Ein fröhliches Familienporträt im Wohnzimmer, in dem eine Frau und ein Mann neben einem jungen Erwachsenen sitzen. Die lächelnde Frau trägt ein graues Strickoberteil. Der Mann, bärtig und kahlköpfig im weißen Shirt, lächelt ebenfalls und umarmt seine Frau und seinen erwachsenen Sohn mit Trisomie 21.

Eltern leisten Übermenschliches und wünschen sich Willkommenskultur statt Kostendenken", meint Birte Müller aus eigener Familien-Erfahrung.

Foto: © Birte Müller
aus Heft 2/2024 – Aus Elternsicht
Birte Müller

Liebe als Superkraft

Neulich hörte ich eine Lesung des neuen Romans „Alle meine Geister“ von Uwe Timm. Er erzählt darin von seinen Jugendjahren im Nachkriegsdeutschland. Eine Szene des Buches berührte mich ganz besonders und geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Timm beschreibt, wie der Junge namens „Karlchen“ am 4. Mai 1945 – also einen Tag nach der Kapitulation Hamburgs – zum ersten Mal in seinem Leben die Wohnung verlässt, in der seine Eltern ihn sein Leben lang versteckt hatten.

Der 12-Jährige tanzt tapsig auf der Straße, er umarmt die Bäume und gibt seltsame Schreie von sich. Karlchen hatte das Downsyndrom, genau wie mein Sohn Willi. Willi wurde ein Dreivierteljahrhundert später in demselben Stadtteil geboren wie Karlchen, mit derselben Genbesonderheit: Trisomie 21. Und doch kann man sein Leben mit dem von Karlchen nicht vergleichen, denn diesen hätte man zu seiner Zeit als „mongoloiden Idioten“ bezeichnet und ihn wahrscheinlich ermordet, wäre es seinen Eltern nicht gelungen, seine Existenz zwölf Jahre lang – von Hitlers Machtergreifung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges – zu verheimlichen.

Wie viel Ängste, Entbehrungen und Verzweiflung muss diese kleine Familie dort in der Wohnung unter dem Dach durchlitten haben? Es kommt mir vor wie ein Wunder, dass sie diese Zeit überlebten, sowohl körperlich als auch psychisch. Wie haben sie das Kind ernährt mit den Rationen der Lebensmittelkarten, die doch schon für zwei Menschen zu knapp waren? Ob Karlchen als Baby auch so viel spucken musste und später so einen unbändigen Appetit entwickelte wie unser Willi? Und wie wurde er gesundheitlich versorgt? Willi wäre ohne medizinische Hilfe schon in seinem ersten Lebensjahr mehrfach gestorben. Karlchens Eltern können auch all die Jahre das Haus nie gemeinsam verlassen haben. Einer von ihnen musste ja immer dableiben, um aufzupassen, damit niemand erfuhr, dass dort ein kleiner Mensch am Leben war, dem nicht nur der Lebenswert abgesprochen wurde, sondern der zu einer „Ballastexistenz“ erklärt worden war. Also mussten die Eltern die unfassbare Last tragen, ihr Kind vor dieser menschenverachtenden Gesellschaft ganz alleine zu beschützen.

Was wäre aus meinem Mann und mir geworden, ohne die Unterstützung unserer Familie, Freunde oder Willis großartiger Schule, die immer an unserer Seite sind? Allein der Gedanke, dass jedes laute Geräusch von Karlchen – und sei es sein Lachen – ihm das Leben hätte kosten können, schnürt mir die Kehle zu. Waren wohl die Großeltern oder ein paar Freunde eingeweiht, vielleicht sogar ein Arzt? Haben es die Nachbarn gewusst und geschwiegen? Ich möchte das gerne glauben, damit es etwas weniger schmerzt. Karlchen hat überlebt, aber was für eine Kindheit muss es gewesen sein, in einer Wohnung eingesperrt, leise sein, immer leise sein, nicht mal aus dem Fenster schauen dürfen – denn dort konnte man gesehen werden. Ich versuche mich damit zu trösten, dass die bedingungslose Liebe seiner Eltern dem kleinen Karl selbst unter diesen Bedingungen ein kleines Glück ermöglicht hat. Doch mit welcher rasenden Angst müssen sie all die Jahre gelebt haben? Ich kann mir ihren Schmerz und ihre Einsamkeit unmöglich vorstellen!

