Autismus und Adoleszenz, eine Adoleszenz +
„Adoleszenz ist, wenn die Eltern schwierig werden“, sagt man. Die Adoleszenz ist eine aufregende Zeit im Leben eines jeden Menschen. Eine Zeit großer Verände-rungen, des Übergangs von der Kindheit ins Erwachsenenleben, nicht selten auch eine Zeit voller Konflikte, die für alle anstrengend sein kann.
→ Vielleicht fragen Sie sich, warum hier der sperrige Begriff Adoleszenz verwendet wird? Klären wir deshalb zunächst einmal ein, zwei Bezeichnungen, die in diesem Zusammenhang wichtig sind.
Der Begriff Pubertät wird in der Alltagssprache häufiger und umgangssprachlich oft bedeutungsgleich mit Adoleszenz verwendet. Sie bezeichnet aber nur den Prozess des Erreichens der Geschlechtsreife. Hier geht es also um biologische Prozesse, die dazu führen, dass jemand fortpflanzungsfähig ist. Sie sind nur ein Teil der Adoleszenz.
Die Adoleszenz hingegen beinhaltet neben diesen auch alle sozioemotionalen Veränderungen. Adoleszenz ist der Überbegriff, der alle Entwicklungen des Jugendalters umfasst. Sie ist nach dem Erreichen der Geschlechtsreife noch nicht abgeschlossen, sondern reicht bis in das dritte Lebensjahrzehnt hinein.
In diesem Beitrag geht es also um die Adoleszenz und noch konkreter: die Adoleszenz von Heranwachsenden im Autismus-Spektrum. Die biologischen Prozesse – also alles, was innerhalb der Pubertät geschieht – werden durch den Autismus nicht berührt, die sozioemotionalen schon. Wir konzentrieren uns also darauf.
Heute wissen wir, dass sich in der Zeit der Adoleszenz bedeutende neurologische Umbaumaßnahmen vollziehen. Das Gehirn ist in dieser Zeit mit einer Baustelle vergleichbar. Die Umstrukturierungen werden u. a. durch Hormone angestoßen, die auch für die körperlichen Veränderungen im Rahmen der Pubertät zuständig sind.
Dabei lassen sich aus psychologischer Sicht drei Phasen identifizieren.
Die frühe Adoleszenz ist gekennzeichnet durch eine erhöhte emotionale Erregbarkeit und eine verstärkte Suche nach Anregung und Belohnung.
Die mittlere Adoleszenz zeigt sich durch eine größere Risikobereitschaft und eine weiter geschwächte Gefühls- und Verhaltenskontrolle.
In der späten Adoleszenz verbessert sich die Selbstregulation wieder (Ayan 2010, 16).
Man kann nicht ganz genau sagen, wann bei einem Heranwachsenden
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird die männliche Form verwendet, auch wenn alle Formen der Genderzugehörigkeit gemeint sind.
die Adoleszenz beginnt. Es gibt hierbei individuelle sowie bei der Pubertät vor allem geschlechtsspezifische Altersunterschiede. Bei Jungen beginnt sie um das 14. Lebensjahr und dauert ca. vier Jahre. Bei Mädchen beginnt sie um das 12. Lebensjahr und dauert ca. drei Jahre.
So wie eine Baustelle im Straßenverkehr Auswirkungen auf den Verkehrsfluss hat, haben die neurologischen Veränderungen Auswirkungen auf die Wahrnehmung und damit auf das Erleben, das Denken und das Verhalten. Manches läuft plötzlich nicht mehr ganz reibungslos und auch „Unfallschwerpunkte“ können entstehen. Doch darauf kommen wir später noch zu sprechen.
All das trifft auch auf die Heranwachsenden im Autismus-Spektrum zu, manches sogar in einem besonderen Maße. Sie spüren nicht nur die Folgen der „Baustellentätigkeit“, die auch das Leben der neurotypischen Gleichaltrigen betreffen, sondern darüber hinaus noch weitere. Das kann dazu führen, dass sie diese Lebensphase als besonders schwierig erleben. Temple Grandin, eine Professorin für Tierpsychologie im Autismus-Spektrum, bezeichnete ihre Adoleszenz als „wohl die unglücklichste Zeit meines Lebens“ (Grandin 1994, 62).
Die „Baustelle“ Gehirn
Zu Beginn der Adoleszenz stellt das Gehirn Ressourcen zur Verfügung, damit sich der Heranwachsende schnell an neue Lebensbedingungen anpassen kann. Winzige Verzweigungen der Gehirnzellen beginnen jetzt üppig zu sprießen.
