Das Bild zeigt ein großformatiges Triptychon in kräftigen Farben, das stilisierte menschliche Figuren und abstrakte Formen darstellt. Die mittlere Figur steht aufrecht und wird von zwei seitlichen Figuren umrahmt, während dynamische Linien und Schriftzüge das gesamte Werk durchziehen. Die Komposition wirkt energetisch und komplex, mit vielen Details, die auf Bewegung und Ausdrucksstärke hinweisen.

Alexandre Diop, Il était une fois le Mouton Noir, 2021, 215 × 500 × 6 cm, Mischtechnik auf Holz Die ganzseitigen Bilder vor unseren Thema-Artikeln stammen von der viel beachteten Ausstellung „The Beauty of Diversity“, die bis MItte August in der Albertina Modern in Wien gelaufen ist. Gezeigt wurde sogenannte Outsider Art – also Kunst von Menschen mit psychischen Problemen oder Behinderungen und sozial marginalisierten Personen – gemeinsam mit Arbeiten von queeren Personen, Black Artists und australischen Aborigines, siehe auch Artikel auf Seite 81. ALBERTINA, Wien

Foto: © Alexandre Diop
aus Heft 5/2024 – Fachthema
Dieter Fischer

Der ALLTAG - als Herausforderung nicht nur für die Pädagogik

Aus Tagen, die vergehen, wird noch kein Leben.
Herta Müller

Immer wieder staune ich, wenn ich in Blaibach im Bayerischen Wald ein Konzert besuche, obwohl das spektakuläre Konzerthaus, vom Münchner Architekten Peter Heimerl erbaut, bald sein zehnjähriges Jubiläum feiert. Mit Mut und Esprit hat er damals den bürgerlichen Alltag des verschlafen wirkenden Blaibachs mit seinen ca. 2 000 Einwohnern wahrhaft aufgerüttelt und ein lebhaftes Für und Wider in der Bevölkerung entfacht. Der langweilig gewordene Dorfplatz sollte ein Konzerthaus erhalten und die Region „Bayerwald“ sich mit ihm in eine „Kulturlandschaft“ – so der Initiator Thomas E. Bauer – verwandeln, was ihm in nicht vorstellbarer Weise gelungen ist. Dazu „versenkte“ man einen riesigen Betonblock halb in die Erde – der Konzertsaal selbst liegt im „Keller“ –, eingerahmt von einem Foyer mit allem Nötigen für einen Konzertbetrieb. Gott sei Dank denken heute sogar die ehemals entschiedensten Gegner anders. Peter Heimerl und mit ihm die Gemeindeverwaltung haben sich schon längst durchgesetzt und das „Konzerthaus“ ist bei Musiker:innen und Besucher:innen sowie den Einheimischen zu einem gesuchten Ziel geworden.

Doch nicht nur Musiker:innen aus der großen weiten Welt (Berlin, Wien, München, Tallin oder Riga usw.) haben hier ein künstlerisches Zuhause gefunden, sondern auch Philosophen wie Peter Sloterdijk und andere kann man hier diskutierend erleben. Selbst die örtlichen Jäger:innen feiern hier ihre Jubiläen, und Chöre aus der Umgebung führen ihre Konzerte auf. Unter der Leitung des höchst engagierten Sängers Thomas E. Bauer hat sich Blaibach zu einer hochgeschätzten Adresse für Kunst-, Musik- und Kulturfreund:innen entwickelt – gemäß seinem Motto, den Bayerischen Wald in einen „Kulturwald“ zu verwandeln.
Nicht weniger interessant ist die Umgebung des Konzerthauses, allen voran das neue Rathaus in seiner beeindruckenden modernen Schlichtheit – ein Ort des Alltags und Standesamt für lebensrelevante Ereignisse. Allein das große Fenster im 1. Stock bietet einen eindrucksvollen Ausblick in die Zukunft.

Vielleicht noch eindrucksvoller sind die zahlreichen Fresken, die an den verbliebenen alten Hausfronten der meist niedrigen Bayerwald-Häuser angebracht sind. Sie alle rahmen das Konzerthaus ein, unterstreichen dessen Besonderheit und geben ihm durch ihre Botschaft eine ganz eigene Atmosphäre. Besonders beeindruckend ist wohl jenes Fresko, das man inhaltlich als Besuch der Tochter aus der Stadt bei ihrer alten Mutter interpretieren könnte, die sichtlich mit ihrem Alltag überfordert ist. Die Tochter, auf einem Stuhl sitzend, versucht erst einmal Atem zu holen, bevor sie den konkreten Gedanken des Zupackens fasst.