Heute muss man sein behindertes Kind nicht mehr verstecken. Ich habe – anders, als die Generation meiner Mutter es noch erlebt hat – auch nie das Gefühl, ich müsste mich für Willi schämen. Den Vorwurf, es sei egoistisch, ein Kind mit einer „vermeidbaren“ Behinderung zu bekommen, da dieses die Sozialsysteme belaste, habe ich allerdings gehört. Ich kann sagen, dass mich selten etwas so sehr verletzt und wütend gemacht hat wie die Reduzierung meines Kindes auf einen Kostenfaktor und somit auf etwas wie menschlichen Ballast. Es ist außerdem bizarr, gerade Eltern behinderter Kinder als Egoist:innen zu bezeichnen. Selbst heute unter den vielleicht besten gesellschaftlichen Bedingungen für Menschen mit Beeinträchtigungen, die es bei uns jemals gab, leisten wir oft Übermenschliches, um unseren Kindern und ihrer Umwelt gerecht zu werden. Leider ist es sehr schwierig, anderen zu vermitteln, wie herausfordernd Pflege und Betreuung über einen langen Zeitraum sein kann. Wenn ich die Realität unbeschönigt beschreibe, klingt es für Außenstehende zwangsläufig wie etwas Furchtbares, als das man es selber in der Regel nicht empfindet, weil man den Menschen unendlich liebt, um den es geht. Darum spreche ich am liebsten nur mit anderen Eltern behinderter Kinder über Überforderung, Trauer oder Aggressionen, denn sie wissen, dass ich damit Willis Existenz niemals infrage stelle. Seit Willi ausgezogen ist und nur noch jedes zweite Wochenende und in den Ferien zu Hause ist, wundere ich mich, wie wir das all die Jahre vorher geschafft haben und dabei sogar eine ganz glückliche Familie waren. Erst rückblickend wird mir klar, was wir geleistet haben und was im Prinzip alle Eltern behinderter Kinder leisten. Aus unserer Liebe entstehen anscheinend Superkräfte, die wir brauchen, um unseren Alltag zu bestehen, zusätzlich Vereine, Schulen und Wohneinrichtungen zu gründen und noch Öffentlichkeitsarbeit zu machen.

Einmal besuchte ich einen Vortrag des Historikers und Politikwissenschaftlers Götz Aly. Es ging um die Ermordung behinderter und psychisch kranker Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus und war für mich kaum auszuhalten. Herr Aly sprach an einer Stelle auch davon, dass nachweislich Eltern – nicht nur einzelne und nicht nur aus Notlagen heraus – ihre behinderten Kinder freiwillig in die Kliniken gaben, aus denen sie wissentlich nie wieder nach Hause kommen sollten. Dieser Vorwurf erschien mir ungeheuerlich, denn es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft. Zugegebenermaßen fehlte mir aber ebenso die Fähigkeit, mir vorzustellen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass diese furchtbare Auffassung vom „lebensunwerten Leben“ in den Köpfen der Menschen allgemein verbreitet war. Ich dachte jedoch, dass die Liebe zum eigenen Kind letztendlich das elementarste Gefühl überhaupt sei, das zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt gleich groß sein müsste. Ich fragte Götz Aly nach der Veranstaltung, ob es denn seiner Meinung nach möglich sei, dass Eltern ihre behinderten Kinder in der Nazizeit weniger geliebt haben könnten als heute. Er beantwortete mir diese Frage ganz klar mit: „Ja, aufgrund der Umstände.“ Unbegreiflich, aber doch wahr – sogar bis in die Herzen mancher Eltern konnte die propagierte Abscheu gegen alles „Andersartige“ und die Vorstellung von Behinderung als „ein Dasein ohne Leben“ vordringen.

Da erst wurde mir klar, welche massiven Auswirkungen und Gefahren von allgemeinen gesellschaftlichen Vorstellungen ausgehen: Sie können sogar die Liebe beeinflussen und Mütter und Väter dazu bringen, ihre eigenen Kinder in die Hände von Mördern zu geben. Die Idee der „Rassenhygiene“ war übrigens keine Nazierfindung. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde Eugenik in fast allen sogenannten zivilisierten Staaten diskutiert und angewendet. In den USA, der Schweiz oder beispielsweise im sozialdemokratischen Schweden wurden Rassegesetze verabschiedet und für die Förderung eines gesunden „Volkskörpers“ reihenweise vermeintlich „erblich Minderwertige“ zwangssterilisiert. Was dann später in Nazideutschland unter dem Schlagwort Euthanasie betrieben wurde, war die konsequente Fortführung dieser Ideen und artete in ein beispielloses Tötungsprogramm aus, das Hunderttausenden als „unnütz“ betrachteten Menschen das Leben kosten sollte – ganz ohne größere Proteste in der Bevölkerung. Der Euphemismus „Gnadentod“ steht für den Massenmord an den Schwächsten der Gesellschaft im Namen der „Volksgesundheit“. Nur diejenigen „Geisteskranken“, deren Arbeitskraft sich in den Heimen lukrativ ausbeuten ließ, wurden in der Regel verschont und viele der Täter zogen nach 1941 weiter in die Vernichtungslager im Osten, wo sie ihre – bei den heute so genannten Krankenmorden – gesammelte Expertise für die massenhafte Vergasung von Juden einbrachten.