Über viele Generationen hinweg war die Adoleszenz nämlich der Lebensabschnitt, in dem Menschen als Erwachsene angesehen und behandelt wurden. Sie zogen z. T. ohne die Herkunftsfamilie an neue Orte und lebten in neuen Gruppen. Das zog viele Veränderungen nach sich: neue Herausforderungen, eine andere soziale Rolle, bislang unbekannte Bezugspersonen, ein anderer Wohnort, ein veränderter Tagesrhythmus. Man musste in kurzer Zeit viel lernen und das Gehirn war bestens darauf vorbereitet.
Diese neurobiologische Ressource für das Lernen haben auch Heranwachsende im Autismus-Spektrum. Sie machen oft besonders viele Entwicklungsfortschritte in dieser Zeit.
Siehe das Interview mit Professor Gary Mesibov, verfügbar unter: www.lookingupautism.org/Articles/GaryMesibov.html
Bedauerlich ist, dass diese vorhandene neuronale Ressource gegenwärtig viel zu wenig genutzt wird. Gibt es nun grundlegend veränderte Anforderungen zu Beginn der Adoleszenz? Fehlanzeige!
Zwischen dem 13. und dem 16. Geburtstag ändert sich in unserem Kulturkreis kaum etwas. Unter der Woche geht der Jugendliche in die Schule, eventuell treibt er noch Sport oder macht Musik. Am Wochenende ist er zu Hause oder trifft sich mit Freunden.
Später verschwinden allerdings mehr als die Hälfte der Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen wieder. Sie werden nicht mehr benötigt. Nur die am meisten verwendeten bleiben übrig. Vor Jahrhunderten hatte sich der junge Mensch in diesem Lebensabschnitt an die neuen Bedingungen angepasst. Die Chance eines Lernturbos ist damit vorbei. Man nennt diesen neurologischen Prozess Pruning.
Auch Jugendliche im Autismus-Spektrum haben das neurologische Potenzial für besondere Entwicklungsfortschritte. Es ist also eine gute Zeit, Neues zu lernen. Vielleicht lohnt es sich, mit einer Logopädie oder einem Sozialtraining zu beginnen. Oder es kann der Weg zur Schule geübt oder Fahrradfahren gelernt werden.
Was glücklich macht
Auch das köpereigene Belohnungssystem erfährt in dieser Zeit eine einschneidende Veränderung und schafft damit veränderte Lernvoraussetzungen. Der menschliche Körper hat die erstaunliche Möglichkeit, eigenes Verhalten zu beeinflussen. Er kann Glücksbotenstoffe ausschütten und sich damit selbst belohnen.
Es handelt sich dabei um Neurotransmitter und Hormone, die angenehme Gefühle hervorrufen. Sie sind wie Wegweiser und zeigen auf, was wiederholt werden soll, weil es gut für eine Person ist.
Alle Menschen sind auf der Suche nach körpereigenen Glücksbotenstoffen. Sie wiederholen deshalb Dinge, die ihnen Spaß machen.
Zu Beginn der Adoleszenz gehen etwa 30 % der Rezeptoren für den Glücksbotenstoff Dopamin verloren. Die Folge ist augenscheinlich: Alles erscheint langweilig. „Null Bock auf gar nichts“, lautet die neue Parole.
Mit dem Hund spazieren gehen? „Keine Lust!“ Mit Oma Eis essen? „Nein, danke!“
Viele Dinge, die in der Kindheit Spaß gemacht haben, locken die Jugendlichen nicht mehr hinter dem Ofen hervor. Auch das hat evolutionsbiologisch seinen Sinn. Um sich einem veränderten Leben zuwenden zu können, darf der Abschied von den lieb gewonnenen Dingen und Tätigkeiten nicht so schwer sein.
Es ist kein Zufall, dass die Schulleistungen bei vielen Mädchen und Jungen in der Adoleszenz schlechter werden. Es fühlt sich eben nicht mehr so gut an, wenn sich Oma über eine gute Zensur freut oder Mama lobt und Papa ein Küsschen auf die Wange drückt. Das sind keine Gründe mehr für Anstrengungen. „Hochleistungs-Chillen“ wird stattdessen zur neuen Lieblingsbeschäftigung.