Je öfter ich in Blaibach bin, umso mehr meine ich einer Symbolik des Alltags zu begegnen, auch wenn diese einem weder bei den zuvor erwähnten vier „Highlights“ noch bei den anderen Fresken sofort ins Auge springt.
Doch vor dem Versuch einer Interpretation gilt es zu klären, was wir unter „Alltag“ verstehen und welche Rolle dieser im Leben allgemein sowie im Zusammenhang mit Erziehung spielt.

Ein erstes Verständnis von „Alltag“

Alltage können wirklich beides sein – zum einen durch ständige Wiederholung entstehende Langeweile samt der damit einhergehenden Tristesse und Erschöpfung und zum anderen immer wieder neu entstehende Glücksmomente aufgrund gelingender Anstrengung und Meisterung bestehender Herausforderungen. Hinzu kommt die Fülle alltäglich sich wiederholender Notwendigkeiten, die das Leben im Kontext der Familie oder des Gemeinwesens mit sich bringt. Alle diese Momente weisen unterschiedliche Varianten der Selbstwirksamkeit wie auch der Überforderung auf. Hauptkennzeichen ist die Ambivalenz der Gefühle, die den Alltag durchzieht. Einerseits nützt einem die sich mit der Zeit bildende Routine, andererseits erlebt man sie als zeit- und kraftraubende Last. Sähe man im Alltag nur das konkrete Tun, würde man seiner Bedeutung sowie seiner Wirkung nicht gerecht. Erlebte Widerstände gegenüber dem Alltag werfen ihre Schatten meist voraus und gelungene wie misslungene Alltage bleiben ebenfalls nicht ohne Nachwirkung in einem zurück.

Was ein Alltag ist

Im Alltag wird die Last des Lebens deutlich

Manfred Breitinger

Ob Manfred Breitinger recht hat, ist anzuzweifeln. Für nicht wenige Menschen verbirgt sich hinter den Fassaden des Alltags auch Glück und Zufriedenheit. Man weiß Bescheid, man kennt sich aus, hat Übung im Umgang mit ihm, kennt seine Aufgaben wie seine Rollen und schafft sich so Freiraum für andere Dinge. Alltage lassen sich sehr unterschiedlich beschreiben. Zum einen gelten sie als „gewohnheitsbedingte Abläufe“ und sind von Arbeit, Freizeit, Haushalt, Körperpflege, Arztbesuchen, Einkäufen sowie von der Versorgung der Kinder geprägt. Zum anderen aber sind Alltagen auch bürgerliche Tugenden eigen wie Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit, Sauberkeit und Zuverlässigkeit, also Tugenden, die der praktischen Bewältigung des Alltags dienen und ihm durch Gelingen zusätzlich Glanz verleihen.

Alltage setzen Fähigkeiten und Fertigkeiten voraus, die man im Alltag weiter optimieren kann. Alltage finden nicht nur in der Gegenwart, das heißt im konkreten Augenblick, statt, auch nicht nur konkret in Küche, Haus oder Hof, sondern meist im Kopf samt aller Emotionen, kognitiver Leistungen und physischer wie psychischer Kraft. So greifen sie weit über die konkreten Erfordernisse und Anstrengungen hinaus. Je ungestörter sich Alltage vollziehen, umso gewohnheitsmäßiger werden sie; und dennoch sind sie durchzogen von Sorge – für sich, für andere sowie für Dinge und Situationen. Diesen nur zu genügen, anstatt sich an deren Gelingen zu erfreuen, macht ihre Mühe aus.

Für Philosophen wie Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre oder Edmund Husserl sind Alltage Hinweise auf das „In-der-Welt-Sein“ des Menschen. Mensch und Welt stehen nicht nur in Kontakt, sie bedingen einander. Es gibt Situationen, die den Menschen atemlos machen; aber auch der Mensch selbst kann seinen Alltag hetzen und jagen, sodass die Welt dem Diktat des eigenen Tuns zum Opfer fällt. So kann sich jedes Vergnügen des „Gärtelns“ verflüchtigen und der an sich geliebte Garten beginnt sich am Abend in das Grau und die Mühen des Alltags einzureihen.

Zusammengefasst

Alltage lassen sich im Tages- und Wochenzyklus als gewohnheitsmäßige Abläufe beschreiben. Sie bestehen aus sich wiederholenden Mustern von Aufgaben und Tätigkeiten. In gewisser Weise könnte man Alltage als Gegensatz zu Fest- bzw. Feiertagen oder zum Urlaub verstehen.

