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Selbstfürsorge als Unterstützung der Kontaktfähigkeit in der Assistenz-Tätigkeit
Die zentrale Aufgabe einer Persönlichen Assistenz im Kontext von Behinderung besteht in der Ermöglichung eines größtmöglichen Maßes an Selbstbestimmung der behinderten Person. Das kann beispielsweise beinhalten, das eigene Leben nach eigenen Werten und Vorstellungen im selbstbestimmten individuellen Rhythmus und in den eigenen vier Wänden zu gestalten oder ganz individuellen Vorstellungen in der Arbeitswelt oder Freizeit nachzugehen (VbA, o. J.).
Assistenz kann in diesem Zusammenhang mit „Unterstützung“ übersetzt werden (Conty et al., 2017, 544). Die Assistenz unterstützt den Willen des zu begleitenden behinderten Menschen, um es ihm zu ermöglichen, seinen Alltag selbstbestimmt zu gestalten. Die Leistungen und Aufgaben der Assistent:innen sind demnach sehr individuell an die Bedürfnisse und Wünsche der Assistenznehmer:innen angepasst. Der Begriff der Assistenz grenzt sich somit von Ansätzen der Förderung ab, die per se ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen den Leistungsberechtigten und den Leistungserbringer:innen hervorbringen (Conty et al., 2017, 546).
Im Arbeitgeber:innen-Modell fungiert die behinderte Person dabei als Arbeitgeber:in. Dabei bleibt ihr die Wahl, wie, wann, wo und von welchem Menschen Unterstützung gewollt ist. Die behinderten Menschen ergreifen selbstständig die Initiative (ebd.) und treffen Entscheidungen zu Einstellungen und Kündigungen. Arbeitgeber:in zu sein ermöglicht es behinderten Menschen, ihre eigenen Hilfeleistungen selbst zu gestalten und zu organisieren. Sie schließen Arbeitsverträge ab und arbeiten die Assistent:innen nach den ganz eigenen Vorstellungen in die erforderlichen Tätigkeiten ein, um ihr individuelles Leben möglichst selbstbestimmt zu gestalten (Conty et al., 2017, 544).
Die Assistent:innen befinden sich damit in einem Dienstleistungsverhältnis, das voll auf die Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen der Arbeitgeber:innen ausgerichtet ist. Sozialarbeiterische oder (heil-)pädagogische Interpretationen einer Assistenzstelle sind daher fehl am Platz.
Damit tritt ein Tätigkeitsprofil zum Vorschein, das einerseits davon geprägt ist, dass die eigenen Werte und Normen möglichst weit in den Hintergrund rücken und die wertungsfreie Unterstützung zugunsten eines selbstbestimmten Lebens des behinderten Menschen im Fokus steht. Andererseits umfasst die Assistent:innen-Tätigkeit in der Regel Nähe, Intimität und Intensität, beispielsweise aufgrund von Pflegetätigkeiten, mehrtägigen Einsatzzeiten sowie einem Mangel an Rückzugsmöglichkeiten. Die Persönlichkeit der Assistenz wirkt damit unweigerlich in das Leben der behinderten Person hinein. Arbeitgeber:in und Assistent:in sind unmittelbar aufeinander bezogen und in engem Kontakt. Dieser Kontakt weist in jeder individuellen Konstellation eine spezifische Qualität auf – idealerweise ist der Kontakt für beide Personen zufriedenstellend.
Aufgrund der Ambivalenzen im Tätigkeitsprofil von Assistent:innen wurden im Rahmen der im Folgenden vorgestellten qualitativen Studie, die für eine Bachelorarbeit durchgeführt wurde, die folgenden Fragestellungen formuliert:
Wie können persönliche Assistent:innen in Belastungssituationen vor Ort für sich sorgen, um die eigene persönliche Kompetenz der Kontaktfähigkeit zu stärken? Welche Formen der Selbstfürsorge werden konkret während der Tätigkeit der Persönlichen Assistenz angewandt?
Zunächst werden die für die Studie zentralen Begrifflichkeiten Kontakt und Selbstfürsorge eingegrenzt.