Oft haben Kinder im Autismus-Spektrum in der Schule und zu Hause schon ein ausgeklügeltes Motivationssystem. Aber plötzlich funktioniert das nicht mehr. In der Schule tauchen neue Verhaltensmuster auf. Vielleicht legt der Jugendliche den Kopf auf die Bank und träumt vor sich hin. Die Pädagogen sind ratlos.
Es braucht also neue, veränderte Motivations- und Belohnungssysteme, wenn die gleiche Anstrengungsbereitschaft wie zuvor erreicht werden soll. Wenn man die Heranwachsenden gut beobachtet, entdeckt man andere Aktivitäten oder Objekte, die ihnen wichtig sind.
Die „pädagogische Schatzkiste“ sollte neu gepackt werden. Was interessiert die Heranwachsenden jetzt? Keine Angst vor Medien, Cola oder Chips – in verträglichen Dosen selbstverständlich. Lebensbegleitung heißt immer, Prioritäten zu setzen. Vielleicht ist es eine kleine Tüte Chips wert, wenn eine Woche lang keine Hausaufgaben vergessen wurden, oder eine zusätzliche Medienzeit am Abend, wenn das Vorbereiten auf die Nachtruhe problemlos geklappt hat.
Auf der Suche nach dem Kick
Die Reduktion der Dopamin-Rezeptoren hat aber noch andere Auswirkungen. Die Jugendlichen brauchen nun einen besonderen Kick, um das aus der Kindheit so vertraute Glücksgefühl herstellen zu können.
Die Biologie sucht sich immer ihre Wege. Stellt die Gesellschaft keine Bedingungen bereit, damit sich Jugendliche eine ordentliche Portion Glücksgefühl holen können – z. B. durch die Bewältigung neuer Herausforderungen –, suchen sich Jugendliche ihren Kick selbst.
Neurotypische Jugendliche entdecken risikoreiche oder anstrengende Sportarten für sich, sie machen heimlich verbotene Dinge und haben Spaß an Aktionen, von denen die Eltern gern erst 20 Jahre später erfahren wollen. Nicht alles, was sie tun, ist gesund, vernünftig und ungefährlich.
Jugendliche im Autismus-Spektrum haben meist kaum den Spielraum für solche aufregenden Erfahrungen. Von morgens bis abends sind sie unter Aufsicht. Dabei werden natürlich Risiken minimiert. Das ist gesund, aber langweilig. Auch sie suchen Glücksgefühle.
Zwangsläufig nutzen sie den Gestaltungsspielraum, den sie haben. So kommt es manchmal zu Verhaltensweisen, die die Erwachsenen vor Rätsel stellen. Für den Jugendlichen ist sein Verhalten aber sinnvoll. Es macht ihm Spaß!
Er steht nicht vor neuen Herausforderungen, die ihn glücklich machen. Er ist nicht am Nachmittag mit Freunden unterwegs oder fährt riskante Strecken mit dem Mountainbike.
Diese Möglichkeiten hat er nicht. Also sucht er seine eigenen. Manche beginnen mit Kot zu schmieren und genießen die intensiven Eindrücke dabei, andere zerstören Mobiliar und können sich so körperlich ausagieren, wieder andere verlieren sich in Computerwelten. Alles dies geschieht – wenn auch nicht wissentlich – aus der Suche nach dem Glücksgefühl heraus.
Lassen Sie ein überschaubares Risiko zu! Kann der Jugendliche vielleicht den Schulweg allein gehen? Mit einem Erwachsenen eine mehrtägige Radtour unternehmen? Oder ohne Begleitung eine Station mit dem ICE reisen?
Eltern von Söhnen und Töchtern im Autismus-Spektrum machen sich oft große Sorgen – und befinden sich damit in guter Gesellschaft, nämlich jener der Eltern neurotypischer Jugendlicher. Natürlich haben die Eltern von Heranwachsenden im Autismus-Spektrum auch mehr und andere Gründe für ihre Sorgen. Zumeist haben sie größere Schwierigkeiten, mit unvorhergesehenen Problemen umzugehen oder Gefahren einzuschätzen. Das soll überhaupt nicht heruntergespielt werden.
Doch je mehr Möglichkeiten für Herausforderungen die Heranwachsenden haben, desto weniger müssen sie sich ihre eigenen, viel schlechter kalkulierbaren – und eventuell wirklich gefährlichen – suchen.
