psychologische und soziale Grundlagen wesentlich für das Erlernen wichtiger menschlicher Verhaltensweisen und Fähigkeiten (beispielsweise Sprache). Die einzigartige Fähigkeit der Spezies Mensch ist dabei keine individuelle, sondern eine soziale. Sie besteht darin, mentale Zustände wie Absichten, Wünsche oder Überzeugungen mit anderen teilen zu können. Diese Fähigkeit nennt man soziale Intentionalität.
Soziale Intentionalität
Soziale Intentionalität ist zum einen wichtig für die individuelle Fähigkeit, Pläne, Ziele und Absichten anderer zu erkennen und sich in irgendeiner Weise zu ihnen zu verhalten: indem man beispielsweise erkennt, dass ein Mensch, der laut schreiend ein Messer zückt, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gefahrenquelle für die eigene Sicherheit darstellt, oder indem man versteht, dass der schwarz-weiß gekleidete Kellner im Restaurant die Aufgabe hat, die Bestellungen aufzunehmen und Gäste zu bedienen. Soziale Intentionalität ist zum anderen auch im gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Leben wichtig. Denn diese essenzielle Fähigkeit des Menschen ermöglicht Formen der Zusammenarbeit und des gemeinsamen und nachhaltigen Erwerbs von Kultur, die anderen Primaten nicht oder nicht in demselben Maße zugänglich und verfügbar ist. So hat die Forschung des US-amerikanischen Evolutionsforschers und Primatologen Michael Tomasello (2019) gezeigt, dass kulturelles Lernen nicht nur durch Imitation und direkte Anweisung geschieht, sondern vor allem durch Kollaboration von Menschen und Gruppen unter- und miteinander. Menschen sind laut Tomasello besonders geschickt darin, durch Anleitung und Nachahmung von anderen zu lernen und die gelernten Inhalte auch über Generationen, Gruppen und Anwendungsorte hinweg kulturell und sozial weiterzuentwickeln und weiterzutragen (vgl. Tomasello 2009). Die Fähigkeit zu sozialer Intentionalität hat also bedeutende Auswirkungen auf die menschliche Evolution, und zwar insofern, als sie gemeinschaftliches und gesellschaftliches Leben ermöglicht und die Art und Weise prägt, wie Menschen füreinander sorgen, einander unterstützen und gemeinsam mit anderen arbeiten und leben.
Das dialogische Selbst
Und noch ein weiterer Punkt verdeutlicht die Bedeutung von Zugehörigkeit für die Spezies Mensch: Die Zugehörigkeit zu anderen Menschen ist zentral für die Identitätsfindung, also für die Beantwortung von Fragen wie „Wer bin ich?“ und „Wo gehöre ich hin?“. Diese Fragen wiederum können Menschen nur dann positiv beantworten oder in einem konstruktiven Sinn entwickeln, wenn sie sich zu anderen in Beziehung setzen können und von anderen Menschen, aber auch von Institutionen anerkannt werden. Anerkennung ist für das menschliche Leben, für das Selbst und die eigene Identität, in vielerlei Hinsicht wesentlich. Dabei ist das Selbst, folgt man dem US-amerikanischen Soziologen und Entwicklungstheoretiker George Herbert Mead (1934), kein angeborenes Merkmal. Vielmehr entsteht es durch den Austausch und die soziale Interaktion mit anderen Menschen, aber auch in der Auseinandersetzung mit anderen Lebewesen, mit Dingen und mit der uns umgebenden Natur. Das Selbst entsteht damit nicht zuletzt durch die Übernahme der Perspektive anderer, seien das sogenannte „signifikante Andere“, also wichtige nahe Bezugspersonen wie Eltern, Geschwister oder Freunde, oder „generalisierte Andere“ und somit die weitere Gemeinschaft und die Gesellschaft. Die Entwicklung des Selbst ist also dialogisch zu verstehen. Das bedeutet, das Selbst entwickelt sich in konstantem Austausch mit anderen, deren Zugehörigkeit und Anerkennung es sich rückversichert, ja rückversichern muss. Dieser Ansicht ist der kanadische Philosoph Charles Taylor (1989), der sich in seiner Forschung stark auf die Theorie George Herbert Meads bezieht. Taylor erweitert Meads Konzept der Identitätsentwicklung, indem er ausführt und darlegt, dass sich nicht nur das Selbst in einem engeren