Im Rahmen einer ethischen Betrachtung des Alltags spielen selbst bürgerliche Tugenden wie Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Sparsamkeit, Reinlichkeit und Fleiß eine nicht unwichtige Rolle. Sie alle sind auf die praktische Bewältigung des Alltags ausgerichtet und von einem selbstverständlich erscheinenden Alltagswissen getragen und durchdrungen.

Die wichtigsten existenziellen Momente sind dabei das „In-der-Welt-Sein“ des Menschen (Martin Heidegger), die Sorge, die Angst, auch das Verstehen sowie die „Verfallenheit im alltäglichen Man“ (ebd.) – im Sinne von: „Das macht man so“!

Allein aus den Rollen, die ein Mensch lebt, ergeben sich für ihn mehrere und damit höchst unterschiedliche Alltagswelten. Zum einen ist diese Tatsache der Abhängigkeit von Ort, Zeit, sozialem Umfeld wie materiellen Umständen oder dem Zusammentreffen bestimmter Menschen geschuldet, zum anderen dem notwendigen gegenseitigen Verstehen.

Alltage sollen demnach zusammenfassend als jener Lebensbereich beschrieben werden, der jedem Menschen eigen ist, was ein gewisses Maß an Beschränkung bedeutet, aber auch Hilfe, Sicherheit und Entlastung verbürgt. Die dem Alltag eigene Widersprüchlichkeit lässt sich aber auch als Chance begreifen, wenn man die Vorteile, aber auch die Gefahren von Pragmatik wie Orientierung im Auge behält.

Als „normal“ erleben wir, was wir gewohnt sind. Schwerer zu erkennen ist jedoch die Normalität möglicher Veränderungen als die Normalität eines gewohnten Zustands. Um mit seinem Alltag nicht nur zurechtzukommen, sondern ihn befriedigend zu meistern, sind nachfolgende Qualitäten zumindest hilfreich. Die Vielfalt mag auf den ersten Blick überraschen, den einen oder die andere sogar erschrecken. Sie beginnen beim Alltagswissen und bei Alltagsfertigkeiten und reichen bis hin zu Alltagstechniken, Alltagstugenden und Alltagskultur.

Unser Alltagsleben besteht aus lauter erhaltenden, immer wiederkehrenden Verrichtungen. Dieser Zirkel von Gewohnheiten ist nur Mittel zu einem Hauptmittel, unserm irdischen Dasein überhaupt, das aus mannigfaltigen Arten zu existieren gemischt ist.

Novalis (1772–1801)

Konkreter Alltag oder doch unkonkrete Philosophie?

In einem Geburtstagsband der „Evangelischen Akademie Tutzing“ fand ich vor vielen Jahren nachfolgende Grußadresse des damaligen SPIEGEL-Herausgebers Rudolf Augstein an Ernst Bloch. In dieser schilderte er eine Begegnung mit dem international bekannten und hoch geschätzten Philosophen Ernst Bloch, dessen Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ heute noch als unverzichtbares Standardwerk gilt.

„Die ‚Evangelische Akademie Tutzing‘ ist für mich mit dem Namen Ernst BLOCH verbunden, den ich über den Starnberger See kutschierte. Beim Mittagessen spießte ich dem nahezu Blinden die Erbsen auf die Gabel. Nix Philosophie!“

Rudolf Augstein (März 1987)

Ist es tatsächlich so, dass körperliche Schwäche, Krankheit, Gebrechen oder Behinderung und mit ihnen der Alltag jegliche „Philosophie“ außer Kraft setzt und man nur noch – wenn überhaupt – etwas ganz Konkretes verrichten, quasi abarbeiten kann, oder gilt nicht umgekehrt, dass erst Anleihen an eine Philosophie den Alltag meistern lassen?

Wieder geht es um die Frage nach dem Stellenwert des Alltags in unserem Leben. Dieser ergibt sich fast von alleine aus der Vergegenwärtigung jener vier Dimensionen, die den Alltag bestimmen und sich gleichzeitig als Anforderungen präsentieren. Welchen Stellenwert wir ihnen geben, hängt von unserer Einschätzung, aber auch von unserem Können sowie von unserem Gegründetsein ab:

1.         als alltägliche Notwendigkeit – das lebenspraktische Moment

2.         als bestimmende Rolle im Leben – das soziologische Moment

3.         als persönliche Verpflichtung – das ethisch-moralische Moment

4.         als verbindliches Lebensgefühl – das existenzielle Moment

 

Die Antworten darauf fallen je nach Vermögen und Einschätzung, aber auch je nach Anforderung individuell wie auch situativ sehr unterschiedlich aus. So könnte sich auch Rudolf Augstein im Umgang mit Ernst Bloch gehörig getäuscht haben.