Ich will das, und zwar sofort
Die Impulskontrolle wird in der Adoleszenz geringer! Als Impulskontrolle bezeichnet man die Fähigkeit, ein augenblickliches Bedürfnis hinauszuschieben oder zugunsten eines langfristigen oder wichtigeren Bedürfnisses zu unterdrücken.
Bsp.: Wenn jemand Lust hat, auf dem Handy ein Spiel zu spielen, wäre die Fähigkeit, das auf später zu verschieben, ein Hinausschieben. Wenn die Person ganz auf das Spielen am Handy verzichtet, weil sie sich vorgenommen hat, ein Buch zu lesen, wäre das ein Beispiel für das Unterdrücken des Bedürfnisses zugunsten eines anderen.
Die Fähigkeit zur Impulskontrolle entwickelt sich beim Menschen schrittweise in Abhängigkeit seiner Gehirnentwicklung und seiner Lern- und Übungsmöglichkeiten. Impulskontrolle wird im Zusammensein mit anderen Menschen gelernt und geübt.
Genau hier liegt aber eine der zentralen Schwierigkeiten von Kindern im Autismus-Spektrum. Die Interaktion mit anderen ist beeinträchtigt. Deshalb gelingen auch Lern- und Übungsprozesse zum Erwerb der Impulskontrolle oft nicht gut. Jugendliche im Autismus-Spektrum haben also oft keine gut ausgeprägte Impulskontrolle.
Die neurologische Entwicklung ist dafür verantwortlich, dass die Impulskontrolle in der Pubertät abnimmt, auch bei Heranwachsenden im Autismus-Spektrum. Es ist also meist mehr und größere Unterstützung nötig als am Ende der Kindheit.
Was hilft?
Impulskontrolle zu halten ist anstrengend. Niemand strengt sich ohne Grund an, auch nicht die Jugendlichen im Autismus-Spektrum. Sie müssen es wollen!
Was könnte ihr Grund sein, das Handy liegen zu lassen oder nicht alle Kaffeetassen auf dem Tisch leer zu trinken? Schaffen Sie eine Motivation, wenn die Impulskontrolle wichtig ist!
Jugendliche haben oft nicht den langen Atem für langfristige Vorhaben. Brechen Sie die Anforderungen, die Impulskontrolle erfordern, zeitlich oder umfänglich so herunter, dass der Heranwachsende erfolgreich sein kann. Geben Sie zwischen den Teilen der Aufgaben Rückmeldung und lassen Sie Erholungsphasen zu. Anstrengung zu erwarten ist erlaubt, Überforderung nicht!
Wer eine schlechte Impulskontrolle hat, vergisst seine Vorhaben auch schneller. Außerdem muss der Vorsatz, Impulskontrolle zu halten, ja gerade dann erinnert werden, wenn das Bedürfnis auftaucht (Kliegel & Ballhausen 2018). Unterstützen Sie also das Gedächtnis, am besten visuell. Fotos, Piktogramme oder Schriftkarten an Orten, wo sie unübersehbar sind, eignen sich als Erinnerungshilfe.
Formulieren Sie positiv und ohne das kleine Wörtchen „nicht“ (indem Sie z. B. sagen: „Warte mit dem Essen, bis ich mich hingesetzt habe,“ statt: „Fang nicht immer sofort an zu essen!“). Es besteht sonst die Gefahr, dass man das Bedürfnis durch seine Benennung aktualisiert. Sie machen damit die Impulskontrolle schwerer.
Keine weiteren anspruchsvollen Aufträge, wenn jemand seine Bedürfnisse beherrschen soll! Nicht vergessen: Seine Bedürfnisse unter Kontrolle zu halten, ist anstrengend. Kommt dann noch eine weitere kognitive Anforderung hinzu, gelingen beide Aufgaben weniger gut.
Minimieren Sie Versuchungen! Es ist viel leichter, kein Eis zu essen, wenn keines im Haus ist, als wenn eine angefangene Packung im Tiefkühlfach ist. Je schwerer es einem gemacht wird, die Kontrolle zu verlieren, desto wahrscheinlicher wird die Person erfolgreich sein.
Jede Tätigkeit, die den Aufschub oder das Unterdrücken eines Bedürfnisses erfordert, mindert die Impulskontrolle bei der nächsten Aufgabe. Das nennt man „kurzfristige Selbstkontrollerschöpfung“ (Hofmann & Friese 2010, 28). Es müssen also Prioritäten gesetzt werden. Niemand kann seine Impulse durchgehend kontrollieren. Wann ist es besonders wichtig, dass jemand seine Bedürfnisse aufschieben oder unterdrücken kann? Vor- und hinterher braucht diese Person eine Pause davon.