Sinn, sondern die gesamte, das heißt auch die soziale Identität des Menschen dialogisch entwickelt. Durch Gespräche mit und die Bestätigung und Anerkennung durch andere formen wir unsere Identität. Ohne diese dialogischen Beziehungen, so Taylor (1985), ist der Aufbau eines kohärenten Selbst gar nicht möglich, geschweige denn der Aufbau einer gesunden, stabilen Beziehung zu sich selbst und zu anderen. Die notwendigen Formen der Selbstbeziehung und der Anerkennung durch andere beziehen sich dabei nicht einzig auf enge zwischenmenschliche Kontakte, die zweifelsohne für eine gesunde Identitätsentwicklung am prägendsten und wichtigsten sind. Sie können – mit dem deutschen Anerkennungsphilosophen Axel Honneth gesprochen – als Liebe, Sorge oder mit dem englischen Wort care bezeichnet werden und den Aufbau eines gesunden Selbstvertrauens und stabiler emotionaler Beziehungen ermöglichen. Doch auch rechtliche Anerkennung respektive Anerkennung als gleichberechtigte und autonome Akteur:innen in der Gesellschaft – Honneth bezeichnet dies als Achtung – sind äußerst wichtig. Rechte zu haben ermöglicht es Individuen, Selbstachtung zu haben und damit ein Gefühl dafür zu bekommen, Bürger oder Bürgerin und ein wichtiges, ja gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Wie wenig selbstverständlich es gerade für Menschen mit Behinderung ist, Rechte zu haben beziehungsweise als ein Rechtssubjekt zu gelten, dem die gleiche Berücksichtigung zukommt wie anderen, zeigen nicht nur die schmerzhaften und dunklen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, in dem je nach Schätzung und Forschungszugang allein in Österreich und Deutschland bis zu 300 000 Menschen mit Behinderung den nationalsozialistischen Euthanasiemorden zum Opfer fielen (vgl. Aly 2013; Herzog 2024). Auch heute noch haben viele Menschen mit Behinderung wenige bis keine demokratischen Rechte. Das gilt insbesondere für viele Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen, denen in vielen Ländern immer noch das Stimm- und Wahlrecht verwehrt bleibt und die ihr Leben ohne große Wahlfreiheit in mehr oder weniger geschlossenen Institutionen verbringen.
Soziale Wertschätzung
Neben Liebe und der Achtung von Rechten benötigen Menschen für eine gesunde Selbstbeziehung auch soziale Wertschätzung (vgl. Honneth 1994). Soziale Wertschätzung bezieht sich dabei auf die Anerkennung von individuellen Fähigkeiten, Eigenschaften und Beiträgen an die Gemeinschaft oder Gesellschaft. Sie ist damit eine soziale und moralische Reaktion, beispielsweise auf berufliche Leistungen oder besondere Talente. Soziale Wertschätzung bezieht sich auf Aspekte des Menschseins, die partikular und divers, daher bei jedem Menschen anders und dennoch an die kulturellen und sozialen Werte und Normen einer Gesellschaft gebunden sind. Ob eine Person beispielsweise Wertschätzung aufgrund ihres Talents im Bogenschießen erhält, hängt stark davon ab, mit welcher kulturellen und sozialen Wertschätzung dieses spezifische Hobby verbunden ist. Gerade Sportarten sind gute Beispiele, um die kontingente Vergabe sozialer Wertschätzung begreifen und deren Folgen einschätzen zu können. Ganz unterschiedliche Weisen und Verhältnisse sozialer Wertschätzung etwa zeigen sich in den Verdienstmöglichkeiten, die auch bei identischen Sportarten sehr stark divergieren können, je nachdem, von wem sie ausgeführt werden. In den unterschiedlichen monetären Abgeltungen zeigt sich, so kann man argumentieren, die kulturelle Wertschätzung, die mit einer bestimmten Sportart und der sie ausübenden Person verbunden ist. So gibt es Fußballspieler, die dreistellige Millionenbeträge im Jahr verdienen, während sich manche Fußballspielerinnen auch in höheren Ligen nur mit Zusatzjobs und Sponsoring überhaupt über Wasser halten können. Soziale Wertschätzung in Form von finanziellen Vergütungen, aber auch öffentlicher Aufmerksamkeit kommen beiden Geschlechtern also in sehr ungleicher Weise zu.