Kontakt
Kontakt ist mehr als ein Miteinandersein. Er findet im Wissen um die Andersartigkeit des jeweils Anderen statt. Wenn wir in Kontakt miteinander treten, wagen wir uns mit unserem Wesen an die eigene Grenze, hin zum Wesen des Anderen, ohne diesem etwas zu unterstellen oder etwas zurückzuhalten. Ob man nun müde ist, unsicher oder voller Lebensfreude, man zeigt sich dem Anderen als der, der man gerade ist. Es ist ein Sich-Riskieren, ein Sich-Zumuten (Polster/Polster, 1990, 102 ff.). Wenn sich ein Wesen an diese Grenze wagt, entsteht ein Kontaktangebot, auf das der Andere reagieren kann, indem er sich selbst an seine Grenze wagt. An der Kontaktgrenze findet Berührung statt. Dieser Moment wird auch „voller Kontakt“ genannt (Dreitzel 2004). Dreitzel (2004, 32 f.) beschreibt die Kontaktgrenze als eine Nahtstelle zwischen dem „leib-seelischen Organismus eines Menschen und seiner jeweiligen Umwelt“. An dieser Nahtstelle findet ein Austausch zwischen dem Individuum und seiner Umwelt statt. Hier wird das separate Wesen in der Differenz zum eigenen Wesen erfahren (Hartmann-Kottek, 2008, 109). Es wird „Welt“ erfahren (Dreitzel, 2004, 32 f.). Polster und Polster beschreiben den Kontakt als „das Herzblut der Entwicklung, das Mittel, sich selbst und seine Erfahrung in der Welt zu verändern“, da eine Veränderung das Resultat des Kontaktes sei: „Denn die Aufnahme des Assimilierbaren oder das Zurückweisen des Nichtassimilierbaren wird unausweichlich zu einer Veränderung führen“ (1990, 103).
Kontaktvolle Erfahrungen können mit jedem anderen Wesen gemacht werden. Sie finden auch innerpsychisch statt. Heller und LaPierre (2014, 12) beschreiben den Kontakt zu einem Anderen als Fähigkeit von Nähe, Intimität und als Möglichkeit, dauerhafte Beziehungen zu führen und so die Erfahrung von einer bereichernden Wechselseitigkeit zu machen. Der Kontakt zu sich selbst zeigt sich im Gewahrsein der eigenen emotionalen und körperlichen Erlebnisse (ebd.).
Weiter wird Kontakt als eines von fünf biologischen Kernbedürfnissen angesehen, die sowohl für unser psychisches als auch physisches Wohlergehen entscheidend sind (Heller/LaPierre, 2014, 11). Die Kontaktfähigkeit zu sich selbst und zu Anderen wird als Voraussetzung für emotionale Gesundheit formuliert (ebd., 50). Es wird davon ausgegangen, dass wir erst durch den Kontakt mit Anderen unsere eigene Identität im Kern begreifen und mit dem Leben Resonanz aufbauen können (Polster/Polster, 1990, 101 f.). Oder wie Martin Buber (2012, 32) formuliert: „Der Mensch wird am Du zum Ich“, und dadurch kommt dem eigenen Leben erst Bedeutung zu.
Entwicklungs- und Beziehungstraumata, fehlende liebevolle Einstimmung und andere Faktoren in der Entwicklung können den Kontakt zum eigenen leiblichen und mentalen Sein sowie zu anderen Menschen beeinträchtigen (Heller/LaPierre, 2014, 53) und damit zu einer mangelhaften Kontaktfähigkeit führen.
Kontaktunterbrechungen
In der Gestalttheorie werden Kontaktunterbrechungen beschrieben (Dreitzel, 2004, 53 ff.). Dazu gehört zum Beispiel die Projektion. Der Andere wird geleugnet, etwas eigenes wird ihm übergestülpt, und er wird nicht als das Gegenüber wahrgenommen, das er ist. An die Stelle des Anderen tritt die Unterstellung – der Kontakt wird unterbrochen (Blankertz/Doubrawa, 2005).
Beispiel: Anna fühlt sich in ihrer Arbeit nicht beachtet, die Arbeitgeberin/Assistenznehmerin vermeidet nach ihren Aussagen jeglichen Blickkontakt. Dies wird für Anna zu einer subjektiven Wirklichkeit, an der nicht zu rütteln ist. Sie bemerkt nicht, dass sie es ist, die den Blickkontakt vermeidet.
Introjektion als Form der Kontaktunterbrechung beschreibt den psychischen Mechanismus der Einverleibung von Glaubenssätzen. Diese Glaubenssätze werden so gelebt, als wären sie wahr, ohne sie zu überprüfen (Joyce/Sills, 2010, 117). Bei der Introjektion findet keine Erfahrung und somit auch kein Kontakt statt (Blankertz/Doubrawa, 2005).