Wie macht man das?
Jugendliche schaffen es plötzlich nicht mehr, sich pünktlich für die Schule bereit zu machen, sie vergessen Hausaufgaben und Schulmaterialien. Eltern und Lehrkräfte interpretieren das oft als Machtkämpfe. Das ist zwar gut möglich, es gibt aber auch neurologische Gründe.
Man nennt die Fähigkeiten, die man benötigt, um eine nicht automatisierte Handlung auszuführen, exekutive Funktionen. Dazu gehören u. a. die Fähigkeiten, Prioritäten zu setzen, die Zeit einzuteilen, Dinge in einer sinnvollen Reihenfolge zu erledigen, Impulse zu kontrollieren und die Aufmerksamkeit zu steuern, aber auch die, alternative Strategien zur Lösung eines Problems zu suchen.
Die exekutiven Funktionen sind bei Menschen im Autismus-Spektrum meist nicht altersgerecht entwickelt (Attwood 2008, 284). Doch egal, wie gut sie am Ende der Kindheit waren, in der Adoleszenz werden sie vorübergehend meist schlechter. Auch hier haben wir es also nicht mit einem Prozess kontinuierlicher Verbesserungen der Kompetenzen zu tun. Die Jugendlichen brauchen wieder stärkere Unterstützung.
Ich verstehe Dich nicht mehr
Wenn man Autismus als eine soziale Sehbehinderung oder sogar Blindheit versteht, wird klar, dass auch das Verständnis der Emotionen anderer Menschen erschwert ist. Nun sorgen aber die entwicklungsbedingten Veränderungen im Gehirn dafür, dass diese Fähigkeit vorübergehend noch abnimmt.
Die Geschwindigkeit, mit der alle Kinder die Gefühle anderer Menschen erkennen können, nimmt im Alter von elf bis zwölf Jahren um bis zu 20 Prozent ab. Die Reaktionszeit bleibt mehrere Jahre verlangsamt und erreicht erst im Alter von 18 Jahren wieder den Wert aus der Kindheit. Eine Verschärfung der Schwierigkeiten in der Adoleszenz ist bei Jugendlichen im Autismus-Spektrum also völlig entwicklungsgemäß (man könnte sagen: „normal“) und eine Verbesserung der Fähigkeit im Anschluss daran auch.
Es kann deshalb sinnvoll sein, Gefühle sehr klar zu äußern und die Körpersprache auch verbal zu unterstützen. Es ist hilfreich, Emotionen zu erklären, damit der Jugendliche sie verstehen kann.
Das Gehirn von Teenagern reagiert außerdem noch häufiger als das von Erwachsenen mit Angst und Misstrauen. Die Alarmanlage des Gehirns, die Amygdala, scheint überscharf eingestellt zu sein.
Von vielen Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung wird Angst als ein ganz zentrales Lebensgefühl beschrieben. 50 bis 70 Prozent der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen haben Angststörungen (Freitag, 2008, 152). Menschen mit dem Asperger-Syndrom sorgen sich oft unbegründet (Attwood 2008, 172 f.). Die Angst kann sich auch durch Aggressionen zeigen.
Die Zeit der Adoleszenz ist zugleich oft der Beginn von psychischen Störungen wie Angststörungen, aber auch Depressionen oder Magersucht. Bei Jugendlichen im Autismus-Spektrum besteht darüber hinaus noch ein erhöhtes Risiko, in dieser Zeit eine Epilepsie zu entwickeln. Das ist es, was eingangs als „Unfallschwerpunkt“ bezeichnet wurde.
Der Körper verändert sich
Darüber hinaus benötigen die Heranwachsenden im Autismus-Spektrum Informationen über die Veränderungen ihres Körpers. Die Peergroup, eine wichtige Informationsquelle neurotypischer Jugendlicher, fällt bei Personen im Autismus-Spektrum meist aus.