Der Alltag und Angehörige

Spätestens hier müsste man eigentlich von Alltagen sprechen, denn jedes Individuum hat und lebt seinen Alltag. Gehen wir von einem behinderten oder kranken Kind aus, ist dieses normalerweise von einem Vater und einer Mutter umgeben. Selbst in einer nicht zusätzlich belasteten Familie gilt es, hier jeweils zu einem Agreement zu finden. Geht ein Vater zur Arbeit, ist sein Alltag davon geprägt – vielleicht ergänzt durch Sport oder Gartenarbeit, während die Mutter die Fürsorge für das Kind ausübt, selbst wenn dieses in eine Schule geht oder als Jugendliche/r in der WfB arbeitet und in einer WG lebt. Eine überbesorgte Mutter kann ihren persönlichen Alltag versäumen, und auch der Vater kann vergessen, dass nach der Arbeit sein behindertes Kind samt müder Frau auf ihn wartet.

Die Fürsorge um das Kind zieht alle Aktivitäten auf sich, und der Vater sowie die Mutter laufen Gefahr, sich davon vereinnahmen zu lassen und in Bezug auf ihre Bedürfnisse als Paar in Konflikt zu geraten. Das ist auch dann der Fall, wenn das Kind oder die/der Jugendliche nur am Wochenende nach Hause kommt. Von gewissen Dringlichkeiten abgesehen, hat jedes Mitglied einer Familie, ja jeder Mensch Anrecht auf seinen Alltag. Die Sorge um diesen individuellen Alltag darf nicht ständig hintangestellt sein oder bleiben. Es würde das Wohlbefinden wie das Miteinander-Leben aller auf Dauer gefährden und nach Ausweich-Arrangements suchen lassen. Geteilte Lasten sind leichter zu ertragen und Atemholen schenkt neue Kraft, selbst für den übernächsten Schritt. Das setzt jedoch ein vertieftes Interesse am Alltag des jeweils anderen voraus. Und noch eine Gefahr besteht: nämlich zu vergessen, dass auch Menschen, die mit einer Behinderung leben, trotz Betreuung Anrecht auf ihren Alltag haben.

Sowohl für Angehörige als auch für Fachdienste empfiehlt es sich, den Alltag nicht allein auf die konkreten Aufgaben zu reduzieren, will man ihm als Ganzes gerecht werden und auch für sich – trotz erlebter und beklagter Defizite – Befriedigung erfahren. Volker Gerhardt (2018) nimmt diesen Gedanken auf und entfaltet ihn für sich in dreifacher Weise. Für ihn heißt es – sieht man sich und sein Leben als Gegenüber zur Welt –:

1.         sein Leben zu bewältigen,

2.         dieses zu gestalten und

3.         zu führen.

Damit sagt er noch wenig, wie dann der Alltag von Fachdiensten oder Angehörigen konkret zu meistern ist. Doch allein vor diesem Hintergrund wird der Alltag reicher, vielleicht auch anspruchsvoller. Während das Bewältigen eher an lebenspraktische Fähigkeiten denken lässt, verweist das Gestalten auf kreative Momente und das Führen auf normative Vorgaben, denen man genügen will oder soll. Alle drei Dimensionen verleihen dem Alltag Tiefe und geben ihm gleichzeitig Richtlinien vor. Sie betonen das Gemeinsame für Angehörige wie für Fachdienste und erschöpfen sich nicht in einzelnen Aspekten – weder im Konkreten noch im Gestalten noch gar im Guten als dem Normativen. Erst dank jener drei Dimensionen beginnt auch der Alltag sich aus mancher Fessel zu befreien und wieder – dank seiner eigentlichen Bedeutung – für den Menschen zu atmen. Von vollkommener Zufriedenheit oder gar von Glück ist dabei nicht die Rede. Wer nicht Nein sagen kann, wird auch zu keinem überzeugenden Ja finden, und wer nur nach Befriedigung dank erbrachter Leistung sucht, wird das „Glück“ versäumen. Viele mögen das Gefühl kennen, den Ereignissen des Lebens, gleich einem sich ständig veränderndem Strom, ausgeliefert zu sein. In solchen Momenten kann es helfen, den Blick auf jene Dinge im Leben zu richten, die wirklich zählen.