Retroflexion kann übersetzt werden mit „zurückbiegen“ oder „zurückhalten“ (Blankertz/Doubrawa, 2005). Eine solche Kontaktunterbrechung findet statt, wenn man echte Impulse zurückhält und so den Energiefluss im Kontakt abbricht (Joyce/Sills, 2010, 108). Dauerhaft zurückgehaltene Impulse können sich in Depressionen, Spannungen und psychosomatischen Beschwerden zeigen (Joyce/Sills, 2010, 108).
Die Konfluenz ist eine Kontaktunterbrechung durch fehlende Kontaktgrenzen gegenüber der Umwelt. Es findet keine Differenzierung zwischen dem Ich und dem Du statt (Blankertz/Doubrawa, 2005). Hartmann-Kottek (2008, 111 f.) beschreibt die Konfluenz als eine Grenzauflösung, bei der die Existenz des Einzelwesens infrage steht.
Beispiel: Paul mag seine Assistentenstelle, hat aber aufgrund von Entlassungen immer wieder die Sorge, seine Arbeit zu verlieren. Er beginnt ganz unwissentlich – ohne Hinterfragen seiner eigenen Bedürfnisse und Werte – jeder Anweisung blind zu folgen, für seine Assistenzgeberin sogar zu lügen, um in keinen Konflikt zu geraten. So ist Paul als aufrichtiges Gegenüber nicht mehr spürbar und kein Kontakt möglich. Ein Sorgen für sich und seine Grenzen findet nicht statt. Die eigenen Grenzen sind nicht mehr spürbar und das Ich und das Du werden zum WIR.
Deflektion als Kontaktunterbrechung beschreibt eine Ablenkungsstrategie, bei der eine Abwendung von den eigenen Bedürfnissen oder auch der Umwelt stattfindet. Ein Einlassen auf sich selbst oder ein Gegenüber findet nicht statt. Gefühlen wird nicht nachgegeben, spürbaren Konflikten wird aus dem Weg gegangen, Blickkontakt wird vermieden oder es wird endlos gesprochen (Joyce/Sills, 2010, 109; Polster, 1990, 93ff).
Selbstfürsorge
Liel (2019, 255 f.) sieht in der Selbstfürsorge die Übernahme der Verantwortung für die eigene Gesundheit und erkennt damit eine Notwendigkeit der Sorge um sich selbst. Reddemann (2009, 565) beschreibt die Selbstfürsorge als „liebevollen, wertschätzenden, achtsamen und mitfühlenden Umgang mit mir selbst und Ernstnehmen der eigenen Bedürfnisse“. Frick (2015, 198) setzt Selbstfürsorge mit Selbstsorge – der Sorge um sich selbst – gleich und beschreibt damit einen liebevollen Umgang, der geprägt ist von Wertschätzung und Achtsamkeit. Das Ausüben von Selbstfürsorge definiert Frick als eine „Lebenskunst“ und eine „Lebensaufgabe“ sowie als einen stetigen Entwicklungsprozess einer für sich selbst sorgenden Haltung. Neff (2003, 89) benennt als Komponenten der Selbstfürsorge den freundlichen, achtsamen Umgang mit sich selbst, die Betrachtung der eigenen Erfahrungen als Teil des Menschseins und eine achtsame Selbstwahrnehmung. Letztere fokussiert das Sein als Voraussetzung für die Selbstfürsorge in der Sorge um sich selbst (Liel, 2019, 256).
Die achtsame Selbstwahrnehmung wurde von Heller und LaPierre als Kontakt zu sich selbst beschrieben, gemeinsam mit dem Gewahrsein der eigenen emotionalen und körperlichen Erlebnisse (Heller/LaPierre, 2014, 12). So kann auch nach dieser Definition die Selbstfürsorge als Voraussetzung des Kontaktes zu sich selbst gesehen werden. Der Kontakt zu sich selbst wird wiederum als Voraussetzung für die Kontaktfähigkeit mit dem Anderen beschrieben (Polster/Polster, 1990, 102 ff.). Damit stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten von Selbstfürsorge in der Tätigkeit der persönlichen Behindertenassistenz und in entsprechenden Strategien oder Strategieansätzen.