Es braucht also andere Quellen. Wenn sie dazu noch autismusfreundlich sind – umso besser. Je nachdem, womit man den Jugendlichen gut erreichen kann, kann man Social Stories schreiben, Bücher anfertigen oder Filmchen dazu drehen. Es gibt auch ein paar hilfreiche Bücher. Unterstützen können:
ein Arbeitsmaterial, das aus einem Handbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten und einem Arbeitsbuch für Heranwachsende ab einem Alter von 12 Jahren besteht: Boudesteijn et al. (2016): Psychosexuelle Entwicklung bei Jugendlichen mit Autismus. Das Training „Ich bin in der Pubertät“ (Handbuch), Ich bin in der Pubertät! (Arbeitsbuch). St. Gallen: Autismusverlag
vier kleine Bücher, je zwei für junge Mädchen, zwei für Jungen, jeweils mit Schrift oder METACOM-Symbolen: Reynolds, K. E. (2016): Was passiert mit Lena? St. Gallen: Autismusverlag. Reynolds, K. E. (2016): Was passiert mit Tom? St. Gallen: Autismusverlag
ein Comic von einer Frau im Autismus-Spektrum: Schreiter, D. (2015): Schattenspringer. Per Anhalter durch die Pubertät. Stuttgart: Panini Comics
Oft ist es hilfreich, die Jugendlichen bei der Anpassung ihrer Gewohnheiten zur Körperhygiene durch feste Regeln und Pläne zu unterstützen. Soziale Probleme und Ausgrenzungen müssen nicht durch Körpergeruch verstärkt werden.
Besonderheiten in der Adoleszenz bei Jugendlichen im Autismus-Spektrum
Identitätsfindung
„Wer bin ich und wer will ich sein?“ Das sind wichtige Fragen in der Adoleszenz. Die Identitätsfindung wird durch den Autismus erschwert. Höchste Zeit also, den Jugendlichen bei der Auseinandersetzung mit ihrem Autismus zu helfen. Es gibt im deutschsprachigen Raum drei Materialien, die man dazu heranziehen kann:
ein Arbeitsbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten von Vermeulen, 2002,
das Lose-Blatt-Material von Schatz & Schellbach aus dem Jahre 2008 und
Handbuch und Arbeitsordner von Faherty, 2012.
Freunde
Neurotypische Adoleszente verbringen viel Zeit mit Gleichaltrigen. Im Alter zwischen elf und fünfzehn Jahren ist die Orientierung an ihnen besonders stark und oft besteht auch ein großer Konformitätsdruck (Remschmidt 1992, 103).
Die Altersgenossen erfüllen viele Funktionen. Sie sind wichtige Gesprächspartner, eröffnen neue Welten, sind Informationsquelle, geben Geborgenheit, gewähren Vertrauen, Unterstützung und Identifikationsmöglichkeiten für andere Lebensstile, die eine Alternative zu denen der eigenen Familie darstellen. Außerdem unterstützen sie die Ablösung von den Eltern (Grob & Jaschinski 2003, 67).
Viele Jugendliche im Autismus-Spektrum ziehen sich in der Adoleszenz aber stärker in die Welt ihrer Spezialinteressen zurück. Hier sind sie kompetent. Die sozialen Anforderungen im Kontakt mit den Gleichaltrigen überfordern sie.
Es gibt also zwei gegenläufige Tendenzen. Während neurotypische Jugendliche sich von den Eltern lösen und eigene Netzwerke aufbauen, ziehen sich viele Jugendliche im Autismus-Spektrum aus ihren fragilen Beziehungen zu Gleichaltrigen zurück. Sehr viel mehr Jugendliche im Autismus-Spektrum als neurotypische beschreiben sich als einsam (Sarimski & Ritzenthaler 2020, 504).
Heranwachsende mit Asperger-Syndrom im Alter von vier bis siebzehn Jahren werden viermal häufiger gemobbt als neurotypische Gleichaltrige (Attwood 2008, 125). Mobbing scheint das Risiko für Selbstmord oder Selbstmordabsichten bei Heranwachsenden im Autismus-Spektrum zu verdreifachen (Theunissen & Feschin 2019, 10).
Was hilft? Die Begegnungen mit Gleichaltrigen müssen angenehm sein, wenn es Lust auf Wiederholung geben soll. Sie beinhalten auch nur dann Entwicklungspotenzial. Um sie angenehm zu machen, ist es sinnvoll, an die Interessen des Jugendlichen anzuknüpfen und ihm auf sicherem Terrain Erfahrungen mit anderen zu ermöglichen. Dabei geht es weniger um die Dauer der gemeinsam mit anderen verbrachten Zeit als um die erlebte Qualität. Lieber kurz und wunderbar als lang und schrecklich! Arbeitsgemeinschaften oder Vereine bieten manchmal Möglichkeiten, Heranwachsende mit ähnlichen Interessen zu treffen.