Folgende Ratschläge erarbeiteten wir in einem Eltern-Seminar:

Mit jeder Hilfeleistung tust Du bereits etwas für den anderen sowie für Dich selbst.

Entschuldige Dich bei denen, denen Du unter Umständen Unrecht getan hast.

Verbringe Zeit mit jenen, die Dir viel bedeuten (Kinder, Eltern, Freund:innen …), aber auch mit Dingen, die Dir wichtig und für Dich schön sind.

Genieße täglich selbst kleine Freuden, anstatt immer nur auf „große Ereignisse“ hinzuarbeiten und auf Erfolg zu warten.

Führe parallel dazu eine Tätigkeit aus, die Dir gehört und die Du liebst.

Lerne die Pause ebenso zu schätzen wie das bewusste Ja- und Nein-Sagen.

Der Alltag und Fachdienste

Wer nur einen Hammer hat, dem erscheint die ganze Welt als Nagel.

Abraham Maslow

Der Alltag von Angehörigen ist ohne ständige Kontakte zu und mit Fachdiensten nicht denkbar. Das beginnt mit der Mütterberatung, der Frühförderung und dem Kindergarten und reicht weit über die Schule hinaus bis zu der Werkstatt oder dem Wohnen im Rahmen einer WG. Dazu kommen therapeutische Dienste, medizinische Leistungen bis hin zu zahlreichen Kontakten mit Versicherungen und Krankenkassen. Die häufig erlebten Schwierigkeiten auf beiden Seiten lassen sich vorwiegend auf ein Konfliktfeld zurückführen, das trotz seiner grundlegenden Bedeutung selten gesehen und deshalb leicht übersehen, zumindest aber unterschätzt wird.

Vereinfacht auf den Punkt gebracht sind Angehörige existenziell Betroffene und Helfer:innen sowie Dienste, egal in welcher Funktion, professionell Beauftragte. Kein Wunder, wenn die Welt und in der Folge nahezu jede Situation von beiden Parteien jeweils unterschiedlich eingeschätzt und die Gegenseite entsprechend anders erlebt wird. Hilde Domin gibt hierzu mit ihrem Gedicht „Entfernungen“ ein Bild vor, das einen auf den ersten Blick erschrecken lässt. Sie schreibt: „Die Entfernung eines Kranken von dem, der bei ihm sitzt, ist nicht weiter als die Kontinente voneinander. Unendlich weit.“ Und die Erfahrung bestätigt die hier anklingende Hilflosigkeit, wenn Mitglieder der einen oder anderen Berufsgruppe versuchen, diese Tatsache zu unterlaufen, diese Grundverschiedenheit entweder kleinzureden, zu übersehen oder gar zu manipulieren.

Doch genau diese Verwechslung findet im Alltag mit behinderten oder kranken Kindern wie Jugendlichen in Variationen nahezu ständig statt. So entwickeln überengagierte Mütter oder internetbelesene Väter aufgrund ihrer Erfahrung häufig eine nicht immer reflektierte Professionalität, mit der sie die eigentlichen Fachdienste konfrontieren und ab und an richtiggehend „nerven“ (so eine Erzieherin) können. Unser Anliegen, mit ganzer Überzeugung „Angehöriger“ (Fischer 2019) zu werden, wird durch das Eintauchen in die professionelle Welt nicht besser gelingen; und schon gar nicht lässt sich auf diese Weise die oft so belastende, tief gehende „existenzielle Betroffenheit“ auflösen, bestenfalls lässt sie sich relativieren. Aber auch umgekehrt sind professionelle Helfer:innen schlecht beraten, wenn sie versuchen, die „existenzielle Betroffenheit“ in der Begegnung mit Angehörigen zu teilen, weil sie glauben, auf diese Weise ihren Alltag besser bewältigen zu können. Selten wächst auf diese Weise die erhoffte Wirksamkeit. Das heißt nicht, sich nicht berühren zu lassen von dem, was Angehörige erleben oder von sich erzählen. Doch Berührung ist das eine, vielleicht das erste Moment, auf das sehr bald die nächsten Schritte folgen müssen: die immer mit Wertschätzung erlebte Situation nüchtern zu analysieren und sachlich richtig einzuschätzen, um einerseits jeweils das Seine zu tun und andererseits – nachgereicht – gemeinsam mit den Angehörigen nach Lösungen zu suchen und diese in ihren Alltag zu implementieren.