Gewahrsein ist ein aufmerksamer Zustand des Erlebens von Moment zu Moment, ein In-sich-selbst-Hineinlauschen (Joyce/Sills, 2010, 31ff). Dabei werden Prozesse wahrgenommen, die sich innerlich, äußerlich oder mental abspielen. Die innere Welt ist die leibgewordene Welt, mit allen Empfindungen und Gefühlen (ebd., 34). Dreitzel (2004) schreibt: „Sich im Zustand des Gewahrseins zu befinden heißt, sich in einem Ort jenseits vom Kontaktprozess zu verankern und ihn von dort aus mit der ganzen Aufmerksamkeit, die unseren Sinnen zur Verfügung steht, zu verfolgen und mit der ganzen Bewusstheit unseres Geistes anzufüllen“ (ebd., 131).
Hofmann und Hoffmann (2008) beschreiben als konkrete mentale Selbstfürsorgestrategien innere Pausen und den Ausstieg aus Interaktionen, um zu entspannen (166–167). Eine innere Abgrenzung wird durch das Wieder-bei-sich-selbst-Ankommen möglich. Wird bei Belastung mit Anspannung oder Übererregtheit reagiert, kann das Üben von Selbstentspannungsmethoden Hilfe leisten. Neben autogenem Training oder progressiver Muskelrelaxion sind es vor allem auch Atemtechniken, die durchaus während eines Dienstes angewendet werden können (Fengler, 1998, 203).
Leibliche Selbstfürsorge bezieht sich auf den Leib als Grundlage für das Erleben unseres Selbst, das Erleben von Emotionen, Empfindungen, Atmosphären und des Kontaktes zu Anderen (Hoffmann/Hofmann, 2008, 26). Um den „leiblichen“ Bedürfnissen nachzukommen, gibt es unzählige Möglichkeiten, die bereits mit Ausruhzeiten bei Erschöpfung oder dem Toilettengang bei voller Blase beginnen – und auch im Lüften des Raumes oder einem Ritual wie Händewaschen bestehen können – und dazu dienen, zu sich selbst zurückzufinden, Abstand zu gewinnen sowie Belastungen zu reduzieren (Hoffmann & Hofmann, 2008, 172).
Es gibt weitere Selbstfürsorgemaßnahmen, die nicht immer direkt umsetzbar sind und von Dritten abhängen, wie zum Beispiel Supervisionen und Fortbildungen.
Interviews mit Assistent:innen
Für die Erhebung der vorliegenden Untersuchung wurde die qualitative Methode des leitfadengestützten Expert:innenen-Interviews ausgewählt. Nach Helfferich (2019, 681) sind Expert:innen Personen, „die über ein spezifisches Rollenwissen verfügen, solches zugeschrieben bekommen und eine darauf basierende besondere Kompetenz für sich selbst in Anspruch nehmen“. In Tabelle 1 ist eine Übersicht über die interviewten Personen ersichtlich.
Frau M
Alter: 39 Jahre, verheiratet, zwei Kinder
Qualifikation: Heilpraktikerin
Angaben zur Tätigkeit: seit drei Jahren in der PA bei derselben Arbeitgeberin / 96 Stunden im Monat, aufgeteilt auf 24-Stunden-Dienste
Vorliegende Behinderung des AG: Autismus und weitere körperliche Einschränkungen, auf Rollstuhl angewiesen
Anforderungen der Tätigkeit: wenig Pflege; Anwesenheit, um auszugleichen, was Arbeitgeberin nicht schafft
Positives im Kontakt: gegenseitige bedingungslose Annahme. „Es ist nicht irgendwie gezwungen, sondern frei.“ (A/44)
Frau S
Alter: 34 Jahre, lebt in Partnerschaft, keine Kinder
Qualifikation: Verlagskauffrau
Angaben zur Tätigkeit: seit über zwei Jahren in der PA, seit drei Monaten neuer Arbeitgeber / derzeit 96 Stunden im Monat, aufgeteilt auf 24-Stunden-Dienste
Vorliegende Behinderung beim derzeitigen AG: Muskeldystrophie
Anforderungen an die Tätigkeit: Pflegetätigkeiten wie Waschen, Zähneputzen, nächtliches Umlagern, Versorgung, Mit-an-die-Uni-Fahren
Positives im Kontakt: „[…] wahnsinnig schön, weil’s sehr unanstrengend ist […] und er eigentlich fast wacher ist als andere Menschen. Und wir sind auf einer Wellenlänge, würde ich sagen.“ (S/169–171)
Herr W
Alter: 50 Jahre, zwei Kinder
Qualifikation: Dozent an einer Kunsthochschule
Angaben zur Tätigkeit: seit drei Jahren in der Persönichen Assistenz beim selben Arbeitgeber / 144 Stunden im Monat, aufgeteilt in Dienste mit jeweils 36 oder 48 Stunden
Vorliegende Behinderung beim AG: Spastiker im Rollstuhl, Sprachbehinderung
Anforderungen der Tätigkeit: Hilfe bei allen Verrichtungen, für die Arme und Beine gebraucht werden
Positives im Kontakt: „[...] die Zeit vergeht […], dass es ein normales, menschliches Miteinander ist […] wir begegnen uns, und da findet auch Bereicherung statt […].“ (W/338–342)
Im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse wurden die folgenden Kategorien entwickelt.