Ablösung von den Eltern
Die Ablösung von den Eltern ist ein Prozess, der im Grunde mit dem Durchtrennen der Nabelschnur beginnt, sich sukzessive entwickelt und in der Adoleszenz Fahrt aufnimmt. Motor dieses Prozesses ist in aller Regel der Heranwachsende.
Viele Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum nehmen ihre Funktion in diesem Ablöseprozess nicht wahr. Tatsächlich gibt es häufig eine geringere Autonomieentwicklung hinsichtlich ihrer sozialen Integration und Unabhängigkeit im Erwachsenenalter (Freitag et al. 2017, 17). Zudem haben einige einen hohen Hilfebedarf bei alltäglichen Verrichtungen wie der Körperhygiene oder der Nahrungsaufnahme, was das Selbstständigwerden zusätzlich behindert.
Um sich von den Kindern sukzessive lösen zu können, müssen die Eltern nun zwei Rollen übernehmen. Ihre eigene und zusätzlich die, die üblicherweise die Heranwachsenden in der Ablösung einnehmen. Das ist schwierig. Zudem kann es eine Quelle von Schuldgefühlen sein.
Während des Ablöseprozesses zwischen Eltern und Kindern müssen beide Seiten unterstützt werden. Die Heranwachsenden brauchen Angebote und Ermutigung, um Erfahrungen ohne die Eltern zu machen. Einige benötigen außerdem die Bestätigung, dass sie der Einflussnahme ihrer Eltern auch Grenzen setzen dürfen. Gleichzeitig benötigen die Eltern Informationen über den Ablauf des Ablöseprozesses und angemessene Unterstützung, um den Jugendlichen hier Erfahrungen zu ermöglichen.
Entwicklung einer befriedigenden Sexualität
Mit der Sexualität ist es ähnlich wie mit der Ablösung: Sie beginnt direkt nach der Geburt, entwickelt sich in der Kindheit weiter und bekommt dann in der Adoleszenz einen Schub. Die sexuelle Entwicklung mündet ja nicht nur in einen Geschlechtsakt, sie umfasst das Erlernen vieler sozialer Regeln und den Erwerb sozialer Kompetenzen.
Hier greift der Autismus als soziale Sehbehinderung oder Blindheit ein. Die sozialen Regeln werden nicht gut gespürt, z. B., wo man jemanden berühren darf oder wo man sich wie weit ausziehen kann. Es gibt immer wieder Regelübertritte, die schlimmstenfalls die Teilhabe beeinträchtigen können. Jemanden, der in der Öffentlichkeit immer wieder masturbiert, nimmt man eben nicht mehr mit ins Eiscafé.
Einigen Menschen im Autismus-Spektrum gelingt es auch nicht zu masturbieren. Das kann bei ihnen erhebliche Spannungen und sogar Aggressionen hervorrufen (Remschmidt 1995, 180).
Die Begleitung in diesem Bereich ist eine heikle Aufgabe. Menschen ohne differenzierte verbale Sprache sollte dennoch der Austausch über Sexualität ermöglicht werden. Dazu braucht man Fotos oder Piktogramme. Einen guten Überblick zum Thema Piktogramme und Sexualität findet man bei Lache (2016, 106 ff.)
Die Vermittlung von sozialen Regeln ist ebenfalls wichtig. Ein Hilfsmittel können die Bücher von Kate E. Reynolds (2016) „Dinge, die Tom Spaß machen“ und „Dinge, die Lena Spaß machen“ (2016) sein. Es gibt sie sowohl mit Piktogrammen als auch mit Schrift. Hierin werden die Begriffe „Öffentlichkeit“ und „Privatsphäre“ autismusfreundlich erklärt. Es wird erläutert, welche Körperteile man öffentlich zeigen kann und welche nicht und dass Masturbation eine schöne, aber private Handlung ist.
Ich hoffe, ich habe Ihnen mit meinen Ausführungen keine Angst eingejagt. Die gute Nachricht ist ja: Die Adoleszenz ist nur eine Phase. Sie geht vorbei! Ich wünsche Ihnen Gelassenheit und auch die Kraft zu staunen. Es ist doch schon aufregend, was in dieser Zeit so passiert!
Literatur
Attwood, T. (2008): Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom. Stuttgart: Trias.
Ayan, St. (2010): Der Jugendversteher. In: Gehirn & Geist, Heft 3, 14–17.