Um Versachlichung zu gewährleisten, sollten allem voran Sprechzeiten und Sprechstunden eingehalten werden. Gemeinsame Unternehmungen, die mehr Nähe mit sich bringen, sind mit Bedacht handzuhaben. Man vergisst zu schnell, dass professionelle Helfer:innen immer nur „Dritte im Bunde“ (Otto Speck) sind. Durch zu häufige Anrufe außerhalb der Dienstzeit besteht die Gefahr, ein „Dreiecksverhältnis“ zu initiieren. Am Ende sind Pfleger:innen oder Erzieher:innen die Ansprechpartner:innen von Angehörigen – nicht mehr der jeweils eigene Partner oder die Partnerin. Eine solche Konstellation mündet nicht selten in eine schwierige Verkettung und greift fundamental in das Familien- und Paargeschehen ein. Darüber hinaus sei in diesem Zusammenhang nochmals an Otto Speck erinnert: „Wer als Fachmann mit einem Kind oder mit Eltern in Kontakt tritt, ist nicht nur einfach Experte für bestimmte Teile, er ist vielmehr immer auch in seiner Verantwortung als Mensch für einen Menschen angesprochen. Er betreibt nie nur einen Job. Kind und Eltern haben ein feines Gespür dafür, wie es der andere mit ihnen meint, ob er auch als Mensch beteiligt ist, Anteil hat an gemeinsamem Fragen, aber auch an Ratlosigkeit. Er muss ganz und gar nicht für alles fachkompetent sein, aber glaubwürdig als Mensch sollte er sein.“ (Otto Speck, Vortrag 1999)

Damit gibt Otto Speck eine Basis vor, auf der sich Angehörige und Fachdienste bestens begegnen können, wenn sie gemeinsam die Alltage bewältigen wollen, ohne einerseits die Grenze zum jeweils anderen zu überschreiten und andererseits das Selbstsein von „Betroffenen“ oder von „Beauftragten“ zu gefährden. Professionellen Helfer:innen gelingt es – bei allem Engagement – unter diesen Voraussetzungen besser, ein förderliches, sachbezogenes Verhältnis von Nähe und Distanz herzustellen. Dies unterstützt wiederum Angehörige in ihrem Bemühen, ihren Alltag im Kontext mit Fachdiensten erfolgreich – d. h. für alle Beteiligten persönlich und gleichzeitig souveräner – zu gestalten.

Versuch eines Resümees

Wenn der Alltag dir arm erscheint, klage ihn nicht an, klage dich an, dass du nicht stark genug bist, seine Reichtümer zu rufen; für den Schaffenden gibt es keine Armut.

Rainer Maria Rilke (1875–1926)

Dieser Gedanke von Rainer Maria Rilke hilft uns gedanklich, zu Blaibach, seinen Schätzen und deren „Botschaft“ zurückzukehren.

Steht man heute auf dem ehemaligen Dorfplatz von Blaibach, so spürt man, dass dieser seine graue Alltäglichkeit – und damit seine Langweiligkeit und Öde – gänzlich verloren hat. Eine höchst interessante, Aufmerksamkeit erzeugende sowie erzählende Atmosphäre empfängt heute seine Besucher:innen. Es gilt immer wieder etwas Neues für sich zu entdecken, und auch bereits Bekanntes ist, je nach Tageszeit und Licht, in eine andere Stimmung getaucht. Selbst die alten Bayerwaldhäuser gewannen durch die Neugestaltung – vor allem dank jener Fresken – eine neue Strahlkraft und erzählen eine Geschichte.

Die Mühen des Alltags sind keineswegs kleinzureden. Diese wird es, wie „Saat und Ernte sein werden“ (1. Mo 8,22), immer geben. Wir sind diesen jedoch nicht machtlos ausgeliefert, sondern haben die Möglichkeit, sie zu gestalten und in ihnen immer wieder Sinnmomente zu entdecken bzw. sie in solche zu verwandeln – gemäß dem Hinweis von Martin Heidegger: „Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird geschätzt nach ihrem Nutzen. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. Und Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten, in diese hervorgeleiten – producere.“ (Heidegger 2010, 145)