Schwerpunktthemen (S)
S1: Tätigkeitsfeld Persönliche Behindertenassistenz im Arbeitgeber:innen-Modell K1: Haupttätigkeiten/Anforderungen
S2: Kontaktfähigkeit
S3: Selbstfürsorge
Kategorien (K)
K1: Haupttätigkeiten/Anforderungen
K2: Arbeitszeiten
K3: Positives im Kontakt mit Arbeitgeber:in
K4: Bewusstsein für das Thema Kontakt
K5: Herausforderungen für den Kontakt
K6: Veränderung der Kontaktfähigkeit durch Belastung
K7: Veränderung der Kontaktfähigkeit durch Selbstfürsorge
K8: Bewusstsein für das Thema Selbstfürsorge
K9: Mentale Selbstfürsorge der Befragten
K10: Leibliche Selbstfürsorge der Befragten
K11: Wünsche nach Unterstützung der Selbstfürsorge durch Arbeitgeber:in
K12: Ratschläge für zukünftige Assistent:innen
Diese Kategorien bilden die Grundlage für die nun folgende Darstellung ausgewählter Ergebnisse.
Bewusstsein für das Thema Kontakt (K4)
Alle Befragten beschreiben den Kontakt unter dem Aspekt von zwei separaten Wesen. Herr W verweist auf eine Verbindung mit dem Gegenüber, in der „beide da sind und trotzdem in Verbindung sind“ (W/325), und „zwischen zwei separaten, selbständigen Personen“ (W/326–327). Frau A beschreibt, dass sie Kontakt erkennt, wenn „ich gut bei mir bin und auch gut bei ihr sein kann“ (A/46–47), und Frau S beschreibt eine „persönliche Beziehung zu einer Person […]. Dass ich den anderen wahrnehme, dass ich auch mich wahrnehme“ (S/149–150).
Weiter werden die Eigenschaften von Kontakt – bzw. die Erkennbarkeit von Kontakt für die Befragten – mit ehrlich (A/21), authentisch (A/22 & W/341 „ich selbst“), aufmerksam (A/23), empathisch (A/23), offen (S/176: keine Zurückhaltung von Fragen), zeitlos (A/47; W/338), leicht (A/46; W346), freudig (S/179; A/46: „Spaß“) und wach (W/341) beschrieben. Kontakt ist erkennbar an aktiven, anregenden Gesprächen (S/175–176) sowie der Annahme des Anderen, wie er ist (A/24, 40). Für Frau S stellt sich eine Sicherheit in ihren Tätigkeiten ein (S/178).
Bewusstsein für das Thema Selbstfürsorge (K8)
Selbstfürsorge wird von den drei Befragten als eine Sorge für sich selbst und die Befriedigung von eigenen Bedürfnissen verstanden. Bei allen besteht ein Verständnis von der Voraussetzung von Selbstfürsorge in der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse. Herr W führt aus: „Dazu brauch ich halt die Wahrnehmung für mich erstmal. Was ich überhaupt brauche, dass ich das tun kann“ (W/335–336). Frau A erklärt: „Selbstfürsorge ist es, auf mich zu hören, auf meine Bedürfnisse zu hören und diesen auch nachzugehen“ (A/32–33). Frau S sagt: „Dass ich selbst auf meine Bedürfnisse […] achte und dafür sorge […], dass es mir einfach gut geht“ (S/159–160).