Boudesteijn F. et al. (2016): Psychosexuelle Entwicklung bei Jugendlichen mit Autismus. Das Training „Ich bin in der Pubertät“ (Handbuch), Ich bin in der Pubertät! (Arbeitsbuch). St. Gallen: Autismusverlag.
Faherty, C. (2012): Asperger … Was bedeutet das für mich? Handbuch und Arbeitsordner. St. Gallen: Autismusverlag.
Feinstein, A. (2010): Interview with Professor Gary Mesibov. In: Looking Up, 10(2). Verfügbar unter: www.lookingupautism.org/Articles/GaryMesibov.html, 29.12.22.
Freitag, Ch. M., Kitzerow, J., Medda, J., Soll, S. & Cholemkery, H. (2017): Autismus-Spektrum-Störungen. (= Leitfaden der Kinder- und Jugendpsychotherapie Bd. 24). Göttingen: Hogrefe.
Freitag, Ch. M. (2008): Autismus-Spektrum-Störungen. München: Ernst Reinhardt Verlag.
Grandin, T. (1994): Durch die gläserne Tür. München: dtv.
Grob, A. & Jaschinski, U. (2003): Erwachsen werden. Weinheim, Basel, BerlIn: Beltz.
Hofmann, W. & Friese, M. (2010): Zwei Seelen, ach, in meiner Brust. In: Gehirn & Geist, 11, S. 26–31.
Kliegel, M. & Ballhausen, N. (2018): Ein Gedächtnis für die Zukunft. In Gehirn & Geist, 2, 26–29.
Lache, L. (2016): Sexualität und Autismus. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Remschmidt, H. (1995): Krisenintervention bei autistischen Kindern und Jugendlichen. In: Autismus und Familie. Tagungsbericht der 8. Bundestagung. Hamburg: Bundesverband „Hilfe für das autistische Kind“ e.V., 176–185.
Remschmidt, H. (1992): Adoleszenz. Stuttgart, New York: Thieme.
Reynolds, K. E. (2016): Was passiert mit Lena? St. Gallen: Autismusverlag.
Reynolds, K. E. (2016): Was passiert mit Tom? St. Gallen: Autismusverlag.
Reynolds, K. E. (2016): Dinge, die Lena Spaß machen. St. Gallen: Autismusverlag.
Reynolds, K. E. (2016): Dinge, die Tom Spaß machen. St. Gallen: Autismusverlag.
Sarimski, K. & Ritzenthaler, A. (2020): Schulbegleiter von Schülerinnen und Schülern mit Autismus-Spektrum-Störung – eine bedarfsgerechte Unterstützung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 10, 503–515.
Schreiter, D. (2015): Schattenspringer. Per Anhalter durch die Pubertät. Stuttgart: Panini Comics.
Theunissen, G. & Feschin, Ch. (2019): Vulnerabilität, traumatische Erfahrungen, Stresserleben und Bewältigungsmöglichkeiten bei Jugendlichen im Autismus-Spektrum. In: autismus, 87, 6–16.
Vermeulen, P. (2002): Ich bin etwas Besonderes. Arbeitsmaterialien für Kinder und Jugendliche mit Autismus/Asperger-Syndrom. Dortmund: Verlag modernes lernen.
Autorin
Dr. Brita Schirmer ist eine Berliner Sonderschullehrerin. Vor fast 30 Jahren begann sie sich mit dem Thema „Autismus“ auseinanderzusetzen. Seitdem lässt es sie nicht mehr los. Sie ist als Dozentin im gesamten deutschsprachigen Raum tätig. Dabei hält sie Vorträge, leitet Seminare und begleitet Einrichtungen. Außerdem schreibt sie Bücher, unten stehend eine Auswahl.
dr.britaschirmer@gmx.de
Bücher
Schirmer, Brita (2022): Glücklich leben mit Autismus. 49 Fragen für Eltern, Therapeuten, Pädagogen und andere Lebensbegleiter. Stuttgart: Kohlhammer.
Schirmer, Brita (2021): Elternleitfaden Autismus. 3. Aufl. Stuttgart: Trias.
Schirmer, Brita (2016): Schulratgeber Autismus-Spektrum, 4. überarb. Aufl. München: Reinhardt.
Schirmer, Brita; Alexander, Tatjana (2015): Leben mit einem Kind im Autismus-Spektrum. Stuttgart: Kohlhammer.