Überall dort, wo Menschen abgewertet werden – aufgrund ihres Pflegebedarfes oder warum auch immer – und als gesellschaftlicher Kostenfaktor betrachtet werden, sollten wir uns daran erinnern, in welcher unvorstellbaren Grausamkeit solche Denkansätze einstmals mündeten. Wer heute gerne Kosten-Nutzen-Abwägungen machen möchte, sollte – statt Menschen mit Behinderung das Lebensrecht abzusprechen – dafür sorgen, dass deren Angehörige mehr Anerkennung bekommen und deutlich besser bei ihren Aufgaben unterstützt werden. Selbst Superkräfte sind nicht unerschöpflich und die Sozialsysteme sparen tatsächlich viel Geld, solange Eltern behinderter Kinder gesund und motiviert sind. Es muss uns nachdenklich stimmen, dass behindertes Leben weiterhin systematisch aussortiert wird, und das vielleicht effektiver als je zuvor. Die Verantwortung für Leben oder Sterben wurde ganz zwanglos und fast stillschweigend in die Hände der werdenden Eltern gelegt, die dies „allein“ entscheiden sollen. Doch gerade die Angst davor, „allein“ zu sein, macht vielen diese Entscheidung schwer. Ein Kind großzuziehen ist keine Privatangelegenheit, wir sind dabei immer auf soziale Strukturen, Hilfe und Toleranz unserer Mitmenschen angewiesen.

Was vermittelt einer schwangeren Frau das große Angebot an pränatal diagnostischen Untersuchungen – oft sogar als Kassenleistung –, wenn nicht zumindest eine gewisse gesellschaftliche Erwartungshaltung. Sonst gäbe es diese Tests ja gar nicht oder nur auf Nachfrage. Immer wieder heißt es, dass die Eltern frei entscheiden könnten, aber ich frage mich, ob wir uns wirklich darüber bewusst sind, wie abhängig diese existenziellen Entscheidungen von unserer gesellschaftlichen Atmosphäre sind. Haben wir eine Willkommenskultur für diejenigen Menschen, die wir als „behindert“ bezeichnen? Lachen sie uns entgegen auf Broschüren in Wartezimmern gynäkologischer Praxen mit den Worten: „Wir freuen uns auf Dich“ oder: „Zusammen schaffen wir jede Herausforderung!“?

Seit Jahren sehen wir stattdessen in Deutschland dem Erstarken der rechtspopulistischen und extremistischen AFD zu, deren ehemaliger Bundessprecher Jörg Meuthen nicht einmal davor zurückschreckte, den Begriff „Volksgesundheit“ erneut aus der Nazischublade zu ziehen. AFD-Politiker Höcke spricht offen aus, dass er „gesunde Schulen“ wolle, die von der Inklusion „befreit“ werden müssten, da solche Projekte „Kinder nicht leistungsfähiger machen“, und das, ganz ohne dass ein Sturm der Entrüstung losbricht.

Ich denke, unsere gesellschaftliche Verantwortung, für ein soziales Klima zu sorgen, in dem jeder Mensch erwünscht ist, ist heute so groß wie seit 100 Jahren nicht. Wer jetzt gegen die AFD und ein antiindividualistisches Menschenbild demonstriert – wie es Anfang des Jahres auch hier in Hamburg Hunderttausende taten –, der geht damit auch für das Leben aller Karlchens und Willis dieser Welt auf die Straße. Unsere Gesellschaft braucht unsere Kinder unbedingt, um eine menschliche Gesellschaft zu sein. Und es braucht die Eltern – denen ich übrigens allen dringend empfehlen möchte, sich doch ein bisschen Egoismus zuzulegen, damit unsere Superkräfte lange halten!

Autorin:

Birte Müller, geboren 1973 in Hamburg, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Seit sie Kinder hat (eins davon mit extra Chromosom), schreibt die ausgebildete Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Kolumnen – zurzeit für die taz über ihre „Schwer mehrfach normale Familie“. Sie erschienen auch in Buchform unter dem Titel „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“.

E-Mail: birte@illuland.de