Herausforderungen für den Kontakt (K5)
Als Herausforderungen werden von den Befragten das stetige Abrufbarsein sowie das Unterdrücken eigener Bedürfnisse genannt. Frau A äußert sich wie folgt zu den Herausforderungen der Assistenz: „[…] wenn ich meinen Bedürfnissen nicht nachgehen kann […]. Und es auch von mir erwartet wird, es zu unterdrücken“ (A/52–54). Als Beispiel nennt sie: „Wenn es abends sehr, sehr spät wird und ich gern schlafen möchte. […] Das muss ich unterdrücken und da sein und ansprechbar sein“ (A/56–58). Auch Herr W führt die stetige Ansprechbarkeit als größte Belastung auf: „Die schwerste Belastung ist für mich, jederzeit über einen Zeitraum von 36 oder 48 Stunden nicht frei entscheiden zu können, was ich wann mache“ (W/350–352).
Veränderung der Kontaktfähigkeit bei Belastung (K6)
Belastungen wirken sich bei den Befragten negativ auf die Kontaktfähigkeit aus, wie die folgenden Antworten zeigen. Herr W äußert dies konkret: „Die Belastung vermindert absolut meine Kontaktfähigkeit“ (W/361–362). Die Abgrenzung bzw. die Suche nach Abstand zu den behinderten Arbeitgeber:innen benennen alle der Befragten. Frau A sagt: „Ich ziehe mich im Kontakt zurück, ich werde sehr still […]. Und ich gehe ganz bewusst aus dem Kontakt“ (A/60–62). Frau S beschreibt sowohl das Ruhigwerden als auch eine Zurückhaltung bis hin zum Eingeschüchtertsein. Weiter sagt sie: „[…] hab dann so ein Fluchtgefühl. Ich mag dann da raus, raus aus dem Raum, raus aus der Situation“ (S/199–200). Herr W berichtet: „Dann muss ich mich sehr abgrenzen und da hab ich keine guten Strategien. Dann werde ich vielleicht auch lauter und energischer. Einfach nur, weil ich es nicht aushalte“ (W/378–380).
Veränderung der Kontaktfähigkeit durch Selbstfürsorge (K7)
Alle Befragten sehen die Selbstfürsorge explizit als positiv für die eigene Kontaktfähigkeit: „Dann bin ich einfach kontaktfähig“ (W/388–389), „das spiegelt sich in der Kontaktfähigkeit wider“ (S/243), „dann wirkt sich das natürlich schon positiv im Kontakt aus“ (A/81–82). Die Veränderung nach der Selbstfürsorge beschreiben sie mit offen/offener (A/94; S/245; W/405, 208), klar/klarer (A/83; S/261; W/388), präsent/präsenter (A/83, 91; W/407), interessiert/interessierter (A/94–95; S/263; W/406).
Mentale Selbstfürsorge der Befragten (K9)
Zwei der Befragten verweisen auf die vorausschauende Auswahl des behinderten Menschen, den man begleiten möchte. Herr W: „Man muss sich persönlich mögen, dass Kontakt möglich wird. Auch der körperliche Kontakt. Der Mensch, für den wir arbeiten, sollte uns körperlich und geistig angenehm sein. Das ist eine Voraussetzung, denke ich“ (W434–436).
Raum und Zeit werden von den Befragten zum Teil als konkrete Momente der Selbstfürsorge definiert. Zeit und Pausen werden von zwei der Befragten erwähnt und geschätzt. Frau A sagt: „Ich hab sehr viel Zeit und das tut mir gut“ (A/99–100). Frau S berichtet, dass sie fragt, „ob [ich] danach kommen oder in 15 Minuten kommen kann“ (S/270–271). Ihr wird dann auch Zeit für die Vorbereitung der anstehenden Tätigkeiten gegeben (S/273–274).
Von Frau S wird als Selbstfürsorgestrategie die Möglichkeit genannt, ihren eigenen Raum aufzusuchen: „Auch wirklich rausgehe[n], wir haben ein eigenes Zimmer“ (S/226).