Für uns heißt das: Alltage gehen mit Routine einher; sie tragen Mühe und Schwere in sich; sie rufen nach ständiger Wiederholung. Oft sind sie unausweichlich und unerbittlich; sie bedeuten nicht selten durchgängige Pflege und Fürsorge; sie verweigern sich häufig dem Fortschritt und Siege sind selten, und selten fordern sie Verantwortung; sie lassen sich aber auch nicht nur „tun“, sondern ab und an auch verändern, gestalten und aus ihnen ist Sinn zu gewinnen – vorausgesetzt, man lässt sich von ihnen nicht schrecken, sondern sucht (1) nach Orientierung und Struktur (siehe die Fresken von Blaibach), (2) kennt Fenster für den Blick ins Weite (siehe das Rathaus) und weiß in seinem Fundament (3) Schätze dank Musik, Philosophie und Kunst zu erleben (siehe das Konzerthaus). Selbst wenn man das Gebotene vielleicht schon kennt, am Ende lässt sich für seinen Alltag doch neue Zuversicht, aber auch Trost und Kraft gewinnen.

Immer wenn ich nach Blaibach komme, fasziniert und ermutigt mich der neu gestaltete Dorfplatz von Neuem mit seiner Atmosphäre – dank seines Konzerthauses, des Rathauses mit seinen Fenstern und der umgebenden Fresken an den alten Häusern, mit der Botschaft: Kein Alltag muss so bleiben, wie er sich anfühlt. Die Botschaft ist klar und eindeutig: Alltage gewinnen, wenn man sie (1) bereitwillig tut, (2) sie immer wieder zu gestalten versucht und (3) sie als Teil der eigenen Lebensführung betrachtet (nach Volker Gerhardt). Wer in diesem Bemühen Sinn-Momente aufspürt, findet für seinen und in seinem Alltag – so mühevoll er auch sein mag – Tiefe, Weite und Orientierung und letztlich immer wieder und ganz unvermutet Momente von Glanz.

Zumindest die Botschaft von Blaibach mit seinem Konzerthaus ist klar und fast ein wenig zu direkt: Putze doch wieder einmal Dein Fenster, damit Du klar in die Weite blicken kannst und gehe die Treppe hinunter – dorthin, wo Musik ertönt, man Gedichte liest oder philosophische Gespräche führt. Und wenn Dir alles zu viel erscheint, betrachte oder male Dir ein Bild, setze Dich einige Minuten ruhig auf einen Stuhl, atme selbstvergessen durch und finde so zur Orientierung und Struktur und bedenke: „Der Verzicht nimmt nicht, er gibt!“ (Martin Heidegger). Das alles ist in Blaibach zu erleben!

Auch wenn Martin Heidegger sein kleines Essay (s. u.) aus anderem, persönlich belastendem Anlass geschrieben hat – ganze neun Seiten (!) –, gelten dessen ausdrucksstarke wie eindrucksvolle Sätze ebenso für unseren Alltag.

Aus „Der Feldweg“ von Martin Heidegger (1953)

… dass Wachsen heißt, der Weite des Himmels sich öffnen und zugleich in das Dunkle der Erde wurzeln; dass alles Gediegene nur gedeiht, wenn der Mensch gleich recht beides ist: bereit zum Anspruch des höchsten Himmels und aufgehoben im Schutz der tragenden Erde.

Das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen. Unvermittelt kehrt es bei den Menschen ein und braucht doch ein langes Gedeihen. Im Unscheinbaren des immer Selben verbirgt es seinen Segen. Die Weite aller gewachsenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spendet Welt. Aber der Zuspruch des Feldweges spricht nur so lange, als Menschen sind, die ihn hören können.

 Der Mensch versucht vergeblich, durch sein Planen den Erdball in Ordnung zu bringen, wenn er nicht dem Zuspruch des Feldweges eingeordnet ist. Die Gefahr droht, dass die Heutigen schwerhörig für seine Sprache bleiben. Ihnen fällt nur noch der Lärm der Apparate, die sie fast für die Stimme Gottes halten, ins Ohr. So wird der Mensch zerstreut und weglos. Den Zerstreuten erscheint das Einfache einförmig. Das Einförmige macht überdrüssig. Die Verdrießlichen finden nur noch das Einerlei. Das Einfache ist entflohen. Seine stille Kraft ist versiegt.

 Wohl verringert sich rasch die Zahl derer, die noch das Einfache als ihr erworbenes Eigentum kennen. Aber die Wenigen werden überall die Bleibenden sein. Sie vermögen einst aus der sanften Gewalt des Feldwegs die Riesenkräfte der Atomenergie zu überdauern, die sich das menschliche Rechnen erkünstelt und zur Fessel des eigenen Tuns gemacht hat.