Dass Talente, Leistungen oder soziale Beiträge, die sich gesellschaftlicher und sozialer Wertschätzung erfreuen, einem starken sozialen und kulturellen Wandel ausgesetzt sind, zeigt sich nicht zuletzt in der historischen Perspektive. Was einmal als bedeutender Verdienst oder spezielle Leistung galt, kann in wenigen Jahren komplett anders wahrgenommen werden. Aktuell sieht man das an der rasanten Entwicklung in den digitalen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere in der atemberaubend schnellen Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Das Tempo und die Art dieser Entwicklung haben enorme Auswirkungen, nicht zuletzt auf Bereiche der sozialen Wertschätzung. Das lässt sich gut an beruflichen Beispielen illustrieren. Berufe, die bis vor Kurzem noch als anspruchsvoll galten und daher teilweise sehr gut bezahlt waren (man denke an Berufe im Bereich von Werbung und Grafik), werden vielleicht innerhalb kurzer Zeit verschwinden respektive der künstlichen Intelligenz zum Opfer fallen. Mit dem Wegfall bestimmter Berufe beziehungsweise der Veränderung ganzer Berufszweige verändern sich wiederum auch die Erwartungen bezüglich der Fähigkeiten und Fertigkeiten, die jemand für den beruflichen Erfolg mitbringen muss.
Anders als Rechte kann man soziale Wertschätzung aber nicht als Pflichten formulieren und auferlegen. Das heißt, man kann sie auch nicht rechtlich vorschreiben und in Gesetze gießen. Soziale Wertschätzung ist genauso wie Liebe, Sorge oder care partikular, das heißt auf bestimmte Menschen gerichtet, oder besser: auf Leistungen, Talente oder Eigenschaften von Menschen, die als wertvoll für Gemeinschaften oder die Gesellschaft gelten. Das heißt, entscheidend für soziale Wertschätzung, insbesondere die von Minderheiten und marginalisierten Gruppen in der Gesellschaft, ist es, einen kulturellen und sozialen Wandel in den Einstellungen, Werten und Normvorstellungen anzuregen und gegebenenfalls auch durchzusetzen. Letztlich aber muss der Wandel, wenn er nicht in einer Diktatur stattfindet, zumindest zu einem bestimmten Maß freiwillig erfolgen. Auf jeden Fall muss er akzeptiert werden. Und dafür braucht es eine kritische gesellschaftliche Masse, die den Wandel befürwortet. Die Transformation hin zu einer Anerkennung sozial marginalisierter Gruppen gesellschaftlich zu schaffen, ist nicht einfach, oft langsam und unberechenbar und vor allem auch von den von Marginalisierung betroffenen Individuen und Gruppen nicht direkt steuerbar. Der gesellschaftliche Wandel hat denn auch häufig mit ganz anderen Entwicklungen zu tun als mit dem politischen Kampf um Selbstbestimmung, Emanzipation und Anerkennung marginalisierter Gruppen. So hatte die Erfindung von Geschirrspüler und Waschmaschine sehr wahrscheinlich einen ebenso großen Einfluss auf die Frauenbewegung wie der feministische Kampf selbst. Und die Erfindung des Buchdrucks war vermutlich ebenso prägend (respektive gar eine Bedingung) für die Entwicklung und Einführung der Massenschulbildung wie philosophische Visionen und die Einführung der Schulpflicht in den entstehenden Nationalstaaten im 19. Jahrhundert.