Mentale Selbstfürsorge der Befragten (K9)
Frau A sieht in der Ablenkung durch ihr Handy oder durch Filmeschauen eine Selbstfürsorgestrategie, die sie auf andere Gedanken bringt (A/66–68). Frau A betont: „Selbstreflexion […] hilft mir oft“ (A/70–71). Sich zu sammeln und nachzudenken sind ihr wichtig. Herr W beschreibt seine Strategie als eine Art meditative Haltung (W/379), eine Bewegung von Moment zu Moment, und sie besteht auch darin, das Ziel aus der Tätigkeit zu nehmen. Durch den Genuss des Momentes kann für ihn ein Flow und eine Freude an der Tätigkeit entstehen (W/368–371). Dazu gehört für ihn auch, nichts Eigenes zu wollen (W/367–368). Er nimmt sich keine eigene Arbeit mit (W/366). Ihm tut die Rücksicht und das Verständnis des Arbeitgebers gut (W/413). Auch Frau S berichtet davon, dass ihr Arbeitgeber Verständnis hat, wenn sie für sich sorgt (S/271).
Leibliche Selbstfürsorge der Befragten (K10)
Auffallend bei der leiblichen Selbstfürsorge ist, dass sie – im Unterschied zu den mentalen Strategien – von zwei der Befragten kaum genannt wird. Herr W hingegen beschreibt das Genießen des Essens als seine leibliche Selbstfürsorge (W/397). Frau A und Frau S verweisen auf das Durchatmen und die Luft als unterstützend für ihr leibliches Wohlbefinden: „[…] da konnte ich ein bisschen durchatmen […], Luft holen“ (A/89–91). „Oder frische Luft. Dass ich das Fenster aufreiße“ (S/231–232).
Wünsche nach Unterstützung der Selbstfürsorge durch die Arbeitgeber:innen (K11)
Auf die Frage, ob sie sich bei der Selbstfürsorge mehr Unterstützung wünschten, antworteten alle Befragten, dass die Unterstützungsmöglichkeiten seitens ihrer Arbeitgeber:innen bereits ausgeschöpft seien. Frau A hätte gerne eine bessere Vorausschau bzw. Planbarkeit: „Ich würde mir wünschen zu wissen, was mich am nächsten Tag erwartet […]. Oft ist es so: ‚Bau bitte den Rollstuhl auf‘, und dann geht’s auch schon los. Ich weiß manchmal bis zum Ziel nicht, wohin es geht“ (A/107–109). Frau S erhofft sich ehrliche Rückmeldungen und nicht, dass die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber aus einer Laune heraus reagiert (S/282–284). Und Herr W wünscht sich, dass die Arbeitsaufteilung zwischen den Assistent:innen gerechter gehandhabt wird (W/420–421).
Fazit
Die Interviews machen deutlich, dass sich Selbstfürsorge in Belastungssituationen auf die Kompetenz der Kontaktfähigkeit von Assistent:innen in der persönlichen Behindertenassistenz sehr positiv auswirkt. Kontakt ist ein Kernbedürfnis des Menschen und gerade auch im Feld der Behindertenarbeit wesentlich. Denn Kontakt ist die Basis von Beziehung. Beziehung steht für gemeinsame Erfahrungen, die sich in einem gemeinsamen Hintergrund sammeln, verdichten und die Beziehung prägen (Jäckle, o. J.). Zwischen dem behinderten Menschen und der Assistentin bzw. dem Assistenten baut sich durch die dichten gemeinsamen Momente im Zuge von Pflege, Alltag und Freizeit zwangsläufig eine Beziehung auf. Sie kann nur durch authentischen Kontakt langfristig funktionieren. Selbstfürsorgestrategien stellen einen wichtigen Faktor dar, um authentischen Kontakt im Spannungsfeld zwischen der Selbstbestimmung des behinderten Menschen und der Fremdbestimmung der Assistent:innen erleben zu können.
Literatur
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VbA – Verbund behinderter ArbeitgeberInnen. Selbstbestimmt Leben für Menschen mit Behinderung (o. J.): Arbeitgebermodell. https://vba-muenchen.de/themen/arbeitgebermodell/ Abgerufen am 01.11.2021.
Autoren:
Fabian van Essen, Dr.
Professor für Heilpädagogik und Inklusionspädagogik an der IU Internationalen Hochschule, Leiter des Bereichs Innovation am Institut für Inklusive Bildung sowie Leiter des Projekts inklusionINSIGHTS.
Ninon Hensel
Klinische Gestalttherapie (DVG), Heldenreiseleitung nach Paul Rebillot, rituelle Gestalttherapie, Sozialarbeiterin B. A., Sozialpädagogin B. A.