Der Zuspruch des Feldweges erweckt einen Sinn, der das Freie liebt und auch die Trübsal noch an einer günstigen Stelle überspringt in eine letzte Heiterkeit. Sie wehrt dem Unfug des nur Arbeitens, der, für sich betrieben, allein das Nichtige fördert.

Die wissende Heiterkeit ist ein Tor zum Ewigen. Das Einfache ist noch einfacher geworden. Das immer Selbe befremdet und löst. Der Zuspruch des Feldweges ist jetzt ganz deutlich. Alles spricht den Verzicht in das Selbe.

Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen. Der Zuspruch macht heimisch in einer langen Herkunft.

Literatur:

Breitinger, M. (1989): Alltag und schwere geistige Behinderung. Würzburg: Ed. Bentheim.

Fischer, D. (2019): FreiWillig. Angehörig/e/er – aus heilpädagogischer Sicht. Baunach: Spurbuchverlag

Fischer, D. (2023): Jugendliche in der Haft. Remscheid: Rediroma-Verlag.

Gehlen, A. (2016): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Frankfurt: Klostermann-Verlag.

Gerhardt, V. (2018): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Berlin: Reclam

Goffman, E. (1973): Asyle. Frankfurt a. M.

Heidegger, M. (2006): Der Feldweg. 8. Auflage. Frankfurt: Klostermann-Verlag.

Heidegger; M. (2010): Brief über den Humanismus. Frankfurt: Klostermann-Verlag.

Husserl, E. (1986): Phänomenologie der Lebenswelt. Berlin: Reclam.

Müller, Th. (2016): Ich kann Niemandem mehr vertrauen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt-Verlag.

Ringel, D. (2000): EKEL in der Pflege – eine „gewaltige“ Emotion. Frankfurt a. M.: Mabuse-Verlag.

Thimm, W. (2005): Helfen als Beruf. In: VHN, Heft 4. Zürich.

Wortmann, M. (2002): Der Witwentröster. Köln: Kiepenheuer und Witsch.

Buch:

Dieter Fischer

Heilpädagogik – ein Versprechen

Taschenbuch, 380 Seiten

13,15 Euro

Würzburg: edition bentheim (2009)

ISBN-13: 978-3934471795

In diesem Buch fasst Dieter Fischer seine Erfahrungen und seine Arbeiten unter der originellen Kategorie „Versprechen“ zusammen – ein glücklicher Griff. Der Autor verortet sich und die Aufgabe der Pädagogik in der Sprache und schließt damit an die dialogische Methode an, ohne das ausdrücklich zum Thema zu machen. Bezeichnend dafür ist der Begriff des „zwischen uns“, das was „zwischen“ Menschen geschieht, die nicht personelle, nur in der Sprache beruhende Schaltstelle zwischen dem, der „verspricht“, und dem, der das „Versprechen“ empfängt. „Sprechen – egal in welcher Form – ist identitätsstiftend.“

Eines seiner größten Vorzüge liegt darin, dass es die Leserinnen und Leser in einen befreiend weiten Horizont hineinnimmt. Es lehrt, im Kleinen das Große zu erkennen und anzunehmen.

Andreas Möckel (Auszug)

Autor:

Dr. phil. Dieter Fischer, Akad. Dir.

Universität Würzburg (Lehrstuhl Sonderpädagogik II) bis 2003 – Grundschul- und Hauptschullehrer, Studium der Sonderpädagogik, Psychologie, Psychiatrie und evangelischen Theologie. Begründer und Rektor einer Schule für Geistigbehinderte (Bruckberg – Diakonisches Werk Neuendettelsau). Erfahrungen im (Jugend)-Strafvollzug (Straubing; Adelsheim), in einer Klinik für Rückenmarksverletzte und im Rehabereich für Kinder und Jugendliche mit Schädel-Hirn-Verletzungen. Vielfältig freiberuflich tätig. Zahlreiche Publikationen: u.a. „Heilpädagogik – ein Versprechen“ (2009); „Angehörig/e/r werden aus heilpädagogischer Sicht“ (2019). Ehrenamtlich gut zwei Jahre Flüchtlingsarbeit (u.a. Nachhilfe in Deutsch) und von Januar 2018 bis 2021 (mit Corona-Unterbrechungen) in der JVA Adelsheim mit dem Auftrag „Heilpädagogische Einzelförderung“ für verhaltensschwierige und lernschwache Jugendliche.

dgf-fischer@gmx.de