Gerade an sozialer Wertschätzung als wichtige Form der Anerkennung zeigt sich so auch die ambivalente Bedeutung, die Anerkennung zukommt (vgl. Ikäheimo 2014). Auch wenn soziale Wertschätzung zweifelsohne das so wichtige Selbstwertgefühl stärkt und damit das Gefühl, dass die eigenen Fähigkeiten, Beiträge und Leistungen auch Anerkennung erfahren, dürfen die teilweise problematischen Formen gesellschaftlicher und sozialer Wertschätzung nicht unerwähnt bleiben. Auch hier ist das Thema Behinderung sehr aufschlussreich. Stella Young, eine leider früh verstorbene australische Behindertenrechtsaktivistin, hat sich in einem TED Talk einmal entnervt darüber gezeigt, wie sie gesellschaftliche Bewunderung für Fähigkeiten oder Tätigkeiten erhalte, die für andere Menschen ganz normal seien, beispielsweise sich morgens anzuziehen, Kaffee zu trinken oder das Haus zu verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Die Bewunderung, die ihr für diese eigentlich alltäglichen Verrichtungen oder Fähigkeiten zukämen, hätten einen anderen Grund als den der ehrlichen sozialen Wertschätzung. Stella Young vermutete, dass es sich hierbei um sogenannten „inspiration porn“ handele, also eigentlich eine Form von Selbstversicherung oder Selbstbestätigung nicht behinderter Menschen – und damit im Kern um eine egoistische oder paternalistische Handlung derselben.
Diese Beispiele schädlicher Formen sozialer Wertschätzung verdeutlichen, dass Anerkennung mindestens eine dreistellige Relation ist: Es braucht einen Gegenstand, also etwas, worauf sich Anerkennung richtet (besondere Talente, Leistungen, Rechte, Freundschaft, Liebe etc.), aber auch Sender:innen und Empfänger:innen der Anerkennung (vgl. Ikäheimo 2014). Stärkt eine Form der Anerkennung durch ein Individuum nämlich die Selbstbeziehung eines anderen Individuums nicht, sondern beeinträchtigt beispielsweise deren Selbstbild oder Identitätsentwicklung, ist auch eine noch so gut gemeinte Anerkennung (potenziell) schädlich für diejenige Person, auf die sich die Anerkennung richtet.
Partizipation und Zugehörigkeit
Nun war lange die Rede von Anerkennung und ihrem Bezug zu Zugehörigkeit. Was aber bedeuten Partizipation und Zugehörigkeit in einem engeren Sinne, nämlich im sozialen Kontext der Arbeit und des Zusammenlebens mit anderen Menschen? Offensichtlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen Partizipation und Zugehörigkeit, nicht nur auf sprachlicher Ebene, sondern auch in der lebensweltlichen Praxis. Partizipation meint dabei zunächst einmal die aktive Teilnahme an Entscheidungsprozessen und gesellschaftlichen Aktivitäten. Partizipieren können Individuen, wenn sie die Möglichkeit haben, ihre Interessen, Meinungen und Bedürfnisse in politische, wirtschaftliche und soziale Kontexte einzubringen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der Partizipationsbegriff häufig dann verwendet wird, wenn es um die Beschreibung demokratischer Beteiligung und deren Grundlagen – beispielsweise das Empowerment von Bürger:innen – geht (vgl. Young 2000).
Die Bedeutung von Partizipation ist vielschichtig. Erstens stärkt Partizipation die Demokratie, indem sie sicherstellt, dass Entscheidungen die Interessen und Perspektiven der Bevölkerung widerspiegeln. Zweitens fördert Partizipation die soziale Integration. Menschen, die aktiv an Gemeinschaftsprozessen teilnehmen, so zeigt die empirische Forschung eindrücklich, fühlen sich als wertvolle Mitglieder ihrer Gesellschaft und sind bereit, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Das wiederum stärkt das Zugehörigkeitsgefühl und den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft und der Gesellschaft. Drittens ist Partizipation ein wesentlicher Faktor für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Indem Menschen erleben, dass ihre Handlungen und Meinungen Einfluss haben, entwickeln sie ein starkes Gefühl der Autonomie und der Selbstbestimmung. Das alles ist empirisch gut untersucht, vielfach belegt und im Kern auch unbestritten. Und dennoch werden gerade die Zusammenhänge zwischen der Möglichkeit, aktiv an einer Gesellschaft zu partizipieren, und dem Zugehörigkeitsgefühl, das Menschen emotional spüren, insbesondere in politischen Deliberationsprozessen sozial und politisch häufig ignoriert. So zeigen gerade die vielfältigen Krisen der politischen Demokratie in Europa und anderswo, was passieren kann, wenn das Engagement in politischen Parteien und die Bedeutung von Bürgerinitiativen, freiwilligem sozialem Engagement und Teilhabe in Vereinen abnimmt. Extreme Kreise an den undemokratischen Rändern gewinnen an Unterstützung, versprechen rasche Lösungen für komplexe Probleme und vertiefen damit die Krise der Demokratie weiter. Genau aus diesen, letztlich auch demokratiesichernden Gründen sind diverse Formen der Teilhabe so wichtig.
Teilhabe
Wertvolle Teilhabe geht dabei über die reine Anwesenheit hinaus und bezieht sich auf die umfassende Inklusion aller Menschen in die gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen. Teilhabe bedeutet also in einem ethisch-moralischen Sinn, dass jeder Mensch, unabhängig von sozialen, ökonomischen oder kulturellen Hintergründen, die gleichen Chancen hat, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, dazu beizutragen und davon zu profitieren. Um das zu erreichen, benötigen Menschen Ressourcen, aber auch Freiheiten, um mit diesen Ressourcen (auch) selbstbestimmte Ziele zu erreichen. Sie bedürfen – mit den Worten der beiden Capability-Approach-Begründer:innen, dem indischen Ökonomen Amartya Sen und der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum, gesprochen – Verwirklichungschancen (vgl. Nussbaum 2006; Sen 1999): Diese Verwirklichungschancen stellen gewissermaßen die Freiheiten dar, auch an Orten teilnehmen zu können, denen man sich selbst zugehörig fühlt, denen man subjektiven Wert beimisst.
Man könnte also sagen: Mit Freiheit versehene Formen der Teilhabe sind wichtig für eine umfassende gesellschaftliche und soziale Inklusion. Auch für Zwangsinstitutionen wie beispielsweise die Schule gilt, dass sie vor der Herausforderung stehen, Orte der Zugehörigkeit, des freiwilligen Beisammenseins und Miteinandertuns zu schaffen, in denen sich Menschen wohl und zugehörig fühlen können. Denn nur unter diesen Umständen sind Bildung und Lernen in einem nachhaltigen Sinne möglich.
Teilhabe ist also ein Schlüssel für und gleichzeitig Ausdruck von Zugehörigkeit. Ohne Teilhabe bleiben bestimmte Gruppen am Rande der Gesellschaft, was soziale Ungerechtigkeiten und Exklusion verstärkt. Teilhabe stellt sicher, dass alle Menschen Zugang zu Bildung, Arbeit, kulturellen Aktivitäten und sozialen Beziehungen haben. Dies ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der sozialen Kohäsion. Wenn alle Menschen die Möglichkeit haben, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, fördert dies das Gemeinschaftsgefühl und die Solidarität und damit im Endeffekt auch die soziale Wertschätzung und die Achtung von Gemeinschaften und Individuen.
Literatur
Aly, G. (2013): Die Belasteten: „Euthanasie“ 1939–1945 – eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt: S. Fischer.
Herzog, D. (2024): Eugenische Phantasmen: Eine deutsche Geschichte. Suhrkamp.
Honneth, A. (1994): Kampf um Anerkennung – Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp.
Ikäheimo, H. (2014): Anerkennung. … De Gruyter.
Mead, G. H. (1934): Mind, Self, and Society. Chicago: University of Chicago Press.
Nussbaum, M. C. (2006): Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership. Boston: Harvard University Press.
Sen, A. (1999): Development as Freedom. Oxford: Oxford University Press.
Taylor, C. (1985): Human Agency and Language. Cambridge: Cambridge University Press.
Taylor, C. (1989): Sources of the Self – The Making of Modern Identity. Cambridge: Cambridge University Press.
Tomasello, M. (2009): Why We Cooperate. Boston: MIT Press.
Tomasello, M. (2019): Becoming Human: A Theory of Ontogeny. Boston: Harvard University Press.
Young, I. M. (2000): Inclusion and Democracy. Oxford: Oxford University Press.
Autorin:
Prof. Dr. Franziska Felder ist Professorin für Inklusion und Diversität an der Universität Zürich. Sie beschäftigt sich mit grundlegenden Fragen der inklusiven Pädagogik, unter anderem damit, was Inklusion bedeutet und warum es für das menschliche Leben wichtig und wertvoll ist.
Ihre jüngste Buchpublikation hat den Titel „Die Ethik inklusiver Bildung – Anmerkungen zu einem zentralen bildungswissenschaftlichen Begriff“ (2022, J. B. Metzler).
franziska.felder@uzh.ch